Brauchtum

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Die Alpfahrten und die Nutzung alpiner Weiden sind ein eindrückliches Beispiel des Zusammenlebens von Mensch und Nutztieren in einer manchmal rauen Natur. Die Alpkultur wird noch heute gepflegt. Dabei spielen genossenschaftliche Strukturen eine wichtige Rolle.

Ein feiner Sprühregen peitscht von Appenzell her durch die Hauptstrasse von Brülisau. Es ist empfindlich kalt und wer nur dasteht, zieht fröstelnd den Kragen hoch. Das sind die Zuschauer. Die Akteure in diesem traditionellen Spektakel sind kleine Kinder, Sennen und Bauern und viele Kühe, Rinder, Ziegen und Pferd inklusive Lediwagen, einem Leiterwagen. Die Zweibeiner tragen ihre Tracht. Mit kurzen Ärmeln. Doch niemand friert bei Meinrad Koch, der mit Sennen, Helfern und fünf Söhnen das "Öberefahre" mitmacht. Öberefahre ist der Alpaufzug, der meist irgendwann in der ersten Junihälfte stattfindet. Für Meinrad Koch und seine Truppe bedeutet dies: Der Wecker klingelt kurz nach zwei Uhr nachts. Dann werden die Kühe gemolken und alles vorbereitet. Schliesslich gibts ein Frühstück. Abmarsch in Gonten ist um fünf Uhr morgens. Um sechs passiert die Gruppe den Kantonshauptort Appenzell und kurz vor acht Brülisau. Dann geht es schnell steil bergauf, dem Hohen Kasten entgegen, der sich in den tief hängenden Wolken verliert.

Auch wenn selbst in Appenzell Frauen inzwischen abstimmen dürfen, das "Öberefahre" ist noch reine Männersache. Frauen sind bei Alpfahrten im Kanton Appenzell Innerrhoden nie dabei. Meinrad Koch, der schon seit 33 Sommern auf die Alp geht vermutet: "Früher waren die Frauen doch eher für den Haushalt zuständig und mit Stickereien beschäftigt. Auch waren die Arbeiten auf der Alp, zumindest in der Vergangenheit körperlich anstrengend und somit reine Männersache." Mag sein, dass Bräuche besonders im Innerrhodischen noch lange Traditionen genannt werden, wo man sie anderswo als alte Zöpfe abschneidet. Doch darüber macht sich jetzt niemand Gedanken. Menschen und Tiere schreiten in gebückter Haltung fast im Gleichschritt feierlich bergan. Es ist eine Prozession. Manchmal müssen die Kühe stehen bleiben und zuschauen, wie ihre Treiber ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee geniessen, die ihnen Leute am Wegrand anbieten. Andere Zuschauer rufen einfach "Wösch Glöck" und wünschen den Sennen somit einen angenehmen Alpsommer ohne grössere Zwischenfälle.

Es ist Braunvieh, dass fast schon elegant die steile und durch Kuhfladen schmierig gewordene Teerstrasse Richtung Restaurant Ruhsitz hoch trottet: Allein voran der Geissenbueb Benjamin, der jüngste Sohn von Meinrad Koch mit den verspielten weissen Geissen, die schnell trippeln und von den Helfern Luzia und Hansueli zurückgehalten werden müssen. Luzia und Hansueli sind Patenkinder der Familie Koch und genauso gerne dabei wie alle übrigen Teilnehmer. Den Geissen folgt der Senn, der den Sommer auf der Alp verbringen wird. Er heisst Philipp, ist Lehrling und trägt die berühmten gelben Hosen. Ihm folgen drei Schellkühe mit grossen Glocken. Hinterher schreiten vier Männer ‚Äì ebenfalls in Festtagstrachten. Es sind Sennen und Helfer, die auch den Fahreimer hoch tragen, welche mit Senntumsmalereien, dem so genannten "Bödeli", geschmückt ist. Danach folgen die Herde und zwei Springbuben, welche die Kühe zurücktreiben, wenn sie auf Abwege geraten. Die vier Männer in Festtagskleidung tragen später auch abwechslungsweise die schweren Schellen, wenn das Gelände unwegsam wird. Kaum oben angekommen werden die Schellen im Dreiklang geschwenkt und dienen als Untermalung für ein Innerrhoder Rugguserli. Es entspricht dem Jodel Zäuerli im ausserrhodischen Nachbarkanton und ist ein musikalischer Ausdruck von Freude für das gelungene Äberefahre.

Ideale Rasse für die Berge
Das Braunvieh verteilt sich auf der Alp übermütig über die kniehohe, blühende Alpfrühlingswiese. Ihre Lebensfreude ist spürbar und auch Meinrad Kochs Zufriedenheit ist ersichtlich. Er hat seine Tiere gern und denkt in absehbarer Zeit nicht daran, dem Trend zu folgen und auf seine braune Zweinutzungsrasse zu verzichten. "Reine Fleischkühe wären zu schwer und würden die Alp beschädigen. Und hätte ich reine Milchkühe, wäre es unwirtschaftlich, wenn sie auf der Futtersuche durch dass Gelände klettern müssten. Dann geben sie nämlich nicht mehr viel Milch." Für Meinrad Koch ist dies die perfekte Mischung. Seine Tiere sind während des Sommers auf zwei Alpen verteilt, welche zusammen 53 Stösse ergeben, also 53 Grossvieheinheiten, die dort weiden dürfen. Eine Grossvieheinheit ist eine erwachsene Kuh, die zwei Rindern oder drei Kälbern entspricht. So kann er die rund 20 Hektaren Land, die er in Gonten bewirtschaftet, für die Futterproduktion benutzen. Damit lässt sich selbst im rauen Appenzell der Winter überstehen.

