Mit "Hulapalu" holt Manuel Weisshaar beim Schreibwettbewerb "2100" den zweiten Rang. Wir gratulieren!
1. Never eat yellow snow
Ich begleite meinen Vater auf einem seiner letzten Skitage, da ist er sechsundzwanzig Jahre alt und un-terwegs mit einigen seiner Jugendfreunde. Alle ken-nen sie sich noch aus dem Gymnasium am Bodensee: blühende Sträucher, Obstbäume und die Alpen; eine ewige, gezackte Mauer in der Ferne.
An den Verstrebungen der verglasten Schirmbar, in der ich nun mit ihnen stehe, befinden sich dünne Leuchtstoffröhren, tauchen die schweißnassen Ge-sichter in wechselndes, buntes Neonlicht. Eine Frau tanzt auf dem Tresen, sie trägt einen Cowboyhut, der mit rosafarbenen Glitzerpailletten bedeckt ist. Ihre perlweiße Skihose zieht sie unter Gegröle ein Stück weit über ihr Gesäß. Die Gruppe um meinen Vater beachtet sie nicht: Sie stehen eng beieinander, die Träger ihrer Skihosen baumeln an ihnen herunter, die Ärmel ihrer Fleecehemden sind aufgekrempelt. Sie rufen sich etwas zu, lassen Schnäpse hineinlaufen in ihre Kehlen. Mein Vater grölt mit zur Musik. Sein Ge-sichtsausdruck vermengt Euphorie und leichten Ekel, er feiert nur ironisch, aber er feiert.
Wer ist mein Vater gewesen in diesen Jahren?
Er fuhr jeden Sommer zum Kitesurfen an den Lago Maggiore und manchmal an die Atlantikküste; ein Kumpel besaß einen Kleinbus, sie trafen meist spon-tane Absprachen. Drei Jahre zuvor haben sie gemein-sam einen Vulkan bestiegen auf Hawaii. In Thailand sind sie auch gewesen, er hat dort eine Australierin kennengelernt in einer Mischung aus Strandbar und Club. Ich habe sie zusammen beobachtet: Es ist nichts Wirkliches gelaufen; sie sind lediglich den Strand entlang gegangen, betrunken und elektrisiert von der Gegenwart des anderen, wie ich zu spüren glaubte. Sie haben sich gemocht. Im Morgenlicht ha-ben sie sich beide ein Tattoo stechen lassen, dasselbe Tattoo an derselben Stelle (dem Knöchel), schwarze Punkte, ein altes Maori-Symbol, es bedeutete angeb-lich: Unendlichkeit. Er hat sie nie wiedergesehen.
Was noch?
Er ist fasziniert gewesen von einem Festival namens Burning Man, mit seinen Freunden schaute er sich gelegentlich Videos darüber an auf Plattformen aus den Frühtagen des Internets. Er trank viel und häufig, er rauchte Marihuana, nahm MDMA. Damals fürch-tete er wohl, verschlungen zu werden von allem: sei-nen Musikprojekten, den Nebenjobs, dem Studium, das er nochmal angefangen hatte; der App, an der sie arbeiteten. Er war angespannt zu dieser Zeit, allzu oft entnervt: Gewissensbisse plagten ihn, er wollte Ver-antwortung übernehmen für sich und andere, er wollte kein rich kid mehr sein; deshalb die App und all die anderen Projekte, sie nannten sich Sozialen-trepreneure. Trotz dieser Ambitionen meine ich, ein Bedürfnis bei ihm ausgemacht zu haben in dieser Zeit: nach mehr Lebendigkeit womöglich, nach mehr Intensität. Insgeheim ist es wohl immer das gewesen, woran er den eigentlichen Wert seines Lebens be-messen hat.
Manchmal glaube ich, ihn zu verstehen, dann wieder ist mir alles an ihm fremd. Andere meiner Generation halten Menschen wie meinen Vater für schuldig: Sie geben ihnen die Verantwortung für alles, was passiert ist, und verkennen dabei allzu leicht, was sie erreicht haben.
