Von St. Moritz nach Zermatt, vom Oberengadin ins Oberwallis, führt eine der spektakulärsten Bahnrouten der Alpen:

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Der Glacier-Express verkehr von St. Moritz bis Zermatt. (Bild: topphoto)

Die derben Jugoslawenwitze im Nebenabteil nehmen eine zunehmend rassistische Note an. Das kümmert die Oberkellnerin, eine Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien, nicht weiter. Vielleicht hat ihre Nachsichtigkeit auch damit zu tun, dass die Runde mit Kleingewerblern aus der Ostschweiz und ihren Ehefrauen schon ausgiebig aus der Getränkekarte, die einige vorzügliche Weine offeriert, bestellt haben. Jetzt sind die Schnäpse an der Reihe, und damit eine Spezialität des Bedienungspersonals. Draussen zieht gerade das Obergoms vorbei, es schunkelt und rüttelt, drinnen schickt sich die Oberkellnerin an, aus luftiger Höhe, es mögen etwa 30 Zentimeter sein, den Williams-Schnaps ins Glas zu befördern. Die dummen Sprüche, „im Prospekt steht 40 Zentimeter“, nimmt sie gelassen hin, füllt souverän ein Glas ums andere, und erklärt schliesslich auch noch den Trick dahinter. Es sei nicht die ruhige Hand, sondern die Fähigkeit, das Tablett, auf dem die leeren Schnapsggläser stehen, mit dem Strahl der edlen Flüssigkeit mitzuführen.
Eine chinesische Dame kümmert das kleine Spektakel nicht weiter. Ihr Kopf liegt dumpf auf dem Tisch, sie ist im Tiefschlaf. Vielleicht der Jet-Lag? Knapp sechs Stunden ist der Glacier-Express nun schon unterwegs, seit er um 09.04 Uhr morgens in St. Moritz in Engadin aufgebrochen ist. Noch weitere rund zwei Stunden stehen bevor, bis um 16.50 Uhr das Ziel, Zermatt im Wallis, erreicht ist. Der selbst verliehene Titel „langsamster Schnellzug der Welt“ ist also durchaus zutreffend. Da darf man, die so souveräne Oberkellnerin weiss das am besten, nicht mehr allzu hohe Ansprüche stellen. Irgendwann wird auch das spektakulärste Panorama – der Zug steigt gerade mit Zahnrad-Verstärkung durch einen wunderbaren Lärchenwald hinunter nach Fiesch – zur Gewohnheit, rücken andere Dinge in den Vordergrund: für die einen der Alkohol und der heimliche Schweizer Nationalsport, das Kartenspiel Jassen, für die andern der Schlaf, für die Mehrheit das Buch oder das Gespräch. Der Glacier-Express, der erstmals 1931 rollte, verlangt von seinen Gästen einiges an Sitzleder ab. Fast acht Stunden dauert die 291 Kilometer lange Reise. Der Zug nimmt nicht die Direttissima, durchquert kaum Tunnels, dafür gibt es umso mehr spektakuläre Viadukte, und manchmal muss er weit ausholen, um eine besonders tiefe Schlucht bis an deren Ursprung zu umfahren.
Die Strecken sind noch weit älter als der Glacier-Express. Sie sind alle um die Wende zum 20. Jahrhundert entstanden, der Blütezeit des Eisenbahnbaus in der Schweiz. Damals waren schon Reisegeschwindigkeiten von 30 km/h ein riesiger Fortschritt. Ohne Eisenbahn wäre an ein Aufkommen des Wintertourismus gar nicht zu denken gewesen. Viel schneller fahren die Züge in den Alpen auch heute nicht, und längst hat die Strasse der Schiene den Rang abgelaufen. Doch hartnäckig halten die Schweizer Bahnbetreiber selbst an Nebenstrecken fest –im Bewusstsein, damit touristische Perlen in der Hand zu halten. Der Glacier-Express ist der berühmteste von verschiedenen Sonderzügen in der Schweiz, die das Reisen wieder zum Erlebnis machen. Nicht minder spektakulär ist etwa der Bernina-Express, der Chur mit Tirana im italienischen Veltlin verbindet. Kurz nach Visp, auf dem letzten Stück des Glacier-Express hinauf nach Zermatt, sind auch die abgelenkten Passagiere wieder hellwach, so spektakulär ist das Panorama, das dank teilverglastem Dach auch den Blick nach oben erlaubt, aus den Tiefen einer wilden Schlucht. Die Ankunft in Zermatt ist dagegen ein fast schon profanes Erlebnis. Der Bahnhof ist unspektakulär, und wer den Bahnhofplatz betritt, realisiert im Angesicht von Hotels und Souvenirshops: Die touristische Welt hat ihn wieder.

Der Glacier-Express verkehrt mit mehreren Kompositionen ganzjährig auf der Strecke St. Moritz – Zermatt und retour. Die Bahnwagen sind rundum erneuert, die etwas lieblose Innenausstattung kann es aber auch in der ersten Klasse noch immer nicht mit ähnlich gelagerten Luxuszügen aufnehmen. Erstklassig ist der gastronomische Service an Bord, die Speisekarte ist weit umfangreicher als üblich, das Essen von guter Qualität. Auch die ab Kopfhörer gebotenen Informationen zur Umgebung, zu Land und Leuten und Baudenkmalen sind empfehlenswert. Wer nicht die ganze Strecke fahren möchte, kann auch ohne weiteres irgendwo dazwischen zusteigen. Der Zuschlag wird aber auch dann fällig. Eine Fahrkarte St. Moritz – Zermatt kostet 152 Franken in der zweiten und 268 Franken in der ersten Klasse.
www.glacierexpress.ch