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Der Wolf mischt die Karten im Alpenraum neu

Der Wolf ist zurück in den Alpen. Bis auf einen winzigen Restbestand in Slowenien war er gnadenlos ausgerottet worden. Nun mischt das Raubtier die Karten neu. Wir blicken ins Taminatal, wo sich das erste Wolfsrudel in den Schweizer Alpen niedergelassen hat, in das Wolfsforschungszentrum Ernstbrunn in Niederösterreich, nach Slowenien, das mit gutem Erfolg eine pragmatische Wolfspolitik betreibt, und ins Wallis, wo der Wolf einen seit Jahrzehnten andauernden Strukturwandel nun dramatisch beschleunigt.

 

Kapitel: 

 

 

Der Wolf, ein egalitäres Wesen

Wölfe werden am Wolfsforschungszentrum im niederösterreichischen Ernstbrunn zum Gegenstand experimenteller Forschung. Die Ergebnisse zeigen die grosse Lernfähigkeit und Kooperationsbereitschaft dieser Raubtiere. Und sie lassen darauf schliessen, dass Mensch und Wolf sich in Nachbarschaft gut vertragen können.

kurt kotrschal
Kurt Kotrschal vom Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn, Niederösterreich: Der Wolf als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. (Bild: Andi Butz)

Mit einem Affenzahn schnellt Aragorn auf die Plastikdose zu, versucht, seine Nasenspitze darunter zu bohren, scheitert und rutscht hinter der Dose her, in die Ecke des fensterlosen, gekachelten Raumes, er versucht es nochmals und nochmals, bis es ihm schliesslich gelingt, sie umzudrehen. Hastig schnappt er zu und verschlingt den unter der Dose versteckten Brocken Trockenfutter. Das Spiel beginnt von vorn. Trainerin Cindy Vogt zeigt das Futter, steckt es unter dieselbe Dose, platziert eine zweite, die anders ausschaut, aber leer bleibt, daneben und stellt sich mit dem Rücken zu Aragorn. Der prächtige, neunjährige Timberwolf mit dunklem Fell wird wieder und wieder über den nackten Betonboden zischen, mehr rutschend als rennend, dabei die Beobachter in einer Ecke des Raumes kaum beachtend, höchstens, wenn dummerweise das Futterstück zu ihren Füssen zu liegen kommt. Es stört ihn nicht sonderlich. Beim Test geht es darum, etwas über die Merkfähigkeit von Aragorn herauszufinden. Schafft er fünfzig fehlerfreie Wiederholungen, wechselt die Trainerin die Dose, und eine neue Testreihe beginnt. Wölfe sind ziemlich gut in diesem Spiel, einem standardisierten Experiment, das auch mit andern Tierarten oder Menschen durchgeführt werden kann. Die Ergebnisse der Wölfe liegen recht nahe bei Kleinkindern und widerspiegeln in der Tierwelt Resultate, wie sie etwa mit Raben erzielt, von Tauben aber meilenweit verfehlt werden. Wölfe lernen etwas rascher als Hunde, unter der Voraussetzung, dass sie sich nicht fürchten. Über ein Wolfsleben betrachtet zeigt sich, ganz ähnlich wie etwa beim Menschen, eine Leistungsspitze im jungen Alter, die dann mit zunehmendem Alter etwas abfällt. 

