Dass der alte Schorsch umgebracht worden ist, ist kein Geheimnis. Aber keiner redet darüber, ebenso wenig wie über den Unfalltod, den er offiziell gestorben ist. Der Schorsch hatte es nicht anders verdient.

Aber jetzt ist die Gruber Marie kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag erschlagen worden. Trotzdem wird geschwiegen. Warum ich ausgerechnet zu Ihnen komme, Herr Kommissar?
Also das mit dem Schorsch und der Marie, das hängt zusammen, wissen Sie, das ist eigentlich nur eine Geschichte, eine Geschichte, in die auch Sie verstrickt sind. Ja, Sie, Sie sind doch zuständig für die Sache mit dem jungen Harrer? Was jetzt auch noch der junge Harrer damit zu tun haben soll?
Das ist kompliziert, obwohl, eigentlich auch wieder nicht. Am besten, ich fange ganz von vorne an, von damals, als der alte Schorsch noch jung war und als Knecht ins Tal gekommen ist. Fast sechzig Jahre ist das jetzt her. Nach dem Krieg waren die Männer rar und überall fehlte es an Arbeitskräften. Der Schorsch war ein kräftiger Bursche, ein Riesen-Lackel, fast zwei Meter groß und breit wie ein Kasten. Zuerst ist er am Unterberger-Hof in Dienst getreten, aber der Altbauer hat ihn schon bald wieder davongejagt. Der Unterberger-Sohn war im Krieg verschollen, die Schwiegertochter jung und einsam. Die Blicke, die sie dem Schorsch zugeworfen hat, waren dem Alten ein Dorn im Auge. Der Schorsch und er hatten deswegen einen Riesenstreit, um ein Haar wäre es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Jedenfalls hatte der Schorsch danach seinen Ruf weg. Bis zu seinem Tod wurde der alte Unterberger nicht müde, über den Streit zu erzählen, und von Jahr zu Jahr wurde der Schorsch in seiner Geschichte gefährlicher und gewalttätiger. Der Schorsch verteidigte sich nicht, vielleicht war er gar nicht so unglücklich damit, als harter Kerl zu gelten.
Weg vom Unterberger-Hof hat der Schorsch sich als Erntehelfer verdingt. Im Herbst dann hat sich der Gruber Alois, der Großvater von der Marie, das Bein gebrochen. Ein saublöder Unfall war das, vom Heuboden ist er gefallen, aber zum Glück ist nichts Ärgeres passiert, er hätte sich ja auch das Genick brechen können, so was kommt immer wieder mal vor. Jedenfalls brauchte der Gruber dringend einen Helfer, und weil er den alten Unterberger sowieso nicht ausstehen hat können, hat er sich den Schorsch auf den Hof geholt. Sorgen um seine Frau hat er sich nicht gemacht, die war schon in den späten Vierzigern und dem Körperlichen noch nie besonders zugeneigt gewesen. Tochter gab es auch keine, der ältere Sohn war ein Eigenbrötler, der Zeitlebens Junggeselle bleiben sollte, und der jüngere, ein Nachzügler, noch lange nicht im heiratsfähigen Alter.
Der Gruber und der Schorsch haben sich auf Anhieb verstanden, das war mehr eine Freundschaft als ein Bauer-Knecht-Verhältnis. Auf dem Gruber-Hof ist der Schorsch dann auch geblieben. Er hat geschuftet wie ein Tier und eisern gespart. Nur alle heiligen Zeiten hat er einmal einen über den Durst getrunken, nie hat er sich in Schlägereien verwickeln lassen. Im Tal war er gut gelitten, wobei ihm der Ruf vorauseilte, ein Schürzenjäger zu sein, sodass ihm die verbliebenen Männer mit misstrauischer Zurückhaltung begegnet sind. Der Schorsch hat freilich auch nichts anbrennen lassen. So manches Herz soll er gebrochen haben, so ziemlich jede Frau im Tal hat von seinen blauen Augen geschwärmt, von seinen breiten Schultern und seinen großen Händen. Gefallen hat ihnen auch, dass der Schorsch kein Mann vieler Worte war. Seine Schweigsamkeit hat ihn geheimnisvoll wirken lassen. Er hat nichts von sich erzählt, von wo er gekommen ist, was ihn ausgerechnet in unser Tal verschlagen hat, rein gar nichts wusste man über ihn. Das hat ihn hier, wo jeder jeden kennt, und das von Geburt an, natürlich besonders interessant gemacht.
