Brauchtum

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"Diese sturen Köpfe, es ist einfach unglaublich“, mag schon früher mancher gedacht gaben, wenn im kleinen Kanton Appenzell die Männer den Frauen wieder einmal das Stimmrecht verweigerten. Dasselbe dachte vielleicht auch Papst Gregor, einer seiner Nachfolger, oder jene biedermeierlichen Beamten in den Verwaltungssesseln in Herisau. Wieder einmal gingen sie "Chlausen".

 

Sie tun's am 13.Januar und feiern an diesem Tage Silvester – bis auf den heutigen Tag. Sehr zur Freude von Tausenden von Touristen, die sich das alljährliche Spektakel nicht entgehen lassen wollen. Damit demonstrierten sie früher ihren Protest gegen die päpstliche Kalenderreform.

"E guets Neus wünsch i" (ein gutes neues Jahr wünsche ich) hört man in Urnäsch im hinteren Appenzeller Land, dort wo die Strasse beginnt, sich mit vierprozentiger Steigung dem Säntis entgegen zu schlängeln, mindestens so oft am 13. Januar wie am 31. Dezember oder 1. Januar eines neuen Jahres.
Wären sie nicht von Napoleon gezwungen worden, würden Appenzell-Ausserrhoder vielleicht heute noch die Kalendertage nach dem Julianischen Kalender zählen, denn Papst Gregor, der den neuen Kalender 1582 mit einer genaueren Grundlage einführte, lebte nach der Reformation, bei der sich die Ausserrhoder entschlossen, auf Seite der Protestanten zu kämpfen. Was fortan von katholischer Seite kam, wurde rundweg abgelehnt - selbst wenn es ein neuer Kalender war.


Grosses Gewicht


Das Chlausen, das in Urnäsch und den umliegenden Gemeinden heute am neuen und alten (13. Januar) Silvester betrieben wird, hat aber noch weiter zurückreichende Wurzeln. Im 17. Jahrhundert wurde der Brauch von katholischer Seite als heidnisch kritisiert. In der Tat: Die Chläuse (besonders die Wüsten) muten mit ihren Riesenschällen und Rollen (runde Glocken an einem Gestell festgemacht) wie Zombies aus einem amerikanischen Horrorfilm an. Sie sollten ursprünglich die bösen Geister austreiben. Hingegen deutet der Brauch des Rollentausches (Männer spielen Frauen) eher auf Fasnachtsursprünge hin. Jedenfalls gibt es keine gesicherten historischen Wurzeln für das Chlausen.
Sicher ist hingegen, dass Chlausen und speziell das Spass-Chlausen dazu diente, sich unter anderem über die Obrigkeit lustig zu machen. In puristischen Zeiten und auch in der Moderne wurde das Chlausen deswegen teilweise verboten. Chlausen, das ist mehr als ein Hobby, das ist eine Berufung. Wer ein "Schöner Chlaus" ist und ein neues Kostüm anfertigen muss, wird monatelang, auch mental mit dieser Rolle beschäftigt sein. Unzählige Materialien werden in einem Kostüm verarbeitet.
Eigentlich ist man als Chlaus das ganze Jahr über Chlaus. Die Mitglieder eines Schuppels (Chlausengruppe) pflegen mit ihren Familien auch untereinander Freundschaft. Die Naturchläuse (Schön-Wüeschti), deren Kostüme fast zu 100 Prozent aus Naturmaterialien bestehen, verbinden oft das Sommer-Picknick mit einer Suchaktion nach speziellen Zierbeeren oder Eicheln. Kurz vor Silvester trifft sich die Gruppe. Tannenäste werden mit Wasser bespritzt, Masken ausgebessert und verloren gegangene Materialien ersetzt.
Zweifellos ist Chlausen eine Männerdomäne, auch wenn es inzwischen Mädchen bei Kinderschuppeln gibt. Dass so wenige Frauen dabei sind, hat auch mit dem Gewicht der Verkleidung zu tun, das bei den Naturchläusen häufig 30 Kilogramm erreicht. Die "Naturschuppel" sind somit quasi die Kampfschuppel oder die Grenadiere unter den Schuppeln. Ob sie am Tag X genug Kraft haben, 12 Stunden lang 30 Kilogramm durch die Gegend zu schleppen, ist keine Frage, die etwa die Urnäscher gerne hören. Sie seien kräftige Männer, das sei keine Frage.


Laien unerwünscht


Bis in die 1970er Jahre waren nur noch wenige Schuppel unterwegs, denn das Silvesterchlausen geriet nach dem Zweiten Weltkrieg etwas aus der Mode. Seither wird der Brauch gepflegt und zieht jährlich zehntausende Touristen an. Angetan haben es ihnen beispielsweise bei den Wüsten Accessoires wir echte Rinderzähne und –hörner oder Resten von Rehen und Gämsen. Einer der Chläuse sagt aber: "Der Brauch hat gelitten. Früher sind wir mehr rumgegangen. Es war spontaner. Heute ist das Chlausen zum Tourismus-Spektakel geworden." Doch das ist am 13. Januar jeweils vergessen. Wenn der Mond tauchte das ganze Appenzeller Hinterland noch in ein silbernes, verfremdendes Licht taucht und der Säntis nur konturenhaft zu sehen ist, sind die ersten Schuppel nach einem kurzen Frühstück bereits unterwegs. Es ist "Früechlause". Die Route besprachen die meisten am Vorabend, als sie ihren Kostümen und besonders der Huube (Kopfstück) den letzten Schliff verpassten. Die Chläuse wirken so früh am Morgen ernst, vielleicht sind sie noch etwas müde. Frauen, Freunde oder Verwandte, die zum Chlausen oft von weither kommen, helfen in die Kostüme. Als Fremder und Journalist ist man allenfalls geduldet, nicht willkommen. Nie hat man den Eindruck, die Chläuse würden Selbstbeweihräucherung und Imagepflege betreiben. Endgültig verspielen kann man es mit den Chläusen, wenn man sich als ungebildet in der chlauseigenen Terminologie erweist. "Eigentlich müsste einer viermal zum Chlausen kommen, bis er darüber etwas schreiben darf“, skizzierte ein erfahrener Chlaus seine Vorstellungen über den Zeitaufwand für eine Reportage.