"Durch und durch Wolf."
Aragorn ist einer von 17 Timberwölfen, die am Wolfforschungszentrum in Ernstbrunn 40 Kilometer nördlich von Wien gehalten werden. Sie leben in einer herrlichen, halboffenen, von mächtigen Eichen beherrschten Waldlandschaft, die einst fürstliches Jagdrevier gewesen war, in verschiedenen Gehegen in kleinen, handverlesenen Gruppen. Zum Menschen stehen sie in einem Nahe-Distanz-Verhältnis, das es möglicht macht, experimentelle Forschung mit ihnen zu betreiben. Sie werden mit der Flasche aufgezogen und bleiben, bis sie fünf Monate alt sind, in ständigem Kontakt zum Menschen. Danach gehen sie zurück ins Rudel. Mensch und Wolf begegnen sich in etwa so, wie es Nachbarn idealerweise tun: mit Respekt und Wohlwollen. Und sie arbeiten zusammen, meistens zu wissenschaftlichen Zwecken. Das sei nur in diesem Rahmen überhaupt möglich, sagt Kurt Kotrschal. Der Biologe hat das Zentrum 2008 zusammen mit seinen Kolleginnen Friedrike Range und Zsofia Viranyi gegründet, um neue experimentelle Wege zu gehen in der Forschung am Wolf. Bislang waren die Wildtierbiologen weitgehend auf Beobachtungen in freier Natur angewiesen. Experimente, wie sie in Ernstbrunn gemacht werden, sind unmöglich. Doch sind diese Wölfe noch als Wildtiere zu betrachten? „Natürlich. Sie sind durch und durch Wölfe, und wir machen hier keinerlei Anstalten, sie zu zähmen oder mit ihnen zu leben. Wir gewöhnen uns aneinander, mehr nicht. Ansonsten bleibt sich jeder treu“. Für die Wölfe sei der Mensch ein Partner, aber niemals Teil eines Rudels oder gar ein Rivale. „Das könnte lebensgefährlich sein. Für den Wolf ist es ein Leichtes, einen Menschen zu töten.“ Dass er dies in Ennsbrunn nicht tut, liege nicht etwa daran, dass die Wölfe das Futter vom Menschen erhalten, sondern an der fein austarierten Beziehung, die zwar vom Menschen gestaltet, vom Wolf aber akzeptiert und damit geteilt werden müsse. So folgt das Zusammenspiel zwischen Mensch und Wolf strikten Regeln: Es darf keinerlei Zwang ausgeübt werden, die Wölfe bestimmen, was sie teilen wollen und was nicht, die Trainerinnen und Trainer wechseln sich in ihren Aufgaben ab.

So ähnlich könnte das Zusammenspiel auch vor 35‘000 Jahren in Predmosti in der heutigen Slowakei gelaufen sein, als Menschen und Wölfe gemeinsam Jagd auf Mammuts machten. An den Siedlungsplätzen der Jäger finden sich haufenweise Knochen, von Menschen, Wölfen und Hunden, die damals schon seit mehreren Jahrtausenden domestiziert waren. Aus genetischen Spuren in den erhaltenen Knorpelgeweberesten lässt sich die Ernährung rekonstruieren. Danach konsumierten Wölfe und Menschen ausschliesslich Mammutfleisch, die Hunde dagegen das Fleisch von Wildpferden und Rentieren. Auch wenn ein endgültiger Beweis nicht möglich ist, so drängt sich der Schluss auf, dass Menschen und Wölfe eine Jagdgemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen bildeten. Möglicherweise wurden dabei Jungwölfe von Frauen gesäugt, um sie an den Menschen zu gewöhnen, während diese weiter in ihrem Rudel lebten. Ähnliches wird heute aus Afrika von Wildhunden berichtet. Die us-amerikanische Anthropologin Pat Shipman sieht in dieser Jagdgemeinschaft eine der entscheidenden Innovationen des Menschen, die ihm auch einen grossen Vorteil gegenüber dem Neandertaler verschaffte und zu dessen Aussterben beigetragen haben könnte. Homo sapiens sägte damit aber auch am eigenen Ast: Er rottete die Mammuts aus und musste sich nach neuen Nahrungsquellen umsehen. An diesem Raubbau an der Natur hat er bis heute nichts Wesentliches geändert.

