Die Mönche beten hier seit ewiger Zeit. Das Hospiz auf dem Grossen Sankt Bernhard zieht im Winter bis zu 6.000 Gäste an. Die Ski-Tourengänger suchen etwas Besonderes: Stille, Einkehr und Antworten auf Lebensfragen.
Schon frühmorgens um 6 Uhr zu Silvester sieht man im Dunkeln ihre Stirnlampen aus der Ferne in der Schneelandschaft tanzen. Die Lichter stammen von den ersten Ski-Tourengängern, die frühmorgens von Bourg St-Pierre im Unterwallis gestartet sind, wo die reguläre Passtrasse endet. Ab hier geht es nur noch mit Skiern weiter. Ziel der Wintersportler: das Hospiz der Augustiner-Chorherren auf der Passhöhe auf dem Grossen Sankt Bernhard. Der Wind ist eisig. Doch auch für Tourenführer Gaetan Tornay ‚den Leiter des Verkehrsbüros für den Grossen Sankt Bernhard ‚ ist der zweistündige Aufstieg auf fast 2.500 Meter jedes Mal eine meditative Wintererfahrung. “Diese Stille, der tiefblaue Himmel, dann die ersten Sonnenstrahlen an Bergspitzen. Es ist immer wieder genial schön!”, sagt er. Dann taucht nach einer Steigung das Hospiz auf.
Auf dem Weg zum Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard (Bild: Rüttimann)
Die Mission heute: Gastfreundschaft
Die Gruppe von Gaetan Tornay parkt die Skis vor dem Hospiz, tritt hinein und wird von Chorherr Frédéric begrüsst, der geübt die eigene Teemixtur aus einer Aluminiumkanne in die Trinkschalen giesst. Ankommen, Skischuhe verstauen, auf Bänken den Tee geniessen‚ so geht das hier Tag für Tag. Vom Hospiz aus sehen die Gäste auf die mannshohe Bronzestatue des heiligen Bernhard, die auf der italienischen Seite des Passes auf einem Steinsockel thront. Kundige wissen: Bernard von Menthon liess das Hospiz vor knapp 1.000 Jahren zum Schutz für Reisende errichten, die vom Rhonetal ins Aostatal wollten. Seit die Bernhardiner-Hunde in Martigny VS stationiert sind, ist die Gastfreundschaft heute die zentrale Aufgabe der Kongregation “Söhne des heiligen Bernhard”, zu der die Chorherren Raphael Duchoud, Frédéric Gaillard, Jean-Michel Lonfat, sowie die beiden Oblatinnen Anne-Laure Gausseron und Anne-Marie Maillard zählen. Rapha√´l Duchoud sagt: “Unsere Gäste sollen hier einen offenen Geist antreffen. Das war hier schon immer so.” Das sichtbare Zeichen Gottes sei jedes menschliche Gesicht. Nach dieser Regel werde hier täglich gelebt.
Stille Tage über Neujahr
Prior José Mittaz unterhält sich an diesem Morgen mit einer Pilgergruppe aus dem französischen Belfort, die sich an langen Bänken ein Glas Wein mit dem schönen Namen “Chant des murs” genehmigen. Es wird viel gelacht. José Mittaz sagt: “Nicht nur wir schenken Gastfreundschaft, die Gäste empfangen auch sich untereinander. Sie sind gemeinsam miteinander auf dem Weg.” Die etwa 90 Personen, die sich in diesen Tagen hierher begeben, machen diesen Schritt sehr bewusst, weiss der 41-Jährige. “Sie wollen den Silvester-Lärm in den Städten hinter sich lassen und hier über Jahresende einen inneren Zwischenhalt einlegen.” Wünschen Gäste Einzelgespräche, empfängt sie José Mittaz in einem kleinen Sprechzimmer. Der junge Prior spricht hier mit Familien, die seit vielen Jahren aus Tradition zu Silvester hier sind. Mit Menschen, die sich zwischen Weihnacht und Neujahr besonders einsam fühlen und mit tiefen, ernsten Fragen kommen. Oder die von einem neuen Lebensabschnitt stehen. Wie Robert F., ein Arzt aus der Belforter Pilgergruppe. “Nach meiner Pensionierung bin ich auf der Suche nach einer neuen Lebensaufgabe. Vielleicht finde ich sie hier in der Stille”, sagt der hochgewachsene Mann, der seit über 30 Jahren mit seinen Freunden ins Hospiz reist. Rapha√´l Duchoud beobachtet: “Es erfüllt mich immer, wenn ich sehe, dass viele hier ein Stück Frieden finden.” Auch in diesem Jahr nehmen einige Gäste an den Exerzitien hier teil.