Das "Öberefahre" mit seiner ganzen Festlichkeit, die Nutzung und Pflege der Alp, die Tiere und ihre Milch, die er zu einem Teil für den privaten Gebrauch zu Käse und Butter verarbeitet, aber auch die Nutzung der Tiere für die Fleischproduktion, die Alpstobete ‚Äì dies alles sind für Meinrad Koch feste Bestandteile eines nachhaltigen und naturnahen Jahreskreislaufes. Er folgt ihm, ohne Zweifel und sehr oft mit einem Lächeln im Gesicht. Meinrad Koch trägt gerne Verantwortung: Gegenüber seiner fünfköpfigen Bubenschar, seiner Frau Maria, mit der er den Hof führt, gegenüber seinen Tieren und gegenüber der Alp, deren Genossenschaft er als seit 12 Jahren als Präsident vorsteht. Sie heisst Alp Soll und erstreckt sich vom Fusse des nun langsam hinter den Wolken hervortretenden Hohen Kastens zwischen dem Bergrestaurant Ruhsitz und Plattenbödeli. 12 Alprechtsbesitzer, die zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen sind, haben das Recht hier Tiere weiden zu lassen. Dass der Alpaufzug in dem Hundewetter ohne Zwischenfälle ablief, ist keine Selbstverständlichkeit. Einmal wich eine Kuh abrupt zurück. Dies brachte die gleich dahinter stehende Kuh zu Fall. Solche kleinen Pannen wie auch die vollkommen durchnässten Schuhe, die Meinrad Kochs Sohn Samuel irgendwann resigniert auszog, gehören zu einem Alpaufzug und bieten bei der Ankunft unterhaltsamen Gesprächsstoff. Noch am selben Tag erscheint der von den Genossenschaftern gewählte Alpmeister und zählt die Kühe. Die Alp darf von 269 Kühen bestossen werden. Jedoch werden nur etwa 180 Kühe auf die Alp gebracht, der Rest wird mit Jungvieh bestossen. Das Alter einer Kuh lässt sich anhand des Gebisses feststellen. Wer zuviel auftreibt muss dies mit den sogenannten Übertreibungstaxen begleichen.

Frondienst für die Gemeinschaft
Tags darauf tagt die Alpgemeinde. Vertreten sind nun nicht unbedingt die Genossenschafter, sondern alle jene, welche den Sommer auf der Alp verbringen werden. Sie besprechen die von den Genossenschaftern verfasste Alpverordnung. Diese kleine Verfassung garantiert den nachhaltigen Fortbestand des Weidegebietes. So bleiben die Kühe im ersten Monat nachts in den Ställen, damit die Alp nicht überdüngt und überbelastet wird. Im Gegensatz zu vielen anderen Alpen, wo Wiesenkerbel oder Alpenkratzdisteln dominieren, gibt es hier eine gewisse Artenvielfalt. Ausserdem kann so die Alpzeit verlängert werden. Die Alpgemeinde bespricht auch die Arbeiten, die im Rahmen des Frondienstes geleistet werden müssen. Jeder Senn schuldet der Gemeinde pro Sommer vier Frondiensttage. Im Rahmen dieses Frondienstes müssen nun einige Weiden von Steinen gesäubert werden, welche Lawinen mitgerissen haben. Ausserdem müssen umgestürzte Bäume weggeschafft werden.

Die Genossenschaft Alp Soll verfügt über ein Wegnetz von fünf Kilometer. Zuständig für diesen Unterhalt ist die Flurgenossenschaft Alpwege Alp Soll. Es sind zwar mehrheitlich dieselben Mitglieder wie bei der Alpgenossenschaft, aber dank der getrennten Verantwortlichkeit gibt es Bundesbeiträge für den Wegunterhalt. Die Organisation der Alp läuft nicht ganz ohne Konflikte ab. Das Tierschutzgesetz schreibt vor, dass ab 2013 auch auf den Alpen jede Kuh im Stall über eine gewisse Liegeplatzgrösse verfügen muss. Viele von denen sind kleiner, als das zukünftige Gesetz es haben will. Dies setzt Investitionen voraus. Viele Alprechte sind seit Generationen in Familienbesitz, die ausserhalb des Kantons wohnhaft sind, und meistens auch keine Landwirte mehr sind. Diejenigen stufen eine Investition für einen Alpstall als nicht mehr rentabel ein. Vielmehr nutzen sie die Hütte, wo der Senn normalerweise im Sommer lebt, als vermietbare Ferienwohnung. Das trägt mehr Geld ein, bringt aber gleichzeitig die Alpkultur in Gefahr. Doch das sind grundsätzliche Gedanken, die sich Meinrad Koch zu Beginn eines Alpsommers nicht machen will. Sein Lehrling ist Senn auf dem einen Alprecht. Er selber ist den Sommer über auf der anderen Alp verantwortlich. Ein Höhepunkt des Alpsommers ist sicher das erste Augustwochenende. Dann ist Stobete. Ein gemütliches Älplerfest wo musiziert, getanzt und gesungen wird. Die Stobete verteilt sich auf die Restaurants Plattenbödeli und Ruhsitz und dauert drei Tage. Meinrad Koch lacht und sagt: "Dann muss man ziemlich fit sein."

Platzhalter-innen und * für Transgender

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