Wir ähneln uns
„Wölfe und Menschen sind sich in vielem ähnlich“, sagt Kurt Kotrschal. „Sie sind innerhalb ihres Rudels sehr sozial, ziehen ihre Jungen gemeinsam gross, sie bilden effiziente Jagdgemeinschaften. Und sie sind ausgesprochen aggressiv im Kampf mit anderen Rudeln um die Vorherrschaft. Damit regeln sie übrigens auch ihre Populationsdichte selbst.“ Das dominante Alphamännchen, das wie ein Diktator über sein Rudel gebiete, sei eine Mär. „Die Dominanz beschränkt sich weitgehend auf die Fortpflanzung, und auch die ist nicht in Stein gemeisselt. Der ganze Rest ist Teamarbeit in einer ziemlich egalitären Gemeinschaft“. Wölfe sind dazu eher besser in der Lage als Hunde. Das zeigen Ergebnisse aus den Experimenten, die parallel mit Wölfen und Hunden durchgeführt werden. Am Wolfforschungszentrum leben auch 17 Hunde, die gleich aufgezogen werden und in Gehegen leben wie die Wölfe. In direkten Kontakt kommen sie dabei nicht. Wenn die Hunde in der Gruppe zum Gebell anheben, bleibt die Antwort der Wölfe in Form des vielstimmigen Wolfsheulen nicht aus. Nach einem exakten Plan durchgeführte Leinenversuche mit je einem Kommando für Sitz und Platz, begleitet von einer Belohnung, führten etwa zum überraschenden Ergebnis, dass Wölfe tendenziell eher besser abschneiden als Hunde – solange sie nicht dazu gezwungen werden. Sie setzen und legen sich hin, und sie zerren weniger an der Leine. Dafür seien sie weit weniger bereit, still zu halten und sitzen zu bleiben, bis es weitergeht. „Für Wölfe sind wir gewissermassen Spielkameraden. Wenn es langweilig wird, wenden sie sich interessanteren Dingen zu. Und das kann sehr schnell der Fall sein.“

Das Bild vom Wolf gehört revidiert. Sie sind weder die blutrünstigen Raubtiere, die sich im Dutzend an Schafen vergreifen, noch eignen sie sich dazu, als Projektionsfläche für jene zu dienen, die in der Natur partout das bessere Vorbild sehen wollen.  Die Wahrheit, so der derzeitige Stand des Wissens, liegt auch nicht in der Mitte. Beide Ansichten sind grundsätzlich falsch, weil sie menschliche Verhaltensweisen auf den Wolf übertragen. Eine nüchterne Betrachtung täte not: Wölfe sind Raubtiere mit der Kraft, Menschen zu töten. Wölfe haben eine natürliche Scheu vor dem Menschen, der sie interessiert, den sie aber auch fürchten. In aller Regel machen sie einen weiten Bogen um ihn. In ihrem Beuteschema spielt er praktisch keine Rolle. Harmlos sind Wölfe deshalb aber nicht. In der Überlieferung ist es immer wieder zu Attacken auf Kinder, die etwa zum Tierhüten abgestellt wurden, und Frauen gekommen. Das heutige Risiko ist allerdings verschwindend gering - ganz im Gegensatz zu Ländern der dritten Welt, von denen selbstverständlich verlangt wird, für einen umfassenden Artenschutz zu sorgen, auch wenn die Zahl der menschlichen Opfer etwa von Elefanten oder Tigern in die Hunderte geht.

Platz genug für den Wolf
Wölfe sorgen für gesunde Bestände ihrer Beutetiere, dezimieren diese zahlenmässig aber nicht. „In ganz Europa sind die Wilddichten heute so gross, dass mehr als genug Beute zur Verfügung steht“, sagt Kotschral. Der Wolf braucht nicht mehr. Wölfe regulieren ihre Bestandesdichte selbst. Wird es zu eng, scheuen sie auch davor nicht zurück, ihre Artgenossen oder gar ganze Rudel zu töten. Greift der Mensch ein, dann tut er dies vorzugweise in ähnlicher Weise. Denn: Einzelne Abschüsse werden im kommenden Jahr durch mehr Nachwuchs kompensiert. „Bei zu hoher Dichte empfiehlt es sich, ganze Rudel zu schiessen“, meint Kotschral. Davon sei man aber überall in Europa noch weit entfernt. Wölfe verhielten sich auf einer Schafweide wie der Fuchs im Hühnerstall. „Sie töten alles, was ihnen zwischen die Zähne kommt. Herdeschutzmassnahmen sind ein wirksames Mittel dagegen. Ganz ausschliessen lassen sich solche Attacken vor allem von Jungwölfen, die auf der Suche nach Anschluss oft weite Strecken zurücklegen, aber nicht.“ Es brauche deshalb finanzielle Entschädigungen für diese Risse.  
Eines ist sich Kurt Kotrschal heute gewiss. „Wir könnten mit unseren Wölfen wie unsere Vorfahren jederzeit auf die Jagd gehen. Wir wären ein perfektes Team.“ Dazu wird es nicht kommen. Aber dem Wolf gebühre wieder Platz, dort, wo es diesen Platz gebe. „Und davon gibt es in den waldreichen Ländern der Alpen mehr als genug“.

