Mit "Sperrbezirk UBE-6172.LU - kleines Paradies" holt Martina Jud  den dritten Platz in unserm Schreibwettbewerb "2100". Wir gratulieren!

04. Juli 2100

Heute, nach einer interessanten und intensiven Woche, will ich endlich das Protokoll
von unserem letzten Besuch im Sperrbezirk UBE-6172.LU aufnehmen. Eigentlich bin
ich jemand, der die Arbeit gerne sofort erledigt und die Beobachtungen und Spurensuche
meist am gleichen Abend oder spätestens am folgenden Tag aufzeichnet.
Ganz nach dem Motto, wenn alles frisch im Kopf ist, dann vergesse ich keine wichtigen
Details. Aber unser jüngster Besuch im Sperrbezirk hat in mir ein Chaos der
Gefühle ausgelöst. Freude, Wut, Trauer, Unverständnis und Neugier sind für mich
zwar normale Gefühlsabläufe, aber nicht alle auf einmal. Ich raufe mir die Haare und
schaue mich um. Nach unserem letzten Trip ins Sperrgebiet war ich gezwungen die
vielen Gedanken vorab zu sortieren. Genau so sieht nun das Arbeitszimmer von mir
aus. Überall Notizen, Ausarbeitungen und Bilder. Meine Touch-Chart-Wand gleicht
einer Staffelei mit abstrakter Kunst. Jetzt endlich ist es so weit, dass ich vermag das
Protokoll aufzunehmen. Ich setze mich an den Schreibtisch und starte das Aufnahmegerät.

„Protokoll, 26. Juni 2100, aufgezeichnet von Delilah Raave, Forschungsprojekt
ETH8024: Probeentnahme im Sperrbezirk UBE-6172.LU. Beteiligte Personen Kayson
Fahle, Ayla Bailie, Samir Jarvis und ich - Delilah Raave. Wir waren am frühen
Morgen um 4.30 aufgebrochen, um nochmals Boden- und Wasserproben aus dem
Sperrbezirk zu nehmen und diverse Insekten einzufangen. Bei den Tieren ging es
darum, eventuell vorhandene Anomalien zu dokumentieren. Ayla und Samir wollten
zurück an den Fundort zweier Moorleichen und den Kadavern einer ganzen Kuhherde.
Auch nach verschiedenen Untersuchungen im Labor gab es zu viele Unklarheiten,
auf die sie eine Antwort finden wollten. Ich begleitete Kayson Fahle, der in der
geschichtlich verzeichneten Besucherzone zwischen Sektor 1 und 5 Bodenproben
entnahm, während ich mit der Sammeldrohne alte Wege eines Verzeichneses aus
dem Jahr 2030 abflog und versuchte, Insekten einzusammeln. Der Flug brachte
leider nicht den gewünschten Erfolg. Von Insekten fehlte in den besuchten Sektoren
jede Spur. Wir hoffen, mit der Analyse der Proben von Kayson eine Erklärung für das
Fehlen von Kerbtieren in diesem Bereich erklären zu können. Am Nachmittag folgten
Kayson und ich dann dem Weg über grüne, aber noch kontaminierte Wiesen unterhalb
der im Grudnriss erwähnten Fluh hinauf in das Karstgebiet. Zwischen den Felsspalten,
in Pfützen und kleinen Fließgewässern zogen wir Wasserproben. Dabei
schauten wir uns nach einem Einstieg in ein Höhlensystem um, welches in einem
alten Index aus dem Jahr 2031 erwähnt wurde. Wir erhofften uns, dass Probenent-
nahmen in den Höhlen einen weiteren Anhaltspunkt über den Grade der noch
bestehenden Kontaminierung geben konnten.“