Der Schorsch hat sich aber von niemandem in die Karten schauen lassen und stillschweigend sein Ding durchgezogen. Und so war das Erstaunen groß, als er nach fast zwanzig Jahren den Gruber-Hof quasi Knall auf Fall verlassen hat. Das halbe Dorf ist in Schockstarre verfallen, als er den Moser-Hof, der knapp vor der Verpfändung gestanden ist, ausgelöst hat, und, als Draufgabe, könnte man sagen, die Moser Anna geheiratet hat. Die Anna war keine Schönheit und hat als alte Jungfer gegolten. Über dreißig war sie schon, üppiger, als dass sie noch als drall hätte durchgehen können, und dazu hatte sie auch noch einen mehr als ausgeprägten Silberblick. Warum der Schorsch, ein gestandener Kerl im besten Mannesalter, ausgerechnet die Anna genommen hat, darüber gab es viele Gerüchte. Keines davon hatte etwas mit wahrer Liebe zu tun, die ja bekanntlich blind macht. Dass der Moser den Hof nur mit der Anna verkaufen wollte, galt als ebenso wahrscheinlich, wie, dass er den Schorsch gezwungen haben sollte, die Ehre der Anna zu retten. Die Anna hat vier Monate nach der Hochzeit jedenfalls ein Kind verloren. Wie weit die Schwangerschaft da schon fortgeschritten gewesen ist, das haben nur die Anna und der Schorsch gewusst. Und die haben darüber nie auch nur ein Wort verloren.
Um die Ehe der beiden war es von Beginn an nicht rosig bestellt. Der Schorsch war weiterhin umtriebig, aber zumindest hat er die Anna nicht von Anfang an verprügelt. Das kam erst später. Inzwischen hatte der alte Unterberger, der ihm bis zuletzt nicht wohlgesonnen war, das Zeitliche gesegnet. Allerdings nicht ohne seine Schwiegertochter dem Harrer Franz angetragen zu haben, kaum, dass der Tod ihres Gatten amtlicherseits bestätigt worden war. Die Schwiegertochter soll sich mit Händen und Füßen gegen die Verheiratung gewehrt haben. Angeblich soll sie den Harrer fast ein Jahr lang an der Ausübung seiner ehelichen Pflicht gehindert haben, zumindest jedoch, bis der alte Unterberger unter der Erde war. Kaum war der Alte tot, war der Schorsch plötzlich gerne gesehener Gast auf dem ehemaligen Unterberger-, jetzt Harrer-Hof. Vielleicht hat er der Harrerin ja ins Gewissen geredet, wahrscheinlicher ist allerdings, dass er selbst seinen Mann gestanden hat, jedenfalls wurde neun Monate später ein Stammhalter geboren. Wie Schorsch hatte er tiefblaue Augen, andererseits sind blaue Augen bei uns im Tal nichts unbedingt Ungewöhnliches.
Ja, Herr Kommissar, das ist der junge Harrer, der vorige Woche verunglückt ist. Die Bremsleitungen seines Wagens sollen manipuliert worden sein? Woher ich das habe? Gerüchte sind schneller als der Teufel, hat meine Mutter immer gesagt. Eine fromme Frau, aber trotzdem Realistin. Sie hat es nicht leicht gehabt, hat gewusst, dass sie vom Leben nicht allzu viel erwarten durfte. Obwohl sie sich in ihr Schicksal gefügt hat, all die Bosheiten, die ihr zugefügt worden sind, ertragen hat, hat sie nie das große Ganze aus den Augen verloren. Sie hat mir beigebracht, worauf es ankommt, Herr Kommissar, und sie war eine gute Lehrerin. Aber ich schweife ab.