taminatal

Das hintere Taminatal: ein ideales Wolfsrevier

«Die Frage nach einem idealen Lebensraum für den Wolf erübrigt sich. Die Wölfe suchen sich selbst ihren Platz. Und hier im Taminatal haben sie ihn gefunden». Der Wildhüter Rolf Wildhaber zeigt auf ein Felsband im hinteren Taminatal. «Dort hat das Wolfspaar M30 und F07 im Jahr 2012 ein Wolfsrudel begründet.» Es war der erste Schweizer Wolfsnachwuchs seit eineinhalb Jahrhunderten. Wo genau die Stelle liegt, verschweigt Wildhaber. Aus guten Gründen. Die Wölfe sollen unter sich bleiben, und das wäre, wenn bekannt würde, wo sie ihre Jungen aufziehen, alles andere als garantiert. 30 Wölfe hat das Wolfspaar im Taminatal (und im benachbarten Calanda-Gebiet) aufgezogen, deren acht alleine im Jahr 2017. 
Von der Westflanke des Chimmispitz aus zeigt sich das in Nord-Süd-Richtung verlaufende Tal schroff, beinahe abweisend, mit steilen, unzugänglichen Felsflanken, die der namensgebende Fluss seit dem Ende der letzten Eiszeit herausgeschnitten hat. Erst oberhalb der Waldgrenze wird das Gelände bis nahe an die Gipfel etwas flacher, herausgehobelt von mächtigen Gletschern. Doch das wird das Wolfspaar nicht interessiert haben, als es hier den Bund fürs Leben schloss. Beide stammen, wie genetische Untersuchungen gezeigt haben, aus Italien. Sie sind, wie es bei Wölfen üblich ist, im jungen Erwachsenenalter (Wölfe werden erst im dritten Lebensjahr geschlechtsreif) aufgebrochen, um neue Lebensräume zu erkunden, mit der Hoffnung, ein eigenes Rudel zu begründen. Die Männchen lassen es in ihren Lehr- und Wanderjahren stets etwas schneller angehen als die Weibchen. Unabhängig vom Geschlecht sind die Überlebenschancen eher gering. In der Schweiz gelang der erste Wolfsnachweis schon im Jahr 1996, und es war klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis es zu einer ersten Rudelgründung kommt. Männiglich hatte mit dem Kanton Wallis gerechnet, wo die meisten Wölfe aus dem benachbarten Aostatal zuwandern. Doch manche Wölfe zogen weiter. Das ist nicht weiter ungewöhnlich. Junge Wölfe aus dem Rudel aus dem Taminatal (meist als «Calanda-Rudel» bezeichnet) haben sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut, bis Bayern und ins Trentino reichen ihre Spuren. Doch der Zufall wollte es, dass sich M30 und F07 im Taminatal im Sommer 2011 das erste Mal begegneten und Gefallen aneinander fanden. Es hätte auch irgendwo anders in den Schweizer Alpen sein können. Experten meinen, hier und im Jura hätte es Platz genug für 20 Wolfsrudel. Aktuell sind es mit dem Calanda-Rudel deren drei, ein weiteres im Kanton Tessin und eines im Kanton Wallis.