Ich stoppe das Aufnahmegerät und rücke vom Schreibtisch ab, schaue aus dem
Fenster. Früher soll es im ganzen Land viele grüne Wiesen zwischen den Häusern
gegeben haben. Mittlerweile sind ein Grossteil der Grünflächen verbaut und dort wo
keine Gebäude stehen, gibt es fast nur Felsen oder sandigen Boden. Ich liebe meine
Heimat und diese Stadt, denn dank Dachgärten und Fassadenbegrünung mit den
vielen leuchtenden Tropenpflanzen, spiegelt sie Heiterkeit und Leichtheit wieder. Ich
kenne es nicht anders, aber bei der Arbeit im Sperrbezirk UBE-6172.LU habe ich das
erste Mal ein Gefühl dafür bekommen, wie unglaublich schön es vor der Katastrophe
gewesen sein musste, durch weite Naturlandschaft zu wandern. Den meisten meiner
Kollegen aus der ETH geht es ebenso, außer unseren drei Senioren der Forschungsstation.
Sie sind 76, 78 und 83 Jahre alt und stammen aus der Gegend, die wir
momentan untersuchen. Fotos aus ihrer Kindheit versetzten uns Jungen im Team ins
Staunen, als wir uns vor einiger Zeit für das Projekt bewarben. Die Fassungslosigkeit
sowie die Faszination hat sich bis zum heutigen Tag gehalten. Manchmal versuchen
wir uns, bei den Streifzügen durch die Region vorzustellen, wie es ausgesehen
haben muss oder Stellen von den Bildern zu erkennen, aber es gelingt meistens
nicht. Zu sehr hat sich alles verändert. Obwohl in den verschiedenen Bezirken oftmals
Dornengestrüpp wuchert, gibt es etliche andere Pflanzen von denen wir nicht
verstehen, wie sie weiterhin wachsen können. Biologisch gesehen ist es wahrscheinlich,
dass sich diese angepasst haben, weil kein Mensch in dieser Region eingegriffen
hat. Die Kraft der Natur und ihr Überlebenswille sind eben nicht zu unterschätzen.
Weder das Klima, noch die Verseuchung des Bodens, scheint den Gewächsen
etwas anzuhaben. Nach der letzten Woche und unserem Bericht stecken die drei
älteren Kollegen ständig die Köpfe zusammen und schwelgen in Erinnerung. Vor
allem das Herbarium von Margrit Stadelmann, welches Kayson und ich in einem
Inkubator im Höhlensystem gefunden haben, lässt ihnen die Tränen in die Augen
steigen. Wunderschöne getrocknete Pflanzen, dazu Zeichnungen und eine Speicherkarte
mit Fotografien ist für sie, aber auch für uns, ein unendlich wertvoller Schatz.
Ich denke, meine Senioren-Kollegen werden die Ersten sein, die in das Gebiet
fahren, wenn wir es nach einem halben Jahrhundert frei geben. Die Regierung
drängt uns zum Handeln, denn sie brauchen Bauland und Geld für ihre leeren
Kassen. UBE-6172.LU soll erst einmal als Einnahmequelle dienen. Geplant ist,
dieses Stück Natur zu vermarkten. Das spült nicht nur Bares in ihr Geldsäckel, sondern
hält die Schweiz im Spiel der beliebten Reiseziele. Touristisch gesehen würden
wir einen der letzten naturbelassenen Räume unter 2000 Metern für die Bevölkerung
öffnen, der nicht verbrannt oder zur Betonwüste mutiert ist. Seit einem Jahren arbeiten
und forschen wir in dem Areal und der Druck der Politik war von Anfang an hoch,
aber in den vergangenen zwei Monaten veranstalten sie eine mediale Hetzjagd
gegen uns. Wir sollen den Bezirk endlich für ungefährlich erklären und ihren Plänen
nicht länger im Weg stehen. Es ist wahr, die Natur hat sich in diesem Gelände erholt,
allerdings ist die Geschichte der Region im Boden abzulesen. Intensive Viehwirtschaft
und Überdüngung führte zu einer explosionsartigen Vermehrung von Bakterienstämmen
im Grundwasser. Davon sind ganze Heerscharen zurückgeblieben. Wir
haben längst nicht alle Arten katalogisiert. Einige sind uns sogar vollkommen fremd.
Hinzu kommt, dass der Boden durch massiven Einsatz von Natriumchlorid, Ammoniumnitrat,
Kaliumchlorid, Magnesumchlorid, Kalziumchlorid und weitere Chemikalien
ausgelaugt wurde. Obwohl es sich um ein riesiges Hochmoor gehandelt hat, wurde
dort Jahrzehnte lang Skitourismus betrieben. Da der Schnee nach der Klimaerwärmung
weggeblieben war, versuchten es Experten mit chemischen Schneegebilden,
die nicht gesund für das Erdreich waren. Am Schluss sorgte das intensive Axolotlprojekt
zu einer Potenzierung des Problems.

