In den niederösterreichischen Tälern um den letzten Alpenberg Ötscher gedeiht ein so stiller wie genussvoller Tourismus.
Man könnte ihn für mürrisch halten, - halblange Lederhose, schlurfender Gang, Schlapphut und was sind das für Blicke unter dichten Augenbrauen? Aber da hätte man nicht gut hingeschaut – wie die blitzwachen Augen von Johann Weiss überall sind, Gäste und Praktikantinnen mit Namen begrüßen, Getränke hinstellen vor die frühen Morgenvögel, die im Frühstücksraum auftauchen, und nebenbei mir erklärt, wieso das Pielach-Tal stellen, in dem wir uns gerade befinden, auch das Dirndl-Tal genannt wird.
Ich bin in Niederösterreich, rund hundert Kilometer westlich von Wien. Da ich die Führung durch den zum Hotel Steinschalerhof gehörenden Naturgarten gestern Abend verpasst habe, muss ich heute früher aufstehen. „Ein Wildgarten“, sagt Weiss, und dass hier nichts umgegraben wird, sondern nur gemulcht, nicht nur wegen wild und natürlich, sondern wo soll man sonst die Zeit hernehmen? 40 Prozent all dessen, was im größten Hotel des Pielach-Tals auf den Tisch kommt, stammt aus dem Garten. Wie ein buntes Band aus intensiven Düften und Farben zieht er sich ums Haus, einen Weg und an einem Teich entlang, Katzen schleichen herum, dann bimmelt es und man steht vor einer Schranke. „Warten“, murmelt Weiss. Die Mariazeller Bahn, auch Himmelstreppe genannt, fährt direkt durch seinen Garten, als wolle sie jedem Gast klarmachen, dass hier im Tal noch ein Bimmelbähnchen wie vor hundert Jahren an jeder Gießkanne hält. Ich koste Kreuzblütler, Kapuzinerkresse, und vor allem Dirndln: die herb-süße feuerrote Kornel-Kirsche.
Weiss, studierter Mathematiker, hat in Wien, Moskau und München gelebt, bevor er wieder zurückkehrte ins Pielach-Tal. Seine Vision, das Dirndl zur „Marke“ des inzwischen so genannten „Dirndl-Tals“ zu machen, ging auf. Dann baute er oben an einen Hang ein Hotel mit einem der größten Tagungsräume Österreichs. Wozu? Weiss winkt ab. Diese Vision ging nicht auf.
Die Zeit drängt, die nächste Bahn ist meine. Ich will ein paar Stationen weiter zur Niederösterreichischen Landesausstellung mit dem Titel „Ötscher:Reich“. Ötscher-Reich? Die Strecke der Mariazeller Bahn, eröffnet 1907, hilft beim Verstehen. Sie ist damals so um Berge und Höfe herumgebaut worden, dass der Reisende ihn ständig zu Gesicht bekommt, den 1893 Meter hohen ebenmäßigen Kegel, dem jede Schroffheit der wilden Alpen fehlt. Er ist die letzte – oder auch, von Wien her kommend, erste - Bastion der Alpen; eine Markierung, ein Grenzstein. Die Bahn kurvt durch sanfte Hügel, über die eine Patchworkdecke aus verschiedenen Grüns gebreitet ist, durch Hecken getrennt. Weit verstreute Höfe. Hie und da gefleckte Kühe. Birnbäume: von ihnen hat das Mostviertel – in dessen alpinem Teil wir sind – den Namen. Nirgends sonst in Europa stehen so viele Birnbäume so dicht, ganze 300.000.
Erlaufklause, Wienerbruck, Puchenstuben: schräge Namen. Und ich denke über die sympathisch schrägen Typen, wie Weiss, nach, die mir in diesen Tagen begegnet sind. Individualisten. Da ist Franz Klauser, der sein Dorf mit dem lustigen Namen Puchenstuben rühmt als „einen der wenigen Orte Europas, die noch nicht unter Lichtverschmutzung zu leiden haben“. Und wenn die Lichter des Dorfes doch zu sehr stören, als dass er mit dem Teleskop „den Sternen am nächsten“ sein kann, dann darf er einen Teil der Ortsbeleuchtung ausknipsen. Auch den Bürgermeister von Puchenstuben, häufig vom Fernsehen angefragt, durfte ich kennenlernen. 2004 nahm er mehr Flüchtlinge auf als jede andere Gemeinde in Österreich: „Das war durchaus eigennützig, so mussten wir Schule und Kindergarten nicht dicht machen.“ Auch heute kommen auf 150 Einwohner 70 Flüchtlinge. „Das ist völlig in Ordnung.“
Bringt die Gegend diese sympathischen Individualisten in größerer Zahl als üblich hervor, mit gutem Humor und Eigensinn, Ideen durchzubringen? Oder ist es die Region, die ihnen Raum lässt, sich zu entfalten?
