Bestimmt hat sich der eine oder andere Fahrgast der Trogenerbahn schon einmal verwundert die Augen gerieben, wenn in Vögelinsegg die Murmeltiere wie selbstverständlich und ganz ohne Scheu vor den Passagieren in die Bahn steigen und mitfahren. Dann weiß der Zugreisende nicht, dass es ein altes Recht der Murmeltiere von Vögelinsegg ist, die Trogenerbahn ohne Lösung eines Billetts zu benutzen. Das Privileg der Murmeltiere geht auf einen denkwürdigen Tag Anno 1900 zurück, der in den Chroniken von St. Gallen und von Appenzell-Ausserrhoden aufgezeichnet ist. Und so kam es zu diesem Recht.
An dem 14. Juli 1900, der seither in die Geschichte beider Kantone festgehalten ist, stand das Murmeltier Murmo morgens aufrecht auf der sonnigen Wiese bei Vögelinsegg, als ein stolzer Wächter und würdiger Vertreter eines alten Geschlechts. Friedlich war es ringsum, silbern glänzten die Appenzeller Alpen und der Alpstein, lockend nahe der Säntis. Murmo sah frohgemut ins Tal. Die Sonne schien und saftige Kräuter wuchsen überall. Er stimmte das Beresinalied an. Doch in das innige Lied mischte sich ein fremder Ton, ein Hilferuf, der schwach und schwächer wurde. Murmo lauschte und spähte. Jenseits, wo der Wald begann und das Revier der Murmeltiere endete, musste jemand in Gefahr sein. Murmo benachrichtigte sein Weib. Die tapfere und unerschrockene Murma beharrte darauf, ihn zu begleiten. Gemeinsam marschierten sie los. . Als sie den Waldsaum erreicht hatten, ertönte der Hilferuf schauerlich nahe, und sie hielten einander fest, um eine verwandte Seele zu spüren. Nichts war zu sehen.
Murmas scharfe Augen entdeckten am Boden Zapfen, die sorgfältig eine Erdplatte verschlossen. Sie und Murmo näherten sich wachsam. Leise wimmerte es aus dem Erdreich. In der Sprache der Murmeltiere fragte Murma: „Wo bist Du und was fehlt Dir?“ Keiner antwortete. Murmo untersuchte die Erdplatte. Sie war fest zementiert. Murmo und Murma begannen daher, außerhalb der Erdplatte zu graben. Sie gruben und scharrten Erde auf, bis sie sehen konnten, was sich darunter verbarg. Der Anblick ließ ihnen das Blut gefrieren.
Ein Mann hockte in einer Erdhöhle, aus der kein Gang nach oben führte. Der Anzug war verkrustet und breite Streifen geronnenen Blutes färbten den Drillich. Das Gesicht war voller Striemen. Der Blick aus den blutunterlaufenen Augen glitt die steilen und glitschigen Wände entlang. Er stöhnte.
Murmo schaute Murma an, rieb die Nase an ihrer Nase, und Murma nickte. Da redete Murmo den Unglücklichen in der Menschensprache an, die alle Murmeltiere beherrschten, aber selten benutzten. „Wohlgeborener Herr - was brachte Sie in diese unselige Lage? Sicher sind Sie der Hilfe bedürftig. Darf ich mir erlauben, Ihnen untertänigst die meine, unzulängliche, darzubieten?“ Murmo sprach gestelzt, denn zu lange hatte kein Murmeltier mehr in der Menschensprache gesprochen. Die Augen des Angesprochenen flackerten. „Bin ich wahnsinnig? Höre ich schon Stimmen?“, seufzten die blutigen Lippen. „Hochwohlgeborener Herr, Sie sind bei klarem Geist. Ihrer ist Hilfe gewiss.“ „Wer sind Sie?“ „Ich bin Murmo von Vögelinsegg.“ „Murmo, helfen Sie mir. Ich soll sterben. Bald ist die Luft verbraucht. Ich bin der Ingenieur Du Riche-Preller. Ein Bösewicht warf mich in die Grube. Vielleicht mein Rivale, vielleicht auch ein Verrückter, der mich gefangen nahm, misshandelte und in diesen Kerker verschleppte, damit ich elend und verlassen sterbe.“ Der Geschundene bedeckte das Gesicht mit den schmutzigen Händen und schluchzte. „Seien Sie getrost und ohne Gram.“ Murmo wusste nun, was tun. „Ich hole die anderen. Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, dann wird das Werk gelingen.“
Murmo eilte und alarmierte mit einem Pfiff alle Murmeltiere. Ein Zug grauer und brauner Rücken bewegte sich in Richtung Wald. Der Zug war so breit, dass der Steinadler, der über der sonnigen Matte gekreist war, die Orientierung verlor, abstürzte und sich dabei den rechten Flügel brach. Der Tierarzt von Speicher, Dr. Gallusser, zu dem ein Wanderer einen Tag später, am 15. Juli 1900, den bewusstlosen Vogel brachte, schiente den Flügel und konnte sich das Missgeschick nicht erklären.