Ja, das Axolotlprojekt brachte Fluch und Segen. Nachdem es Wissenschaftlern im
Jahr 2018 gelungen war, das 32 Milliarden Basenpaare lange Erbgut des mexikanischen
Schwanzlurchs Axolotl zu entschlüsseln, boomte die Forschung in diesem
Bereich. Die Versuchsstallungen für Organhandel und die Nachzüchtung menschlicher
Gliedmaßen auf Tieren wurde im Sperrbezirk UBE-6172.LU vorangetrieben
und hatte die Region endgültig verseucht. Nach wie vor ist der Erdboden von Tierkadavern
aus dem Forschungsprojekt und den damit verbundenen Medikamenten,
Laugen und Säuren sowie Industrieabfällen zersetzt. Zu Beginn der Forschung löste
das nicht nur eine Landflucht der Bevölkerung aus. Am Ende wurde das große
Gebiet zur Militärzone erklärt und alle daraus verbannt, die nichts mit dem Vorhaben
sowie dem Konzept zu tun hatten. Bevor wir das Terrain für die Menschen freigeben
können, müsste der Boden auf einer Tiefe von mindestens vierzig Metern abgetragen
werden. Wütend laufe ich im Büro von der einen zur anderen Seite, schlage mit der
Faust auf den Schreibtisch! Erst hat niemand von der Politik oder der Wirtschaft dem
Raubbau ein Ende gesetzt und jetzt üben sie Druck aus, damit alles vertuscht wird
und man wieder weitermachen kann wie bisher. Jahrzehnte lang bestimmte eine
kleine Gruppe von mächtigen Menschen in welche Richtung wir gehen, was wir
dürfen, müssen, sollen und das tun sie noch heute. Daran hat sich nichts geändert.
Es ist eine Schande, wie schnell die Natur am Ende runtergewirtschaftet wurde, nur
um Profit einzustreichen. Ich hefte meinen Blick wieder an die vertikalen Wälder und
hängenden Gärten der Häuser. Sie sind wirklich schön und wertvoll. Die Kehrseite
von diesen politischen Machtspielen sind meist wissenschaftliche Lösungen. Je mehr
man der Natur genommen hat, umso mehr wurde geforscht die Klimaerwärmung in
Schach zu halten. Der Erfolg ist mäßig, gleichwohl hat diese Stadt ihren Charme.