Dass es etwas Spezielles auf sich hat mit diesem „Ötscher:Reich“, davon ist Werner Bätzing, Kulturgeograph und bekanntester Alpenforscher, so überzeugt, dass er die Landesausstellung mit kuratiert hat. Zwar ist man in Niederösterreich an Landesausstellungen gewöhnt: Sie finden hier – als einzigem österreichischem Bundesland - alle zwei Jahre statt, immer mit hoher Besucherzahl. Zum ersten Mal aber wird diese nicht eine vorübergehende Erscheinung sein, sondern als ein Anschub für bleibende Veränderungen dienen. Wo, wenn nicht hier? Die Region um den Ötscher, 17 Gemeinden, knapp 30.000 Einwohner, so Bätzing, sei ein einzigartiges Modell für nachhaltige Entwicklung im Alpenraum. Um besser zu verstehen, was er meint, werde ich mir jetzt seinen Vortrag anhören, den er gleich im Rahmen einer „Nachhaltigkeitskonferenz“ auf dem Ausstellungsgelände hält. Ich steige aus und stehe in einem luftigen Holzbau, der eigentlich Bahnremise ist; das Betriebszentrum der Bahn, - aber fast als sollte das Thema Nachhaltigkeit auf den Punkt gebracht werden, hat man für ein halbes Jahr die Schienen herausgenommen und in einem Innenbau die Ausstellung installiert.
Bätzing, mit Bart und freundlichen Augen, ist seit Jahrzehnten tief im Thema. Die Alpen, so bilanziert er, finden heute fast ausschließlich in 300 touristischen Zentren statt. Alpenstädte wachsen. Spektakuläre Alpenorte wie Zermatt werden weit über ihre Kapazität hinaus entwickelt. Das Umland taugt nur noch als Zubringer, als Standort für Industriebetriebe. Ich muss nochmal an Hotelier Weiss denken, der die Rolle der Ötscher-Täler für die Stadt Wien beschrieb: „Das Land trägt die Last der Städte. Es dient als Sauerstoffreservoir, Trinkwasserspeicher, Nacherholungsgebiet, hierher kommt der Nachschub an Menschen.“ Die Dörfer und kleineren Orte sterben. In dieser dramatischen Bewegung „zwischen Entsiedelung und Verstädterung“, so Bätzing, gäbe es ganze zehn Prozent Alpenregion, in denen die Bevölkerungszahl bis ins späte 20. Jahrhundert stagniert habe: Dau gehört die Ötscher-Region. Hier habe man sich der Moderne geöffnet – aber getreu dem, was die Region vorgebe, kleinräumig und dezentral. Die Schmalspurbahn, Wasserkraft, Industrie – alles sei im kleinen Maßstab vorhanden; ohne Abhängigkeit von außen. Man habe „gebremst modernisiert“. Eine außergewöhnlich hoher Anteil der Wirtschaft sei nach wie vor Land- und Forstwirtschaft. „Das muss ja von der Region getragen werden“, sagt Bätzing im Gespräch. Ohne das hohe Engagement der Bevölkerung drohe auch den Ötscher-Tälern das gleiche Schicksal wie anderen abgelegenen Alpenregionen: Abwanderung und Verwaisung.
Ich spaziere in der Ausstellung umher – hier lebt die harte Vergangenheit der Täler auf, in der das Eisengewerbe dominierte und man unter unvorstelbaren Bedingungen das Holz aus der Höhe bis zur Donau transportierte; auf der Via Sacra nach Mariazell pilgerte und noch die letzte Borste vom geschlachteten Schwein zu verwerten wusste.