Gestorben ist er, wie damals viele, an Nierenversa-gen; eine schleichende Vergiftung, ein Schwermetall, vermutlich Cadmium. Da war er gerade fünfzig Jahre alt. Ich war drei, als meine Mutter sich deswegen ne-ben mich auf das Sofa setzte. Später bin ich selbst dabei gewesen, sah sein zurückgegangenes Zahn-fleisch und die gelblich verfärbten Zahnhälse; das schmale, eingefallene Gesicht, das nichts mehr ge-mein hatte mit dem jugendlichen Mann von damals, der mit seinen langen, flachsblonden Haaren den Stil der Surfer gleichermaßen karikierte wie affirmierte. Ich glaubte, er würde mich ansehen von seinem Krankenbett aus, durch den dünnen, harten Schleier aus Raum und Zeit und Technologie, ich glaubte, er würde mich erkennen. Natürlich ist das blanker Un-sinn, nur geistlose Sentimentalität.
Und trotzdem.
Jetzt stehe ich da im Neonlicht, mit ihm und seinen Freunden. Retten wir die Welt, hämmert es um uns herum, und dann: Ich intubier, Bier, Bier, Bier. Die Menge johlt noch mehr beim nächsten Stück, das ge-spielt wird, ich höre: Sexy, alles tanzt, alles lacht. Ich wechsle in den Zeitlupenmodus: Körper und Münder, die unendlich langsam zucken. Errötete Wangen, überschäumende Sektflaschen. Die Hände an Hüften und ekstatisch in die Höhe gerissen, die Musik nur mehr ein formloses Grollen, und alles ist getaucht in diesen dunklen, tiefvioletten Schimmer.
Als mein Vater die Schirmbar verlässt, folge ich ihm, obwohl ich es nicht müsste. Wir gehen durch leicht abfallende Straßen, vorbei an Hotels und Restau-rants, an Boutiquen und Sportgeschäften. Die Fein-körnigkeit der Auflösung ist auch hier noch hoch. Ich bin beeindruckt davon, aber nicht überrascht; die Da-tensätze sind damals schon fast lückenlos gewesen: Der Rest ist bloße Extrapolation der Algorithmen. So gesehen besteht alles um mich herum nur aus Git-ternetzkarten, die im virtuellen Raum ausgestülpt wurden; nackte Gerüste aus dünnen Linien, bespannt mit Oberflächentexturen, Abermilliarden von Mikro-polygonen. Die Immersion ist fast (oder schon zu) perfekt.
Natürlich bleibt all das letztendlich Rekonstruktion und Spekulation, jederzeit anfällig für manipulative Verzerrungen, aber die meisten von uns haben längst gelernt, das zu ignorieren.
Weil ich mich an einigen vorbeischieben muss, die schweinsfarbene Tirolerhüte tragen und Enten-schwimmringe um den Bauch, verliere ich meinen Vater fast gänzlich aus den Augen. Ich friere kurz ein, wechsle den Modus: Nun kann ich einfach durch die Menschen hindurchgehen. Es stört die Authentizität der Erfahrung, aber ich habe das Interesse an dieser Erinnerung ohnehin schon fast verloren, ich bin selbst müde geworden; trotzdem folge ich weiter meinem Vater. Die Pension erreiche ich schon vor ihm, ich sehe ihn kommen in seinem azurblauen Skioverall. Zusammen gehen wir die Treppen hinauf; jede Stufe knarrt unter seinen schweren Skischuhen. Aus einem der Zimmer ertönen andere Geräusche, jemand hat Sex. Ich bleibe stehen, rüttle am Tür-knauf: Ein Triebimpuls, bloßer Affekt; ich bin da noch immer so einfach gestrickt wie alle anderen. Außer-dem rührt es mich: Menschen, die miteinander schla-fen und dabei schon so lange tot sind. Die Tür bleibt allerdings verschlossen; sie färbt sich rot ein und blinkt. Mir wird angezeigt, dass der Zugriff untersagt ist. Das ist nicht immer so: Die meisten überlassen al-len ihre Erinnerungsräume, aber selbst dann sind sol-che Intimitäten meist nur verrauscht zu sehen, als Menschenknäuel aus fleischfarbenen Pixeln.
Ich bemerke kaum, dass mein Vater sich umgedreht hat und mitten durch mich hindurch verschwindet im dunklen Treppenhaus. Wieder folge ich seiner schwankenden Gestalt hinaus in die Dämmerung. Er nähert sich der Talstation, geht auf den schmalen, schmutzweißen Streifen zu. Nach einigen Metern bleibt er im Auslauf der Piste stehen. Ich schaue ihm über die Schulter, als er seine Hose öffnet.