Zurück an meinem Schreibtisch fahre ich sanft über den Buchrücken mit den Aufzeichnungen
von Margrit Stadelmann. Mit ihr und ihren Forschungen fühle ich mich
verbunden, obwohl ich sie nie kennenlernen durfte. Wir hatten bei unserer Inspektion
im Sperrbezirk UBE-6172.LU den Eingang in ein aufsehenerregendes Höhlensystem
gefunden. Darüber hinaus fandenwir ein weibliches Skelett vermutlich das von Margrit
Stadelmann und ein Laboratorium, dass sie sich über viele Jahre aufgebaut hatte.
Laut den Unterlagen war sie in dem gesperrten Areal geboren und hatte dort später
verbotenerweise in dieser Höhle diverse Untersuchungen auf eigene Faust betrieben.
„Margrit Stadelmann, ich danke dir für deine Arbeit und hoffe, die Keimlinge aus
deiner Samensammlung, die in meinem Gewächshaus unter der Wärmelampe
stehen, werden mir die Pflanzen nahe bringen, die einst in deiner Heimat gewachsen
sind.“ Ihre Aufzeichnungen, die Insektensammlung und ausgestopften Tiere sind ein
unbeschreibliches Glück. Ein Stück unserer Geschichte und der Verfall von
UBE-6172.LU ist mit allen Proben und Notizen dokumentiert worden. Wir stützen uns
nicht auf Annahmen, sondern auf realistische Hinterlassenschafte einer Frau, die ihr
Leben der Wissenschaft gewidmete hatte. All diese Fundgegenstände und ihre
Geschichte haben meine Gefühle durcheinandergebracht. Margit Stadelmann gleicht
mir. Wir haben dieselbe Einstellung, lieben Medizin und Forschung, versuchen mit
dem Wissen, etwas zu verändern oder hervorzubringen. Mitten im Chaos auf dem
Schreibtisch liegt ein Foto von ihr, ihrem Vater und dem Bruder. Sogar äußerlich gleichen
wir uns ein wenig. In ihren Gesichtszügen auf dem Bild erkenne ich Ähnlichkeiten
zu mir und meiner Mutter. Bei dem Gedanken legt sich die Angst mit eisernem
Griff um den Brustkorb und erschwert mir das Atmen. Obwohl die Bevölkerungszahl
nur gering anstieg, gar stagnierte, ist es denkbar, dass es in diesem Jahr, erneut zu
einer Säuberung kommen. Es wäre die vierte Reinigung zur Dezimierung der
Bevölkerung seit dem 2020. Dafür ist ebendiese kleine Anzahl einflussreicher Menschen
verantwortlich. Fühlt sich diese vergnügungssüchtige, geldorientierte Klientel
nicht wohl, ist eventuell gezwungen, sich in ihrem Lebensumfeld oder ihrem Konsumverhalten
einzuschränken, geben sie den Weg für ein neues, heimtückischeres Virus
frei. Meine Eltern sind bei der letzten Reinigung im Jahr 2080 ums Leben
gekommen. Das war der eigentliche Auslöser, warum ich in die Forschung ging.

„Das ist die stärkste Parallele zu dir Margrit. Du hast aus dem gleichen Grund mit
Medizin und Wissenschaft angefangen wie ich. Die Familie ist es wert, dass wir
kämpfen und mit unserem Wissen Gutes tun. Viele deiner Experimente und Aufzeichnungen
sind heute schon bestätigte Grundlagen, aber in mir breitet sich eine
wahnsinnige Freude aus, denn so wie es aussieht, hast du mit deinen letzten Aufschlüsselungen
der DNA des Axolotls, wirklich eine Möglichkeit entdeckt, ALS - die
amyotrophe Lateralsklerose - zu behandeln. Ein absoluter Durchbruch in der Medizin.“
Würde in diesem Jahr eine Reinigung angestrebt, hoffe ich, dass ich dieses
Virus überlebe, um deine Aufzeichnungen gänzlich aufzuschlüsseln. „Ich möchte dich
kennenlernen Margrit Stadelmann.“

Ich schlage gegen den Rahmen der Fensterscheibe und schreie. Ihr kriegt mich
nicht! Nicht jetzt! Ein paar Mal wiederhole ich das und spüre, dass sich meine Wut
langsam legt, das Gefühlschaos in mir gebändigt ist. Bevor ich mit dem Protokoll
weitermache, liegt mir am Herzen erneut die letzte Voicemail von Margrit Stadelmann
anzuhören. Ich starte die Aufnahme am Tablet und tauche ein, in die angenehme und
geschwächte Stimme dieser Frau, die wie mir im Verlaufe der vergangenen Woche
nahegekommen ist.

„Mein Name ist Margrit Stadelmann und ich hoffe, dass man mich bald in dieser
Höhle findet und meine jahrelange Forschung mit all den Aufzeichnungen in die richtigen
Hände gelangen und fortgeführt werden. Die Jahrzehnte lange Arbeit muss für
etwas gut gewesen sein. Wer meine Forschungsunterlagen entdeckt, sollte sich
darüber im Klaren sein, dass ich alles heimlich und auf eigne Faust gemacht habe.
Meine Familie und ich haben hier in einer wunderschönen Landschaft gelebt, bis
meine Mutter und mein Bruder an einem Virus schwer erkrankten. Meine Mutter starb
und mein Bruder wurde gerettet, weil sich mein Vater auf einen schlechten Handel
eingelassen hatte. Das wurde ihm erst bewusst, als es schon zu spät war.....“

Hier wurde der Redefluss durch einen kräftigen Hustenanfall unterbrochen und dann
mit leiserer Stimme fortgesetzt.

