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Täglich wächst im Bergell der Wald um die Fläche eines Tennisfeldes. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Bündner Amtes für Wald. Um die Kulturlandschaft des Bergells langfristig zu erhalten, soll ein Massnahmenplan erarbeitet werden.

Der Mensch gestaltet die Natur, er macht sie zur Kulturlandschaft - auch im Alpenraum. Er baut auf, er zerstört, oder er lässt zerfallen, was nicht mehr benötigt wird. Dieser Wandel zeigt sich auch in den Erinnerungen des Zollwächters Hans Stoffel, der 1938 von der Mühsal des Alpauftriebs von Soglio im Bergell ins hintere Madristal berichtet, wie sie ihm in seiner Kindheit von lokalen Bauern geschildert worden war: “Früher hätten sie über den Prasignola geladen; aber dort sei es noch gefährlicher und schwieriger. Die lange, steile Treppe mit 177 Stufen habe immer ausgeschaufelt werden müssen; dagegen habe man vom Fuss der Treppe abwärts bis in die Talmulde mitunter ein anderes Verfahren angewendet. Drei Männer packten ein Rind oder eine Kuh, der eine bei den Hörnern, der andere beim Schwanz und der dritte auf der Seite. Mit einem Ruck warfen sie das Tier seitwärts zu Boden in den weichen Schnee. Der am Schwanz fing an zu ziehen und glitt mit dem am Boden liegenden Tier den Abhang hinunter bis in die Talmulde. Dort konnte es aufstehen". 1200 sehr steile Höhenmeter gilt es von Soglio bis zur Passhöhe zu überwinden. Nach strengen Wintern lag auch auf der Südseite des Passes noch bis weit in den Sommer hinein der Schnee, und die Bauern mussten sich zuerst den Pfad freischaufeln, bis sie mit dem Vieh aufbrechen konnten: “...seien noch zwanzig Mann aus Soglio droben, um den Weg zu bahnen. Sofern das Wetter gut bleibe, gedenken sie in zwei Tagen die Alpladung vorzunehmen. Die Überwindung des Passes sei dennoch schwer genug und ohne einen Unfall gehe es in der Regel nicht ab", schreibt Stoffel über die besonders schwierigen Bedingungen, die Anfang Juli 1896 geherrscht hatten. Mit einem einfachen Saumpfad wären die steilen, stellenweise fast senkrechten Passagen im Fels unterhalb der Passhöhe nicht zu überwinden gewesen - schon gar nicht mit dem Vieh. So kam es zum Bau von “I Trapet", der 250 Meter langen “Himmelstreppe", wie sie von heutigen Wanderern genannt wird. Sie überwindet auf 2500 Metern über Meer eine Höhendifferenz von 80 Metern im stark abschüssigen, glatten Fels. Tonnenschwere Steinblöcke ruhen auf einem Fundament aus aufeinander gefügten Lesesteinen, das bis zu vier Meter hoch ist.

Jahrhundertealte Tradition
Als Stoffel seine Erinnerungen niederschrieb, waren die dramatischen Alpfahrten aus dem Bergell schon Geschichte. Die Alpen im hinteren Madristal waren von den Bauern in Soglio verpachtet worden und wurden nun von Norden von der Averserseite her bestossen. Damit hatte eine Tradition geendet, deren Ursprünge bis ins Spätmittelalter zurückreichen, als die Bauern im oberen Bergell nach und nach die Madriser Alprechte von den südlichen Gemeinden um Chiavenna übernommen hatten. Streitereien gehörten dabei zur Tagesordnung. Denn die nördlich des Alpenhauptkammes gelegenen Alpen waren das wirtschaftliche Überdruckventil, um der latenten Übervölkerung der im Süden gelegenen Berggemeinden zu begegnen. Das rechtfertigte auch den immensen Aufwand, mit dem der Zugang zu den begehrten Almweiden aufrechterhalten werden musste.


Die Kirche Nossa Donna (im Hintergrund) in Promontogno um 1900 in einer weitgehend leer geräumten Landschaft. (Privatarchiv, Autor unbekannt)


Die Kirche Nossa Donna in Promontogno im Jahr 2005. Wald und Buschwerk hat sich breit gemacht, auch auf den Felsstöcken im Hintergrund. (Bild: Andrea Giovanoli, Vicosoprano)

Diese Entwicklung fand in den folgenden Jahrzehnten seine Fortsetzung: Die Aufgabe von einst intensiv bewirtschafteten landwirtschaftlichen Flächen - und damit die Wiederbewaldung. Regionalforstingenieur Curdin Mengelt ist jedes Mal erstaunt, wenn ihm alte Leute erzählen, dass sie da, wo sich heute dichter Wald ausbreitet, noch vor einem halben Jahrhundert regelmässig das Heu eingebracht hatten. Der Rückgang der Landwirtschaft lässt sich auch aus der Statistik ablesen. Vor einem Jahrhundert lag die Zahl der Tierhalter bei rund 700. Heute sind es noch knapp 100. Die Zahl der Rinder ist in diesem Zeitraum von über 2000 auf 500 zurückgegangen.

Massnahmenplan
Welche Ausmasse diese Wiederbewaldung annimmt, zeigt eine vom Amt für Wald Graubünden durchgeführte Studie zur Waldflächenentwicklung. Ausgewertet wurden dabei Luftbilder aus den Jahren 1942/43 und 2002, wobei nur knapp 60 Prozent der potenziellen Waldflächen einbezogen werden konnten. Das Ergebnis zeigt: Die Waldfläche hat auf der untersuchten Fläche in sechs Jahrzehnten um 28,2 Prozent auf 2'298 Hektaren zugenommen. Pro Tag wächst im Bergell die Fläche eines Tennisfeldes zu. Betroffen von der Wiederbewaldung sind vor allem schlecht erschlossene und nicht mehr bewirtschaftete landwirtschaftliche Flächen. Auf der linken, feuchteren Talseite geht der Einwuchs schneller vonstatten als auf der rechten. Dieser junge, aber auch der überalterte Wald will gepflegt sein. Das ist nur mit staatlicher Unterstützung möglich, denn der Holzertrag deckt die Kosten bei weitem nicht. Eine altersmässig gute Durchmischung des Waldes ist das Ziel der Förster. Aber auch die Wiederbewaldung muss mittel- und langfristig gesteuert werden. Die Region Bergell hat ein Pilotprojekt zur Erhaltung der Kulturlandschaft im Maiensässraum erarbeitet. Die nicht mehr bewirtschafteten Maiensässe sind von der Einwaldung besonders betroffen, und bestehende Raumentwicklungsmodelle greifen in diesen abgelegenen, teils sehr steilen Gebieten nicht. Hauptziel ist die Erarbeitung eines Massnahmenplans, der die nachhaltige Bewirtschaftung von Landschaft und Maiensässen regelt.


Roticcio um 1920 mit intensiv bewirtschafteten Weiden im Umland (Privatarchiv, Autor unbekannt)



Roticcio im Jahr 2005. Grosse Teile der Umgebung sind zugewachsen, die halboffenen Waldflächen sind verschwunden. (Bild: Andrea Giovanoli, Vicosoprano)

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