Die Anna hat nach vielen Jahren und drei weiteren Fehlgeburten endlich auch ein Kind bekommen, einen Sohn, der Josef genannt worden ist, angeblich nach dem Vater vom Schorsch. Mit der Geburt seines Sohnes war für den Schorsch das Thema Familie erledigt. Die Anna war für ihn als Frau abgeschrieben. Angegriffen hat er sie nur noch, wenn er ihr ihre Minderwertigkeit eingebläut hat. Spuren seiner Erziehungsmaßnahmen trug auch sein Sohn regelmäßig davon, eine Anna ohne Blutergüsse war jedoch ein noch rarerer Anblick.
Geholfen hat ihr keiner. Wie auch, was in der Familie geschah, hatte in der Familie zu bleiben, und außerdem konnte der Schorsch, wenn er es darauf anlegte, auch mit fast sechzig noch ziemlich furchteinflößend sein. Bis auf den Gruber Alois, seinen ehemaligen Brotherren, hatte der Schorsch auch keine Freunde, die vielleicht hätten Einfluss auf ihn nehmen können. Und der Alois war auf seine alten Tage keineswegs der Milde anheimgefallen. Im Gegenteil, im Tal war er als Verfechter strenger Zucht und Ordnung bekannt. Seine beiden Söhne hatte er selbst als Erwachsene mehr als einmal grün und blau geprügelt. Als ihn schließlich selbst der Schlag traf, trauerte nur der Schorsch um ihn. Seine Enkelin, die Marie, die später erschlagen werden sollte, hat sich sogar geweigert, zu seinem Begräbnis zu kommen. Warum sie ihn Respekt erweisen solle, hat sie gefragt, wo er doch niemanden außer sich selbst respektiert habe. Der Schorsch hat das der Marie sehr übel genommen und Wochenlang kein Wort mehr mit ihr geredet. Das hat wiederum die Marie gekränkt, der Schorsch war schließlich ihr Patenonkel und hatte einen Narren an dem Mädchen gefressen gehabt. Sie waren sich in vieler Hinsicht sehr ähnlich, beide stur und verschwiegen, beide groß und schlank, sogar ihre Augenfarbe war dieselbe. Natürlich gab es auch hier Gerüchte, hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, der Schorsch hege väterliche Gefühle für die Marie, mehr jedenfalls als für seinen Sohn. Laut sagen getraut hat sich das allerdings keiner.
Und dann ist der Schorsch umgekommen. Der Schorsch war ein sorgfältiger Arbeiter. Mach es ordentlich oder lass es bleiben, war sein Leitspruch, den er selbst beim Prügeln beherzigt hat. Er hat jeder Tätigkeit seine volle Aufmerksamkeit gewidmet, war immer konzentriert bei der Sache, Fehler hat er keine gemacht. Darum war auch allen klar, dass es kein Unfall gewesen sein konnte, als ihn der Baum erschlagen hat. Allerdings hat niemand Einspruch erhoben, als die Tragödie als tödliche Fehleinschätzung seinerseits deklariert wurde. Freunde hatte er keine, die Familie war froh, von ihm erlöst worden zu sein, und Feinde hatte er sich durch seine Schürzenjagden mehr als genug gemacht. Schorsch war tot, der Gerechtigkeit Genüge getan. Nur die Marie war ehrlich erschüttert. Weinend stand sie an seinem Grab, weinend warf sie eine Handvoll Erde auf den Sarg, weinend kondolierte sie Anna und Josef, die die Beileidsbezeugungen über sich ergehen gelassen haben. Maries offensive Trauer ließ die Gerüchteküche aufbrodeln. Das neuerliche Getratsche über ihren Mann setzte Anna mehr zu als sein Tod. Sie hatte sich von ihm befreit gewähnt, doch selbst im Tod dominierte er ihr Leben. Wie sehr sie litt, wurde jedoch erst deutlich, als sie von einer Brücke in den Tod sprang.
Nicht lange nachdem Anna sich das Leben genommen hatte, wurde Marie mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden. Dass nur einige Tage später der junge Harrer verunglückt ist, dürfte Sie jetzt eigentlich nicht mehr wundern, Herr Kommissar. Es hängt ja alles zusammen, ist im Grunde nur eine Geschichte. Eine Geschichte, die begonnen hat, als der Schorsch als junger Mann in unser Tal gekommen ist.
Sie haben recht, Herr Kommissar, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Josef, Josef Moser. Ich habe den Mädchennamen meiner Mutter angenommen. Ich nehme an, Sie ahnen, warum.