„Bei uns wurden in den Schweinen Organe für Transplantationen gezüchtet und
später hat man auf unserem Hof das Axolotl-Projekt gestartet. An den Tieren wuchsen
durch Genmanipulation und unter Einsatz verschiedener Medikamente Gliedmaßen
für Menschen. Es gelang den Forschern mit veränderten Zellen von Menschen,
amputierte Arme, Beine, Hände und ander Gliedmaßen auf den Schweinen
zu züchten. Der Anblick der Tiere glich einem bizarren surrealistischem Bild eines
Künstlers. Das Gute an dieser Maßnahme war, dass verunfallte Menschen davon
profitierten. Diese geradezu fantastische Errungenschaft führte allerdings zum Kollaps
der Region. Mein Vater verstarb, mein Bruder konnte mit seiner Familie aus dem
Bezirk fliehen, bevor es bei ihnen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen kam. Ich
blieb, weil ich dieses Projekt zum Guten wenden wollte. Irgendwie fühlte ich mich
dazu verpflichtet, denn das Geld aus dem Forschungsprojekt, welches meinem Vater
gezahlt wurde, hatte mir mein Medizinstudium und den Weg in die Forschung ermöglicht.
Erst war es wohl so etwas wie ein schlechtes Gewissen bei mir, später war es
eine Form von Sucht, dass ich mir dieses Labor in den Höhlen eingerichtet hatte. Ich
versuchte, den Spagat von Erhaltung der Biodiversität und Forschung, damit dieses
Land wieder hergestellt werden könnte. Auf meinen heimlichen Touren sammelte ich
Pflanzen und Insekten, nahm Kadaver mit, untersuchte alles, was mir in die Finger
und unter das Mikroskop kam. Am Ende habe ich eine Entdeckung gemacht, von der
ich nicht weiss, ob sich bestätigen wird, was ich glaube. Nur eines kann ich mit
Sicherheit sagen, meine Umkehrtheorie der Axolotl-DNA hat bei meinen Versuchstieren
erste Erfolge gezeigt. Kriechtiere und Mäuse, die in der Motorik stark eingeschränkt
waren, haben durch eine Injektion meines Filtrats ins Rückenmark neue
Nervenstränge aufgebaut. Dieses führte zum Aufbau von Muskeln und damit zu verbesserten
Bewegungsabläufen. Ich bin fast sicher, dass ich damit Menschen mit Multipler
Sklerose helfen könnte. Leider habe ich mir bei all den Streifzügen durch unseren
Landstrich zu viel zugemutet und die Chemikalien über die Atmung und die Haut
aufgenommen. Seit gut drei Wochen merke ich, dass meine Kräfte schwinden. Letzte
Woche habe ich heimlich noch einmal meine Vorräte aufgestockt, aber der Gang
durch die verschiedenen Zonen war beschwerlich. Mir scheint meine Lunge und
mein Herz sind in Mitleidenschaft gezogen worden, aber das interessiert mich nicht
mehr. Ich habe mein Leben gelebt und mich mit dem beschäftigt, was ich am besten
kann. Es ist traurig, dass ich meinen schnellen Verfall nicht einkalkuliert habe, sonst
hätte ich meine Forschungsergebnisse noch mit jemandem geteilt. Nun bleibt mir
einfach die Hoffnung, dass man mich schnell findet. Da ich alle Anzeichen meiner
Schwäche verleugnet habe, spüre ich jetzt, dass ich meinen Tod nicht mehr
abwenden kann.“

Erneut wird die Aufnahme durch einen schweren Hustenanfall unterbrochen, deshalb
stoppe ich die Aufzeichnung von Margrit Stadelmann. Was folgt, ist mir zu Genüge
bekannt. Ein paar persönliche Wünsche, nochmals chemische Formeln und Überlegungen.
Insgesamt haben wir rund 50 Stunden Tonaufnahmen und unendlich viele
handschriftliche Notizen sowie Computeraufzeichnungen von ihr gefunden. Sie hat
45 Jahre Mutterseelen alleine in dem Sperrbezirk geforscht. Nicht weit vom Eingang
der Höhle entfernt haben wir ein Versuchsfeld für Pflanzen entdeckt. Mit Hilfe verschiedener
botanischer Lexika aus der Vergangenheit vermochten wir die Gewächse
zuzuordnen. Die Meisten stehen auf der Roten Liste von Kräutern, Blumen und
Sträuchern, die nicht mehr existieren. Die klimatischen Veränderungen haben zu
ihrer Vernichtung geführt, da diese Arten nicht robust und anpassungsfähig genug
waren. Seit meiner Kindheit kenne ich nur noch wenig Grünflächen und so ein Feld
voller Pflanzen und die intensiven Gerüche hatte ich bisher nie sehen oder riechen
dürfen.