Er pinkelt ein gelbes Herz in den Kunstschnee.
2. Der Berg ruft
Die Erinnerungen des ehemaligen Journalisten sind frei zugänglich, sie sind mir empfohlen worden in meinem Feed. Ich steige ein, kurz bevor das Interview mit dem Alten beginnt. Wie immer dauert es, bis das Rendern abgeschlossen ist. Währenddessen schließe ich die Augen: Mir wird oft schlecht, wenn die flie-ßenden Linien gezogen werden wie von einem magi-schen Stift, und vom Gestöber, das sie konturieren, gleichermaßen grau wie bunt flirrend, Kristalle in Re-genbogenfarben, die Welt hinter der Welt.
Als es soweit ist, sehe ich mich zunächst um: Noch flackern einige Bildelemente, werden in rascher Ge-schwindigkeit ausgewechselt, dann stabilisiert sich die Umgebung, wird fotorealistisch, entwickelt eine halluzinogene Schärfe. Boden und Wände des Chalets sind aus massivem, unbehandeltem Holz. Eine ausla-dende Sofalandschaft steht vor dem offenen Kamin, bedeckt mit Gamsfellen. Der Journalist sitzt darauf und wartet, eine Bedienstete serviert ihm Tee. Alpen-glühen lodert durch die bodentiefen Fenster. Auf der Dachterrasse verschwimmt ein Infinity Pool vollends mit dem orangeroten Horizont.
Der Alte schlurft herein und schüttelt dem Journalis-ten die Hände, setzt sich ihm gegenüber. Er trägt eine Art Trachtenjacke, einen Lodenjanker, darin ist das winzige Emblem einer damals beliebten Nobelmarke eingestickt. Das eigentliche Interview beginnt nach kurzem Geplauder.
Man setze alles auf neue Investitionen, um den Vorsprung vor konkurrierenden Wintersportgebieten wahren zu können, sagt der Alte. Ich komme näher, beuge mich über ihn: Sein braungebranntes Gesicht treibt aus wie eine Kartoffel. Er sagt: Die Alpen sind unser Funpark schlechthin. Danach schwärmt er lan-ge von perfekt präparierten Pisten. Der sogenannte Klimawandel allerdings, raunt er, habe die Alpen ja längst erreicht: Alle Anbieter seien nun gleicherma-ßen auf der Jagd nach dem Schnee aus der Maschi-ne. Er weist auf die zunehmende Tendenz zu Kurzur-lauben hin, weswegen der Konsument inzwischen ei-nen ständigen Anspruch auf Schnee geltend mache. Überall werde Exzellenz gewünscht, also: Panorama-scheiben, Spa, höchster Komfort. Die ständig stei-genden Infrastrukturkosten, die man allein aufbrin-gen müsse, um den Marktanteil zu halten, brächten ihn manchmal um den Schlaf. Expansion, sagt er. Aus seinem Mund bekommt das Wort etwas Unverständ-liches; er presst es heraus wie ein hartes Stück Kot, lallend, mit schwerer Zunge, als erleide er einen Schlaganfall.
Gegen Männer wie ihn sind, sofern sie noch lebten, bereits vor Jahren Prozesse angestrengt worden: Auch nach ihrer Verurteilung haben nur die wenigs-ten Einsicht gezeigt, sie haben sich missverstanden gefühlt und von Unrechtsherrschaft gesprochen.
Ich tauche meine Hand in den Schädel des Alten und in seinen Körper, fische nach etwas, das nicht da ist. Ich mache das selten, es schadet der Erfahrung: aber manchmal überkommt mich das Bedürfnis. Natürlich stört es ihn nicht, nichts stört die Toten, weder der Hass, der auf sie empfunden wird, noch, dass sie zu Monstern geworden sind für die Nachwelt. Auch der Journalist scheint den Alten nicht zu stören mit sei-nen moderat kritischen Fragen: zu unverkennbar stolz ist er auf sein Lebenswerk; darauf, dazu beige-tragen zu haben, dass die gesamte Region seinerzeit der Armut entkommen ist, der Abhängigkeit von ei-ner ineffizienten, von Knappheit und Unsicherheit geprägten Landwirtschaft. Morgen, sagt er, treffe er sich mit Investoren an der Baustelle für ein neues Lu-xusressort: Zur Eröffnung sei eine Ausstellung ge-plant, in der Schnitzskulpturen von renommierten Künstlern aus der ganzen Welt zu sehen seien; eine hochkarätige Sammlung im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne.
