Sagen

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Ein paar unbedeutende Wolken zogen gerade vorbei, dann war die Sicht auf Kaprun frei. Das ganze Salzachtal lag ihm zu Füßen.

Es war Mai, der letzte Schnee schmolz und lief in vielen kleinen Bächen ins Tal. Das Imbachhorn blickte nach Westen und bemerkte, dass der König gerade mit seiner Ansprache begonnen hatte. Majestätisch saß das Kitzsteinhorn in seinem weißen Gewand da und hatte wie jedes Jahrzehnt alle Pinzgauer Berge der Umgebung zur Konferenz geladen. Rettenzink - der unmittelbare Nachbar des Imbachhorns -, Bauernbrachkopf, Hoher Tenn, Johannisberg, Grießkogel, Hocheiser, Tristkogel, Maiskogel – um nur einige zu nennen -, alle waren sie durch die Windboten verständigt worden. Nur das Imbachhorn nicht. Es fühlte sich vernachlässigt. So ging das schon die letzten tausend Jahre. Das Kitzsteinhorn schien einfach auf es vergessen zu haben. Das Imbachhorn hasste seinen König dafür. Insgeheim freute es sich, dass gerade der König von diesen winzigen beweglichen Wesen in allerletzter Zeit so verschandelt worden war. So jedenfalls sah es das Imbachhorn, das die vielen Masten, Leitungen, Liftanlagen und sonstigen komischen Bauten, die am Kitzsteinhorn sogar aus weiter Ferne zu sehen waren, äußerst hässlich fand. Der König selbst sprach manchmal mit einem gewissen Stolz von „seinem Nabel-Piercing“, doch die Berge der Umgebung wussten, dass dem König der von diesen seltsamen winzigen Wesen erbaute Tunnel sehr wohl große Schmerzen zugefügt hatte. Und so wunderte es auch keinen, dass das Kitzsteinhorn von Zeit zu Zeit Menschen in seinen Spalten begrub oder in seinen weißen Kleidern erdrückte. Doch im Grunde ließ es sich sehr viel von diesen bunten Wesen gefallen, die da täglich auf ihm herumkrabbelten und –rutschten. Ja, es schien seine Popularität bei den Menschen sogar bis zu einem gewissen Grad zu genießen. Dem Imbachhorn waren Menschen egal. Das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn selten interessierte sich ein Exemplar dieser eigenartigen Spezies für seinen wunderschönen Grat, der, so fand es, dem des Kitzsteinhorns in nichts nachstand. Auch sonst krabbelte kaum jemand auf ihm herum. Es konnte sich nicht einmal erinnern, ob es schon je einen Menschen abgeschüttelt hatte, wie das so manch anderer Berg der Umgebung bereits getan hatte. Und davon stolz alle zehn Jahre bei jenen Treffen berichtete. Heuer versuchten sich offenbar der Johannisberg und der Hocheiser gegenseitig zu übertrumpfen, denn sie prahlten damit, einige Menschen nicht mehr ins Tal zurückgelassen beziehungsweise - wie sie sich ausdrückten – „bei sich behalten zu haben“. Das Kitzsteinhorn rief zur Mäßigung auf. Dem Imbachhorn ging dieses ganze Gerde auf die Nerven. Seit 2000 Jahren drehte sich plötzlich mehr und mehr um diese blöden Menschen. Aber am meisten ärgerte sich das Imbachhorn darüber, dass es gar nicht zu seiner Meinung gefragt wurde, ja, es schien Luft für die andern Berge zu sein. Selbst der Rettenzink, mit dem es so gut wie täglich via Wolke und Nebel kommunizierte und eine gute Nachbarschaft pflegte, ignorierte es völlig. Als dann auch noch der Bauernbrachkopf anfing, dass „alle Berge in der näheren Umgebung“ irgendetwas beschlossen hätten, da reichte es dem Imbachhorn und es begann vor Wut zu beben. Zuerst nur ganz leicht, doch dann machte sich der seit Jahrhunderten aufgestaute Zorn so richtig Luft. Es krachte fürchterlich. Binnen weniger Sekunden veränderte das Imbachhorn sein Aussehen. Überall riss der Fels, der Berg bekam neue, teils tiefe Schluchten, die Bäume an seinen Hängen knickten wie Streichhölzer, kleine Bächlein schwollen zu riesigen Sturzbächen an und rauschten mit lautem Getöse ins Tal. Das Beben erfasste aber nicht nur das Imbachhorn, es war selbst am Fuße des Bauernbrachkopfs noch deutlich spürbar. Und so riss in diesem Augenblick auch die Kapruner Staumauer.

Am nächsten Tag war das Imbachhorn nicht nur in den Pinzgauer Zeitungen – mit Ausnahme jener von Kaprun, denn diesen Ort gab es nicht mehr –, sondern weltweit auf der Titelseite.

Doch das Imbachhorn merkte von all dem nichts. Menschen waren ihm schon immer egal gewesen. Es freute sich vielmehr darüber, dass man es zum nächsten Bergtreffen wieder einlud.

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