Ich habe keine Ahnung, wie es ist in einen Apfel zu beißen, kenne keine Getreide
und Gemüse vom Feld oder Fleisch von einem Tier. Unsere Lebensmittel kommen
aus dem Labor. Der Anblick dieses Versuchsfelds und der wilden Natur ringsherum
hat mich fasziniert, gedanklich entführt.

Herrje, ständig schweife ich ab, sollte mich endlich konzentrieren. Ich reibe mir über
die Augen und atme tief ein, dann starte ich erneut die Aufzeichnung, um mein Protokoll
weiterzuführen.

„Ayla Bailie und Samir Jarvis entnahmen in der Höhe zwischen Sektor 3 und 5 verschiedenen
Bodenproben und gruben einige Knochen der Kühe aus, um dem
Geheimnis der Moorleichen auf die Spur zu kommen. Wir kennen im Grunde
genommen zwar die Todesursache und doch gibt es Ungereimtheiten zur Todeszeit.
Die Altersbestimmung mit der Radiokarbonmethode passte nicht zu den alten Akten
der Polizei. Wie konnte es sein, dass diese alte Methode der Wissenschaft, hier
anscheinend nicht zu den richtigen Ergebnissen kam? Es war unmöglich, dass die
Moorleichen und die Kühe so lange dort gelegen hatten, wie es nach der Bestimmung
der Fall gewesen sein sollte. Die Landschaft wäre zum errechneten Zeitpunkt
noch intakt gewesen. Folglich müssen die Tiere und Menschen später verendet
sein.“

Klick – erneut stoppe ich die Aufnahme – unterbreche das Protokoll.

„Herr Gott bin ich dumm“, bricht es aus mir heraus und werfe meine Arme in die
Höhe. Das Tagebuch. Hier auf dem Schreibtisch muss es doch liegen. Ich wühle
mich durch einen Haufen loser Papier und finde, wonach ich gesucht habe. Hastig
schlage ich es auf und fange an zu blättern. Irgendwo im zweiten Drittel steht es. Da
habe ich etwas von Priska und Ueli gelesen. Zwei Menschen, die Margrit manchmal
beim Transport von Lebensmitteln und medizinischem Gerät geholfen haben. Alte
Nachbarn oder Forschungskollegen. Grrrr, ich finde verflixt nochmal die Seite nicht
und werfe das Buch zurück auf den Tisch. Unsere beiden Leichen sind ein Mann und
eine Frau. Die zwei Toten sind mit Sicherheit das Paar, welches mit Margrit bekannt
war? Natürlich ist das so. Ich nehme das Tagebuch erneut auf und stecke es in die
Tasche. Gleich werde ich es zu Ayla bringen, damit es ihr möglich ist, die Moorleichen
mit der aufgezeichneten Geschichte von Margrit zu vergleichen.