Als er auf die Zukunft angesprochen wird, gerät der Alte vor seinem Kamin ins Schwärmen: Er träumt von Brücken, die Gipfel verbinden, von Panoramaplatt-formen aus Glas und Leichtmetall und von Pisten aus pinkfarben gefärbtem Schnee. Achterbahnen sollten jede langweilige Rodelbahn ersetzen, eine Armee aus tausend Schneemännern formiert werden. Mit Be-geisterung beschreibt er einen Snowboardpark, der geformt ist wie ein nackter, vollbusiger Frauenkörper. Gläserne Berghütten sollen errichtet werden, Schau-plätze für James-Bond-Filme, sagt er, die noch nicht gedreht worden sind. Ein multimedialer Eislaufplatz soll schon bald in Bau gehen; außerdem ein Erlebnis-bad auf der Piste, in dem auch gesurft werden könne. Das geplante neue Wahrzeichen: Ein begehbares, gläsernes Gipfelkreuz. Angedacht sei auch eine Skikirche, ein abermals verglaster Würfel als Ort der Andacht, der aussehe wie ein Christkindlgeschenk, und dort, dort könne man hineinfahren auf Skiern, um eine Kerze anzuzünden für seine Lieben.
Es ist leicht, angewidert zu sein von dieser naiven Weltlosigkeit, die so typisch ist für die Menschen des frühen 21. Jahrhunderts: Ihrer Kurzsichtigkeit, ihrer Ignoranz, ihrem offenkundigen Selbstbetrug. Und doch wäre es nur wohlfeil zu behaupten, sie wären soviel anders gewesen als wir. Auch diese Haltung, so verständlich sie zunächst erscheinen mag, ist dümm-lich und selbstgerecht: Die Obsessionen und Irrtümer der Alten leben ja überall um uns fort und in uns, sie sind unseren Welten so tief eingeschrieben wie ihre Errungenschaften. In Hulapalu zum Beispiel existiert all das längst, wovon der Alte spricht und geträumt haben dürfte, und sogar noch mehr: Dort können die Grenzen des Möglichen jederzeit verschoben werden, weil es problemlos möglich ist; dort entstehen jeden Tag neue Gebirge. Die Farbe des Schnees kann jeder Nutzer individuell einstellen.
In Hulapalu gibt es Achterbahnen und Wasserrut-schen, die sich um gigantische Gipfel schrauben, und Flyboard Races über endlose Pisten, gespickt mit Rampen und Rails und allerlei perfiden Fallen. Sprungschanzen katapultieren einen hinein bis tief ins All. Man kann zu halsbrecherischen Pistenverfol-gungsjagden antreten mit Batpods, oder zu Faust-kämpfen gegen Reinhold Messner auf dem Dach sei-nes Museums in den Wolken. Dann sind da die tage-langen Live-Action-Events, in denen Schildgenerato-ren gegen Chitauri, Frostriesen und imperiale Schneetruppen geschützt werden müssen. Wer möchte, kann versuchen, Willy Bogner dabei einzu-holen, wie er als James Bond in seinem kükengelben Anzug durch Gletscherspalten und Eisrinnen, über Schneewächten hinweg und zwischen Bäumen hin-durch ins Tal rast. Geschafft hat das allerdings noch niemand: Seit Jahren kursiert der Witz, Hulapalu würde sich selbst zerstören, wenn es je jemandem gelänge.
An manchen Tagen lässt sich auch Godzilla dabei be-obachten, wie er ganze Seilbahnen aus dem Berg reißt und sie herumschleudert, als schwänge er ein Lasso.
Der Alte hat von alldem natürlich nichts ahnen kön-nen, dennoch ist er auf seine Weise einer der Väter von Hulapalu: Wir haben unsere Welten auch auf seinen Gebeinen errichtet.
Er wolle noch soviel erleben, sagt er jetzt, im In-terview, wolle es in sich hineinstopfen, das Leben. Er halte sich fit dafür mit einem Fitness- und Ernäh-rungsprogramm und ausgewählten Präparaten. Ein-mal am Tag komme zudem ein blutjunges Madl zu ihm, die seinen Körper einreibe mit exklusivem Heuöl aus der Region. Die Massage diene zur Lockerung der Muskeln, der Faszien und Sehnen und entspanne den gesamten Körper. Dem Journalisten zeigt er Bilder auf einem Smartphone, eine junge Frau ist darauf zu se-hen.