Als die Murmeltiere auf Murmos Kommando hin einen Erdwurf nach dem anderen ausgehoben hatten, endete die Qual. Mit einer übermächtigen Kraftanstrengung hatten sie es geschafft, einen so breiten und schräg laufenden Gang zum Boden der Höhle zu graben, dass ein Mensch hindurchpasste. Der misshandelte Mann lag da bereits reglos auf dem Boden des glitschigen Erdlochs. Die vier großen Söhne und Töchter von Murmo und Murma hasteten zum Wohnbau zurück, um die Decke der Schweizer Armee zu holen, die ein achtloser Zugführer der Gebirgsinfanterie verloren hatte und die seither den Murmeltierbau auskleidete.
Auf diese Decke stemmten die Murmeltiere den Entkräfteten und zogen und zerrten ihn mit vereinten Kräften nach oben. In der frischen Luft dauerte es nicht allzu lange, und der Ingenieur atmete ruhiger. „Verflucht sei der Halunke, der mir das angetan hat“, sagte er erschöpft. Er blickte in die freundlichen Gesichter der versammelten Murmeltiere und konnte seine Rettung noch nicht fassen. „Wenn Ihr nicht wärt“, schluchzte er. „Ohne Euch wäre ich elend zugrunde gegangen. Aber ich werde weiterleben. Und ich werde die Trogenerbahn bauen. Und ich verspreche Euch hoch und heilig, sie wird Euch zu Ehren über Vögelinsegg führen. Und so lange Vögelinsegg besteht, werden die Murmeltiere von Vögelinsegg als Ehrengäste mit der Trogenerbahn fahren. Und ich werde den Halunken, der mich töten wollte, seiner gerechten Strafe zuführen. Aber Euch, meine lieben Freunde, und bitte gestattet mir, Euch meine Freunde zu nennen, Euch werde ich mein Lebenswerk widmen.“ Diese Worte, die ersten nach seiner Befreiung, erschöpften ihn so, dass er die Augen schloss und in einen erholsamen Schlummer fiel. Die Murmeltiere von Vögelinsegg hatten ergriffen zugehört, aber nun mussten sie die schwere Arbeit, die schwerste ihres Lebens, vollenden. Gemeinsam zogen sie den Ingenieur auf der Decke ins Tal hinab und brachten ihn bis vor sein Haus. Murmo läutete die Glocke. Die Frau des Ingenieurs stürzte heraus, stolperte fast über den kleinen Murmo und staunte über die große Versammlung. Überglücklich schloss sie ihren Mann in die Arme. Dann schickte sie das Dienstmädchen zur Gendarmerie, um die glückliche Rettung und Wiederkehr anzuzeigen. Aber da waren die Murmeltiere bereits auf dem Weg zurück zu ihrem Bau.
Der Ingenieur löste sein Versprechen ein und schon drei Jahre später wurde die nach seinen Plänen erbaute Trogenerbahn, die steilste Straßenbahn der Schweiz, feierlich in Betrieb genommen. Von St.Gallen aus führte sie über Vögelinsegg nach Speicher und bis nach Trogen. Seither sind die Murmeltiere mit der Bahn gefahren und tun es bis heute. Und jedes Jahr am 14. Juli, dem Tag der Rettung, fährt die Trogenerbahn nur für die Murmeltiere von Vögelinsegg. Das hatte der Ingenieur Du Riche-Preller in seinem Testament so verfügt.