Pilgern auf der “Via Francigena”
Am nächsten Morgen sieht José Mittaz von seinem Fenster aus Touren-Skifahrer, die sich durch den Schnee Richtung Hospiz bewegen. Es sind Pilger, die auf der Via Francigena unterwegs sind. Dieser Pilgerweg, der von Canterbury nach Rom führt, geht auch über den Grossen Sankt Bernhard. Acht Etappenorte liegen in der Schweiz. Die Via Francigena, der lange eher ein Schattendasein fristete, verzeichnet merklichen Zulauf. Die Diskussionen unter den Gästen im Hospiz sind für die Chorherren stets auch ein Gradmesser über den Zustand der katholischen Kirche. “Seit der Wahl von Papst Franziskus spüren wir bis hier oben den frischen Wind in der katholischen Kirche. Pilger und Journalisten sprechen mit einer neuen Freude über katholische Themen zu uns”, sagt José Mittaz. Bezeichnenderweise drehen sich, so der Prior, derzeit viele Gespräche im Hospiz um den neuen Papst. Sein Stil inspiriert die Chorherren. José Mittaz: “Dieser Papst, der auf eine menschliche Kirche baut, ist eine starke Ermutigung für uns, weil wir hier ein spiritueller Ort sind auch für jene Besucher, die keiner Konfession angehören.”
Beten in der Abgeschiedenheit
Um 17 Uhr dunkelt es ein im Hospiz. In den karg, aber gemütlich eingerichteten Zimmern gehen die Lichter an. Durch kleine Fenster sehen die Gäste an Sterne heran, wie dies näher nicht sein könnte. Kein Silvesterkrach, kein Fluglärm, kein lautes Palaver. Nichts stört diese Stille. Als es draussen zu schneien beginnt, geniesst auch Robert F. im Hospiz die wohlige Geborgenheit. Der 73-Jährige sagt: “Es ist, als ob die Zeit still steht. Wann sonst kann man so gut über wirklich wichtige Lebensfragen nachdenken? Man vollzieht wahrlich einen Perspektivenwechsel.” Chorherr Frédéric zieht um 20.45 Uhr die Glocke mit dem abgegriffenen Hanfseil im Flur. Zeit für das Abendgebet. Chorherren und Gäste treffen sich in der Krypta. Für viele das Herzstück des Hospizes. Die Chorherren beten mit dem Prior an einer Steinmauer aus dem 11. Jahrhundert und spüren die Kraft der Zeiten. Das Abendgebet beginnt. Gedacht wird eines ereignisreichen Jahres, in dem in der katholischen Kirche nichts mehr ist, wie es war, seit Papst Franziskus im Amt ist. Der Lobgesang schwillt an. In den Bänken singen auch die freiwilligen Helfer mit, die die Chorherren in der Küche, beim Saubermachen und im Käsekeller unterstützen. So wird abschliessend nicht nur für die Alpinsportler in den Bergen gebetet, deren Schutzpatron der heilige Bernhard ist, sondern auch für die hier lebende Gemeinschaft. José Mittaz spricht nach dem Abendgebet über seine Aufgaben als Prior. Das Wohl der Gemeinschaft liegt ihm am Herzen. “Ich muss darauf achten, dass die Atmosphäre untereinander stimmt. Geht es jemandem nicht gut, spüren das alle hier sehr schnell. Genau so rasch steckt jedoch auch die Freude an.” Die kommt spätestens dann hoch, wenn anderentags erneut Pilger in Skischuhen erwartungsfroh und gut gelaunt an der Türschwelle des Hospizes stehen. Jeder, der sie übertritt, spürt: Er ist dem Himmel etwas näher, mit den Füssen aber noch immer auf festem Grund.