Er sagt:
Wenn i do net unsterbli werd', dann woaß i a net.
Das Gelächter des Alten ist heiser und feucht, es klingt wie eine heranrollende Lawine, deren Auswir-kungen man spürt bis in die Gegenwart.
Als die Sequenz abreißt, verschwimmt die Umgebung um mich herum, wird trübe wie eine beschlagene Scheibe. Noch ein paar Sekunden stehe ich in diesem hellen Nichts, ohne zu wissen, was als nächstes kommt: Ich habe auf Shuffle gestellt, um mich über-raschen zu lassen.
3. Warum ist nicht alles schon verschwunden?
Ich trete aus der Wohneinheit hinaus auf den Balkon, ich schaue hinauf in den Himmel und blinzle. Die Dü-sen sind in Betrieb: Abermillionen versprühte Was-sertröpfchen hüllen die Tragwerkskonstruktion der Kuppel in wabernden Dunst. Die Mittagssonne da-hinter erzeugt ein blasses Licht, ein Licht wie Milch, die versetzt worden ist mit Wasser. Wie immer, wenn ich zu lange in den anderen Welten unterwegs gewe-sen bin, kann ich Bilder in den Schleiern erkennen: Meinen Vater, wie er seine Skier abklopft mit be-handschuhten Händen; die Hirschhornknöpfe auf dem Lodenjanker des Alten, die mich nun anstarren wie tote Augen. Die bleichen Strände der Lagunen-welt Valea, auf der ich zuvor mit X!mara gewesen bin; ihr nackter Körper, ihre Echsenhaut, die grünlich schillert und golden.
Meine Bewegungen sind noch unsicher: Mir ist übel, und ich verspüre leichten Kopfschmerz. Auf dem Schirm werden meine Körperdaten eingeblendet; ich sollte etwas essen, trinken sowieso. Ich ignoriere die angezeigten Vorschläge, stattdessen suche ich nach dem Vaporizer, den ich irgendwo hier abgelegt haben muss, finde ihn, setze mich. Ich dampfe schwach konzentriertes Isländisch Moos, um die Übelkeit zu bekämpfen und meinen Appetit anzuregen. Eine Wei-le lang fühle ich nichts. Der Nassdampf des Vapori-zers umwölkt mich, der Duft von Isländisch Moos vermischt sich mit dem leicht fauligen Geruch, der von den Algenfarmen an den Hauswänden ausgeht. Schräg gegenüber, halb verdeckt von Wohnmodulen, ragt das Vishara Meditation Center bis hinein in die künstlichen Wolken; ein Schwarm Vögel stößt aus dem dichten Bewuchs seiner Fassade.
Ich versuche, zu rekapitulieren, was ich gesehen habe an diesem Morgen: Es sind nur noch flüchtige Ein-drücke, die bereits in mir verkleben, die unkenntlich werden und unleserlich. Ich denke darüber nach, dass der Ort, an dem mein Vater seinen letzten Skiur-laub verbracht hat (wo ich heute noch gewesen bin mit ihm), vor Jahren schon verschüttet worden ist von Schlamm und Geröll. Man sagt, die Pässe seien inzwischen gesperrt wegen der Erosion, den Muren und Lawinenabgängen; den Felsbrocken, die aus den Wänden brechen und ins Tal stürzen.
Touristen wie meinen Vater gibt es dort nicht mehr, aber ich weiß, dass noch immer viele Explorer unter-wegs sind: Sie durchforsten die menschenleeren Ne-bentäler, die dunklen Hochwälder, die in den letzten Jahren entstanden sind. Sie suchen nach verlassenen Luxuschalets und Skihütten und den verfallenen Gondelstationen, diesen leeren Blasen aus Glas und Stahl. Sie empfinden wohl etwas dabei: ein Schau-dern, als sei das Ende der Zivilisation bereits einge-treten, dabei könnte nichts falscher sein. Ihr Tun ist bloße Eitelkeit; leeres Pathos, das sie begeistert tei-len, als Mahnung und Warnung, und doch nichts an-deres damit erschaffen als Datenmüll. Aktivisten da-gegen berichten von streng bewachten Flüchtlingsla-gern; sie fertigen begehbare, digitale Rekonstruktio-nen an, damit jeder sich ein Bild machen kann von dem Elend, das dort herrscht. Ich habe keine Ahnung, was wirklich vor sich geht; ich weiß nur, dass auch ich Verantwortung trage für diese Geschehnisse.