Jetzt sollte ich mit dem Protokoll fortfahren, einfach die Aufnahmetaste drücken und
los. Aber es gelingt mir nicht, mich auf diese Arbeit zu fokussieren. Darum schnappe
ich mir die Tasche, schlüpfe in die Schuhe und verlasse das Büro. Auf dem kürzesten
Weg durchlaufe ich die Gänge der ETH8024 zu unserer Forschungsabteilung und
stürze ins Labor. Ayla und alle anderen sind da. Schnell gebe ich das Tagebuch ab
und erkläre den Kollegen meine Überlegungen, bevor ich Kayson zu einem Kaffee
überrede. Mir war nicht nur das mit den beiden Moorleichen eingefallen, sondern
auch, dass wir dem Versuchsfeld nicht die richtige Beachtung geschenkt hatten. Ich
war mir zu einhundert Prozent sicher, dass wir unbedingt dorthin zurückfahren
müssen, und zwar jetzt sofort. Kayson versteht kein einziges Wort, obwohl ich
pausenlos auf ihn einrede. Wir sind so dumm! Margrit Stadelmann hatte nicht nur ein
Heilmittel gegen ALS gefunden, sondern ein ähnliches oder dasselbe Substrat auf
ihrem Feld ausprobiert. Das ist die Erklärung für die Blumen, Kräuter und anderen
Gewächse. Ihre Erfindung lässt nicht nur Nervenstränge sowie Muskeln bei Tieren
wachsen, es fördert selbst Wurzeln und die Photosynthese bei pflanzlichen Organismen.
Kayson fährt so dicht wie möglich, mit dem Auto ans Feld heran. Er hat noch
nicht ganz eingeparkt, da springe ich aus dem Fahrzeug und sprinte los. Für eine
Beweislage braucht es nur etwas Erde von da oben und zwei drei verschiedene
Pflanzenteile, damit ich heute meine Theorie belegen kann. Die Pflanzen auf dem
Feld sind auf keineswegs kontaminiert, die Gewächse auf den alten Wegen aber
schon. Insekten sind schlaue Tiere, vermeiden die für sie gefährlichen Sektoren.
Darum habe ich bei dem Rundflug mit der Drohne keine eingefangen. Als Kayson
mich eingeholt hat, habe ich das Wichtigste in Tüten und Röhrchen verpackt
beabsichtige, den Rückweg anzutreten, da hält er meinen Arm fest. Er legt seinen
Finger auf die Lippen und zeigt anschliessend in eine Richtung am rechten Feldrand
entlang. Erst erkenne ich nicht, was genau er mir zeigen möchte, aber dann sehe ich
das kleine, bezaubernde Tier. Auf einer gelben Blüte sitzt ein Schmetterling. Ab
sofort bin ich sicher. Margrit Stadelmann hatte unabhängig voneinander zwei wahnsinnig
grosse Entdeckungen erzielt. Das werde ich mit einigen Tests belegen. Der
Sommervogel flattert davon und wir setzen unseren Weg durch die Landschaft fort.
Verschwunden ist die Wut. Die ganze Zeit hatte ich keine Ruhe gefunden, weil mir
bewusst war, dass irgendetwas fehlte. Jetzt hatte ich alle Fäden miteinander verknüpft.
Mein Kollege und ich sammeln rund um die Höhle, das Feld und um wirklich
Gewissheit zu haben im weiteren Umland Proben ein. Am Ende von Sektor sieben
stoßen wir auf eine Dornenhecke, die sich undurchdringbar vor uns aufbaut. An ihr
hängen dunkle Fruchtansätze und mein tragbarer Taschenindikator identifiziert sie
als Brombeeren. Essbare Früchte. Wir sind uns nicht sicher, ob wir es wagen sollen,
diese Dinger zu probieren. Da sich allerdings sowohl Insekten als auch kleine Vögel
in und auf dem Dickicht aufhalten, geben wir uns einen Ruck und pflücken eine
dieser dunklen fast schwarzen Beeren ab. Sie schmeckt wunderbar, süß, aromatisch,
aber auch etwas säuerlich. Da uns der Weg durch die Hecke versperrt ist, starten wir
die Drohne, die ich im Rucksack stets dabei habe. Es zeigt sich, dass sich nachfolgend
weiterhin eine dichte grüne Umgebung abzeichnet. Dieses urwüchsige Gefilde
ist gewaltig. Wir kehren zum Fahrzeug zurück und in mir frohlockt es. Vielleicht
schaffen wir es uns ein wenig von dieser alten Landschaft in die heutige Zeit zurückzuholen.
Mit den Aufzeichnungen und unseren Möglichkeiten, wird der Realisierung
hoffentlich nichts im Wege stehen.

Zufrieden schlafe ich auf dem Beifahrersitz ein, träume von den imposanten Grüntönen
der Natur, während mein Kollege durch die eher karge braungraue Alltagslandschaft nach Hause fährt.