Alkohldurchsetzter Brauch

Die Frauen, die ja selbst vom Brauch ausgeschlossen sind, achten darauf, dass das Kostüm perfekt sitzt. Mit ihren schwarzen Militärschuhen wirken die Chläuse behäbig und standfest. Das erste Zäuerli (wortloser Jodel, eher vielstimmige Harmonien), hört man nicht nur, man sieht ihn auch als von der Kälte sichtbarer Atem. Das Zäuerli wird nach einem ordentlichen Aachlause (rhytmisches, geordnetes Anmarschieren auf dem letzten Wegstück zu einem Haus) gleich beim Nachbarn vorgesungen. Nach dem Zäuerli schütteln sich zuerst die Rollenchläuse, mit ihnen ein Gebimmel in den oberen Tonlagen. Hinzu gesellen sich kurz darauf die grossen Schellen (Schelle schötte), die bis zu zehn Kilo schweren Messing-Glocken, die durch rhythmisches hin und her bewegen wie der Pendel einer Uhr zum Klingen oder besser zum Schlagen gebracht werden. Dieser Klang hallt durch das ganze Tal der Urnäsch. Und wenn die Rollen längst nicht mehr klingen, klingen die Schellen nach, wie der Big-Ben, getragen, langsam und würdevoll ausklingend. Nach weiteren Zäuerli und Glockenklang wünschen sich Sänger und Gastgeber ein gutes neues Jahr und den Chläusen wird ein Glüewii (Glühwein), ein Kaffee mit Kräuterschnaps, manchmal auch ein Bier verabreicht. Die Groscht mit der Gesichtslarve erlaubt es kaum, mit dem Mund aus einem Glas zu trinken. So reichen die Gastgeber ein Glas mit einem Trinkhalm im Kreis herum und jedes Mitglied des Schuppels trinkt einen kräftigen Schluck.


Ein wenig Jahrmarkt


Im Tal südlich von Urnäsch, Richtung Schwägalp, entwickelt sich schnell ein harter Kern von aktiven Schuppeln. Alle haben einen Führer, meist das älteste Schuppelmitglied. Verwirrend in ihrer Kostümvielfalt, verleiten sie den Begleiter überall zum Zuschauen und zum Begleiten. Ständig wird man "seinem" Schuppel, der einem besonders gefällt untreu und begleitet einen anderen. An die Schuppel hängt sich jeweils eine Traube von Touristen. Fast unbemerkt vom Strom streichen auch einige Kinderschuppel durch die Gegend Doch auch die Kleinen zäuerlen vor den Haustüren, lassen die Glocken erklingen und erhalten etwas zu trinken. Natürlich keinen Alkohol.
Nachmittags fühlt man sich wie auf einem Jahrmarkt. Wurststände drängeln sich auf der Hauptstrasse. Vorbeifahrende Cars bringen neue Touristen und einige Wiesen werden kurzerhand in Parkplätze umgewandelt. Dazwischen drängen sich die Schuppel, begleitet von Fotografen und Schaulustigen. Immer noch trinken die Chläuse, die ihre Gastgeber ja kennen. Da wirkt es wie absurder Humor, wenn der Bauer erfreut dem Monster (wüster Chlaus) die Pranke schüttelt. "Doch trinken Monster wirklich solche Mengen Alkohol?" fragt sich besorgt ein deutscher Besucher. Gegen vier Uhr wird es im Tal unerträglich. Zu viele Touristen, zu viele Autos, zu viele Bratwürste und Fotografen. Ein Besucher meint ironisch: "Man sollte neue Schuppel gründen. Etwa Fotochläuse oder Autochläuse, die mit einem Auspuff auf dem Kopf und einem Hupen als Zäuerli durch die Gegend marschieren."
Wer hofft, wenigstens abends in den Restaurants in aller Ruhe das Chlausen zu geniessen, irrt. Nach acht Uhr herrscht ein unerträgliches Gedränge. Vor dem Gasthaus Taube steht ein Aufpasser, der hektisch alle unangemeldeten Besucher wegweist. Eine Frau reisst Possen und unterhält das Lokal mit zweitklassigen Witzen. Doch die leicht angesäuselten Gäste brüllen vor Lachen.
Die eigentliche Attraktion, die Schuppel, treten mit schöner Regelmässigkeit ein. In den niedrigen Räumen der Appenzellerhäuser müssen die Schönen mit ihren hohen Kopfbedeckungen in die Knie. Wie russische Balaikatänzer wirken sie. Mit ihrer künstlichen Beleuchtung auf dem Kopf entlocken sie so manches Ah und Oh. Erst gegen Mitternacht legen die Chläuse ihre Kleider ab, erschöpft, und etwas traurig, denn: Bis zum nächsten neuen Silvester dauert es wieder 353 Tage.

 

Platzhalter-innen und * für Transgender

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