Der 1965 erschienene Erstling des Tessiner Autors Giovanni Orelli zeichnet vor dem Hintergrund eines drohenden Lawinenabgangs im Bedrettotal das gültige Bild einer Gemeinschaft in kollektiver Bedrängnis.
„Heute Abend aber sind wir alle hier zusammengekommen, um zu entscheiden, ob wir unser Haus, unsere Wiesen, unser Gebiet, unsere Toten verlassen sollen. Ich bin alt, und ich kann mir vorstellen, dass die Rede eines Alten einem jungen Mann wenig oder nichts sagt. Wäre ich sicher, dass die Demut im Herzen unserer Söhne vorherrscht – nicht die von uns Männern, sondern die Demut unserer Frauen, die es seit früher Jugend gewohnt sind, sich dem zu fügen, was das Leben schickt-, wäre in euch allen dieses fromme, schweigende Ertragen, ohne die Vergangenheit und den Glauben zu verraten, so würde ich sagen: Geht bis ans Ende der Welt.“
Nein, das ist nicht die Rede eines alten Mannes in einem syrischen Dorf während einer Debatte über die Frage, ob es nun Zeit ist, die Heimat zu verlassen. Die Rede ist vom Val Bedretto im Tessin. Und das Buch „Der lange Winter“ von Giovanni Orelli handelt nicht in der Jetzt-Zeit, sondern im legendären Lawinenwinter 1951, der heute noch durch viele Erzählungen älterer Tessiner geistert. Damals schneite es scheinbar endlos, und als der Schnee selbst im Frühjahr noch meterhoch lag, lebten die Menschen in abgelegenen Bergdörfern immer gefährlicher. Die Lawinengefahr stieg dramatisch an. Während dort, in Syrien, der Feind als bewaffnete Kämpfer der ISIS oder der Assad-Regierung auftritt, waren es hier der Berg und der Schnee, deren drohende, zur Lawinengefahr kumulierende Kombination sich in das Denken der Köpfe einschlich. Sie bedrückte die Menschen, ängstigte sie, und führte sie zusammen. Denn – auch diese Metapher scheint zu funktionieren – das Dorf wird in diesem Jahr 1951 zu einem Boot, und die ganze Einwohnerschaft sitzt darin. Die Lawine: Kommt sie als Pulverschneelawine erstickt man, ist der Schnee nass, wird man erdrückt. Es lastet eine Bedeutungsschwere über dem Dorf, aber es gibt auch Nischen. Beispielsweise für die heimliche Liebe, die der Ich-Erzähler zu Linda entwickelt. Er sagt in ihrem Liebesnest: „Vor den Bauern braucht man keine Angst zu haben: wenn sie einen von uns bei der Liebe ertappen, mit einer, die nicht zur Familie oder engeren Verwandtschaft gehört, lachen sie und sind insgeheim zufrieden. Kinder machen ist das Vergnügen der Armen.“ Mit seinem Erstling „Der lange Winter“, der 1965 beim Mailänder Verlag Mondadori erstmals erschienen ist, wurde Giovanni Orelli im italienischen Sprachraum auf einen Schlag bekannt. Und auch die deutsche Übersetzung verkaufte sich gut. Dann aber geriet dieser lesenswerte Tessiner Autor nördlich der Alpen in Vergessenheit, weil seine weiteren Werke weder sorgfältig übersetzt noch nachhaltig beworben wurden. Doch „Der lange Winter“, die Anspannung im Dorf und die Frage der Flucht haben wieder Aktualität erlangt. Zuerst werden die kleinen Dörfer und Weiler und dann die Häuser am Rande des Dorfes Bedretto geräumt. Die Bewohner nehmen Wertsachen, Bettlacken und Decken mit und ziehen in Häuser in der Dorfmitte, die geschützt sind. Manchmal hört man ein Grollen von Lawinen, mal ferner, mal näher. Dann flüchten die Menschen in die Kirche, bereit, dort zu sterben.
Aufrichtige Fürsorge
Ganz abgeschnitten von der Umwelt waren Bedretter freilich nicht. Die Bewohner malen mit Asche auf einer Fläche nahe dem Dorf riesige Buchstaben für das Flugzeug vom Roten Kreuz. Es soll Brot abwerfen. Doch es ist schon Mitte März und die Gefahr von Nassschnee-Lawinen steigt dramatisch. Die Regierung gibt sich zwar demokratisch. Sie will niemand zwangsevakuieren, doch sie lässt über den Dorfpolizisten ausrichten: „Wenn aber die Bevölkerung, für die die Regierung die lebhaftesten Gefühle aufrichtiger Fürsorge hege, hartnäckig darauf bestehen werde, die Ratschläge der Behörden nicht anzunehmen, so werde die Regierung jede Verantwortung ablehnen und Hilfe verweigern. Kurz: Die Bewohner mussten der erzwungenen Evakuierung freiwillig zustimmen. Einige wehrten sich freilich und nannten es Erpressung. Doch sie haben keine Wahl. „Die Mutter schliesst die Tür ab, steckt den Schlüssel in die Tasche unter dem Brusttuch, vergewissert sich, ob die Tür auch abgeschlossen ist, und sagt dem Haus Lebewohl.“ Ganz unsentimental ist vielerorts der Abschied. Später bietet sich den Autofahrern unten im Tal ein seltsames Bild, als ein ganzes Dorf mit Hausrat und Tieren auftaucht. Die Bewohner werden auf verschiedene Dörfer verteilt. Sie fühlen sich als Fremde, als Last. Sie sind froh, als sie endlich wieder in ihr Tal zurückkehren können.
Giovanni Orelli: Der lange Winter. Limmat Verlag 2003