Was aber wird von der Landesausstellung bleiben, wenn die Stellwände draußen sind und die Schienen wieder liegen? Dazu muss man raus in die Natur. Wandern durch die sogenannten Ötscher-Gräben, im Naturpark Ötscher-Vormäuer, zusammen mit Kurt Farasin, dem Leiter und treibenden Kraft der Landesausstellungen. Schluchtartige Wege sind es, die der Ötscherbach gegraben hat. Wir sind ja in den Kalkalpen, hier dominiert der felsige Eindruck; Alpenblumen und Wasserfälle machen die Gegend wildromantisch. Nach drei Stunden sind wir beim Gasthaus Vorderötscher angekommen und essen Linsen mit Knödel. Zu gern würde man sich nun in einer der alten, holzduftenden Zimmer unter eine karierte Bettdecke legen. Dass es das Gasthaus noch gibt, geht auf das Konto der Landesausstellung. Die Besitzer hatten den Abbruch geplant. Farasin ergriff die Initiative, der Naturpark pachtete, baute modernen Anbau, so wurde nicht nur der Abbruch abgewendet, sondern die Wanderung behielt ihren Zielpunkt. „Was meinen wir mit Nachhaltigkeit? Impulse, die unsere Stärken verstärken und ihnen einen guten Boden geben.“ Wir kommen auf dem Rückweg an einem Gelände vorbei, wo Holzhütten im Kreis stehen, ein Sommerlager für Wandergruppen. Aber wenn die Gruppen kamen, nach Stunden des Laufens, gab es nichts, wo man sich verpflegen konnte. Also hat man eine Versorgungsstation, eine Art Kiosk aus Holz, andernorts ab- und hier wieder aufgebaut. Neben der gemütlichen Hüttenunterbringung am Vorderötscher und dem stilvolleren Steinschalerhof ist dies nun die dritte Beherbergungs-Variante der Region, die ich kennenlerne; alle eingebunden in die Initiativen der Landesausstellung. Ein stiller, zurückhaltender Tourismus; dem Alltagsleben und Alltagserwerb untergeordnet. Beim Mittagessen erzählt Kurt Farasin, dass ihn Franz Klauser gerade angerufen habe, er müsse sich unbedingt den Wecker auf 3 Uhr morgens stellen: Bis 5 könne er dann die Mondfinsternis optimal sehen. Auch seine Nachtführungen gehören zu dem, was bleiben wird von der Landesausstellung.
Der Birnenmost ist unglaublich. Duftet so intensiv nach Birne, dass man erst ein paar Sekunden schnuppert, bevor man trinkt.
Wir spazieren weiter durch die auf unspektakuläre Art schöne Landschaft; die nicht von Schnellstraßen gequerten unübersichtlichen Täler, die weit auseinandergezogenen Streusiedlungen. Wälder so dicht, dass sich 1972 sogar der erste Braunbär seit ewigen Zeiten wieder niederließ. Bei mir hat sich nach zwei Tagen das ungewohnte Gefühl eingestellt, hier eher Gast als Tourist zu sein; dass hier etwas schwer Beschreibbares bewahrt wurde, ein Raum, der Luft zum Atmen lässt, jenseits von Optimierungswahn.
Vieles könnte noch erwandert werden: der Pilgerweg nach Mariazell. Die letzte Holztriftanlage Mitteleuropas. Der letzte größere Urwald der Alpen. Lauter letzte Dinge? Immer mit der Ruhe. Jetzt stehen wir erst mal vor der Ruine eines Steinhauses. „So wird es irgendwann fast überall in den Alpen aussehen.“ Auch in den Ötscher-Tälern sank die Zahl der Agrarbetriebe in den letzten dreißig Jahren. Aber noch gibt es genug Fäden an Traditionsbetrieben und alten Strukturen, die man aufgreifen könne, so hatte es Werner Bätzing beschrieben. „Der Schlüssel für das Überleben einer Region liegt in kultureller Identität – so lange diese von innen heraus gepflegt wird, hat die Region eine Chance“.
In diesem Sinne werfe ich noch einen Blick auf den sogenannten „Dirndlkiatag“ - in unmögliches Hochdeutsch übersetzt, würde man vielleicht „Kornelkirschen-Jahrmarkt“ sagen. Hier werde viel gefestet, hatte Farasin erzählt, fast jedes Wochenende würden irgendwo Birnenmost oder Dorfheilige gefeiert. Auf dem Dorfplatz läuft man an Trachten- und Essensständen entlang, nimmt viele Familien wahr, bewundert die festlich-edle Tracht der Frauen. Auf Niederösterreichisch hieße das wohl: Dirndln, die in wunderschönen Dirndln aus Seide Dirndln verkaufen; als Likör oder Marmelade, als Mus oder in Schokolade. Entspannt geht es zu und man stellt sich vor, wieder zu kommen, und diese Topfencreme mit Dirndlmus unbedingt nochmal essen zu wollen.
Aber als ich, zurück auf dem Weg nach Wien, dem Ötscher dies Versprechen abgeben will, sehe ich nur einen Kragen aus Wolken.