So gesehen bin ich noch nie in den Alpen gewesen.
Ich gehe nach drinnen, fülle ein Glas mit Wasser: Wie alles aufbereitete Schmutzwasser hat es einen scha-len, verbrauchten Geschmack. Manchmal fühlt sich mein ganzes Leben so an: wiederaufbereitet, entsalzt. Gedanken wie dieser bleiben einem reflektierten Be-wusstsein unwürdig, sie sind selbstbezogen und nar-zisstisch: Um mich herum ist die Luft ja sauber, ich esse nachhaltig angebaute, hochwertige Nahrung, ich bin eingebettet in eine gefestigte Sozialstruktur, die angenehm homogen ist in ihrer Diversität. Um es nicht zu vergessen, sage ich es mir jeden Morgen auf als kleines Mantra. Wie alle habe ich Strategien, um meine Privilegien zu rechtfertigen, meine lautet zu-meist: Verdrängung. Ohne sie lässt sich kein Leben führen.
Im Grunde lebe ich längst das Leben meines Vaters, vielleicht habe ich das immer schon getan: Eine Ein-sicht, die das Ergebnis ist von unzähligen Erinne-rungsgängen und permanenter, kritischer Selbstrefle-xion. Noch immer verschafft sie mir ein vages Gefühl von Ohnmacht und völliger Sinnlosigkeit.
Auf dem Schirm werden mir Sportangebote ange-zeigt: Wenn ich zeitnah zum Speedminton aufbreche, könnte sich meine Gemütsverfassung bis zum Mittag um einundzwanzig Prozentpunkte verbessert haben. Eine potentielle Spielpartnerin wird bereits einge-blendet: Ich wische sie beiseite, obwohl ich weiß, dass all das registriert wird, aufgezeichnet und aus-gewertet. Ende des Monats werde ich wohl wieder mit Kürzungen zu rechnen haben.
Ich lehne mich fürs Erste zurück in meinen Stuhl. Die Temperaturen sind wie immer angenehm mild, nicht zu warm und nicht zu kühl. Ich greife wieder nach dem Vaporizer: Mehr habe ich heute nicht zu tun.
4. Hochweide
Ich bin nun schon seit Stunden unterwegs, ich bin aus dem Tal heraufgekommen. Auf verschlammten Almwiesen habe ich mich vorsichtig einer Herde von Kühen genähert. Ihre Blicke ruhten auf mir, als ich mich durch die dampfenden Leiber bewegte; die Glocken um ihre Hälse bimmelten monoton und be-ruhigend. Am Saum des Waldes, zwischen Fichten und Kiefern und überwölbt von silbergrauen Fels-wänden, hat eine winzige Kapelle gestanden: In den Spinnennetzen unterhalb der Regentraufe sammel-ten sich Wassertropfen. Über dem Eingang, einge-schnitzt in einen hölzernen Bogen, standen die Wor-te: Ich bin die unbefleckte Empfängnis. Im Innern, auf dem Altar, kauerte eine bemalte Tonfigur der Mutter Maria im Schein flackernder Kerzen. Ich ver-weilte dort lange, andächtig und still, fast so, als würde ich beten.
Das hier ist Hochweide, nicht Hulapalu oder Hoth: Der Besuch ist kostenpflichtig, man braucht einen Monatspass. Es handelt sich um eine maßstabsge-treue Nachbildung des Alpenmassivs: Ihr fast irreal erscheinender Realismus beruht auf früheren 3-D-Scans, ermöglicht durch Fotogrammetrie.
Das Wetter ist wechselhaft; aus Regen wird Schnee-matsch und wieder Regen, dann beginnt ein feiner Sprühnebel mich einzuhüllen. Ein rauschender Was-serfall springt von irgendwo weit oben aus dem Berg. Meine Schuhe sind schwarz vor Nässe. Ich überquere zwei schmale Holzbrücken, die schon aufgequollen sind vor Feuchtigkeit. Im dichter werdenden Nebel kann ich nur mehr die Wipfel einiger Kiefern erken-nen. In den Ritzen eines aufgesprengten Findlings am Wegesrand wächst ein Edelweiß.
Oberhalb der Baumgrenze lichtet sich der Nebel, reißt auch die Wolkendecke abrupt auf. Der Himmel dahinter ist mattblau; seine Farbe gewinnt sekun-denschnell an Tiefe und Intensität. Ich kann nun den Pfad sehen, wie er sich über ein Geröllfeld den Hang hinaufwindet. Von tief unten sind noch immer deut-lich die gellenden Pfiffe der Murmeltiere zu hören; vielleicht ein Programmierfehler, ich bin nicht sicher. Ein Bach gluckert über den Pfad, das Gestein darun-ter ist glitschig vom klaren Wasser, es glänzt dunkel. Ich lasse meinen Blick schweifen über scharfe Grate, Steilwände und tiefe, wannenförmige Täler. Am Himmel ist ein winziger Punkt zu sehen. Ich rufe den Fernstecher auf, zoome heran: Ein Steinadler, der seine Kreise zieht auf der Suche nach Beute.
Ich gehe weiter bergan, erste Schneefetzen mehren sich, brüchiger Firn, der in schmutzgrauen Lappen die Hänge befleckt. Mit jedem Meter wird das Gelände abschüssiger und steiler. Die Felstrümmer sind von einer dünnen Eisschicht schon wie verglast. Ich bin vorsichtig bei jedem Schritt, ich möchte nicht abstür-zen, jetzt wo sich das Ziel schon nähert: Ein wichtiger Bestandteil der Erfahrung ist, dass man sich nicht ein-fach rematerialisieren kann in Hochweide. Ich durch-quere mit Mühe die Scharte, an der Drahtseile befes-tigt sind, um Halt zu finden. Hinter dem ersten Grat erstreckt sich ein gleißendes, sanft abfallendes Schneefeld; erst ein gutes Stück talwärts führt der Pfad weiter die Bergflanke hinauf zum Gipfel. Ich rut-sche auf dem Hintern bis dort hinunter, ich fühle mich ganz leicht dabei. Der aufgewirbelte Schnee-staub funkelt kristallin um mich herum.
Ich habe den Gipfel fast erreicht, als ich fernes Ge-brüll vernehme, das anschwillt und wieder abreißt. Zunächst kann ich nur einen dunklen, unförmigen Schatten am Horizont erkennen: Er nähert sich mir in hoher Geschwindigkeit, es ist ein Eisdrache. Die Rüs-tung seines winzigen, gesichtslosen Reiters schim-mert silbern. Wie er hier hereingelangt ist, bleibt un-klar: Diese Welt sollte eigentlich geschlossen sein; unzugänglich für Nutzer wie ihn, die für immer dumm bleiben werden, beschränkt und reaktionär. Möglich auch, dass es sich nur um einen Bot handelt: Es ist längst nicht mehr so leicht, das herauszufinden; es ist letztlich auch ohne Bedeutung.
Der Eisdrache dreht enge Schleifen um den Gipfel; mit jeder davon kommt er mir näher: Seinen schwarzgrauen Schuppenpanzer überzieht ein dün-ner Film aus Frost. Das Gebrüll, das er von sich gibt, ist ohrenbetäubend. Der erste Feuerstrahl trifft mich unversehens: Grellendes, gletscherblaues Polygonen-gestöber. Ich schließe wie aus Reflex die Augen, dabei kann der Feuerstoß weder mir noch dem Berg etwas anhaben. Der Eisdrache stößt erneut einen marker-schütternden Schrei aus. Ich tagge ihn rasch mit ei-nem roten Punkt: Es dauert nur Sekundenbruchteile, bis er und sein Reiter aus dem Himmel gelöscht wer-den, als seien sie nie dagewesen. Das Meldesystem funktioniert effizient in dieser Hinsicht, weit besser als die Filterprogramme.
Den restlichen Weg setze ich allein und in aller Ruhe fort.
Oben angekommen raste ich eine Weile unter dem Gipfelkreuz und schaue in die Weite. Quellwolken haben sich gebildet am Horizont, das Wetter wird umschlagen: ich muss bald schon mit dem Abstieg beginnen. Ich stehe auf, klaube Schneepuder von meinen Hosenbeinen, rufe meinen Namen noch einmal ins Tal hinunter. Dann warte ich darauf, dass er als Echo zu mir zurückkehrt.