250 Quadratkilometer Reviergrösse
Doch was macht das Taminatal so geeignet? «Es gibt hier viel Platz, wenige Menschen und viel Wild,» erklärt Rolf Wildhaber. So einfach ist das. 250 Quadratkilometer umfasst das Revier des Rudels. Es reicht damit über die Grenzen des Taminatales hinaus. Für die sehr mobilen, leichtfüssigen Wölfe ist es ein Leichtes, diesen immensen Lebensraum zu nutzen. Relativ stationär sind sie nur in den ersten Monaten nach der Geburt der Jungen. Danach folgen sie primär ihrer Hauptbeute, den Rothirschen, die sich wiederum am vorhandenen Nahrungsangebot orientieren. Vor allem Jäger hatten befürchtet, die Hirschbestände würden dramatisch einbrechen. Doch das hält sich, wie Rolf Wildhaber beobachtet, in recht engen Grenzen. Er schätzt den durch Wölfe verursachten Bestandesverlust auf zehn Prozent. Der auf längere Sicht wesentlich deutlichere Rückgang vor allem bei der Hauptbeute der Wölfe, den Hirschen, sei auf eine veränderte Jagdpolitik im benachbarten Kanton Graubünden zurückzuführen. «Und die Hirsche reagieren natürlich auch auf den Wolf. So haben wir im weiter westlich liegenden Weisstannental etwas mehr Hirsche als vor Ankunft der Wölfe.» Die Fleischmengen, die ein Wolfsrudel fürs Überleben benötigt, haben es aber schon in sich. Eine Hochrechnung – Wölfe benötigen täglich um die vier Kilogramm Fleisch – auf das aktuell zehnköpfige Rudel ergibt einen Bedarf von rund 300 Schalenwildtieren. Im Taminatal sind das Rothirsche, Rehe, Gämsen und Steinböcke, wobei die Wölfe es vor allem auf die Hirsche abgesehen haben. Gämsen und Steinböcken vermögen sie nur begrenzt zu folgen, wenn sie sich ins felsige Gelände flüchten, und Rehe kommen nur vereinzelt vor. Die Schalenwildbestände schätzt Wildhaber im Revier des Calanda-Rudels auf über 2000 Tiere. Für den Wald in der Region, dessen Baumnachwuchs stark unter Wildverbiss leidet, tun die Wölfe Gutes, wenn sie die Wildbestände reduzieren, wie das Amt für Naturgefahren des benachbarten Kantons Graubünden festhält. In den Berggebieten schützen etwa zwei Drittel der Wälder Siedlungen und Verkehrsweg vor Steinschlag, Muren und Lawinen, in vielen Gebieten herrschten Zustände, die langfristig nicht mehr tolerierbar seien. Rund ein Fünftel der Schutzwälder haben wegen des Verbisses am Baumnachwuchs Probleme, sich zu verjüngen.


Rolf Wildhaber weiss genau Bescheid über die Wölfe im Taminatal. 

«Es war eine Freude, die Wölfe zu sehen.»
Und die Jäger? «Es war an einem schönen Wintertag. Ich hatte gerade den Fenstervorhang auf meiner Hütte im hinteren Taminatal zur Seite geschoben, als ich einen Wolf erblickte. Was für ein schönes Tier, dachte ich mir. Da kamen aus dem Wald noch drei weitere Wölfe dazu. Sie waren alle ganz aufgeregt, offensichtlich im Jagdfieber. Schliesslich stoben sie die Wiese hinunter und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Ich fühlte mich zu keinem Augenblick bedroht, im Gegenteil. Es war eine Freude, diese Wölfe zu sehen. Und doch ist es mir nicht wohl, sie so nah an menschlichen Siedlungen zu wissen. Wölfe gehören in die Wildnis. Aber nicht in ein bewohntes Tal. Hier haben sie schlicht zu wenig Platz.» Oswald Sprecher, der so von den «Calanda-Wölfen» zu schwärmen weiss und sie doch nicht in seiner Nähe haben will, ist Jäger aus Passion. In einer umgebauten Scheune präsentiert er seine Trophäensammlung mit Wild aus aller Welt. Wölfe habe er auf seinen Jagdreisen in Osteuropa und der Mongolei gesehen. «Dort haben sie im dünn besiedelten Gebiet genug Platz. Aber die Menschen wollen sie loshaben. Hier müssen wir mit ihnen leben.» Er respektiere und achte die geltenden Regeln, betont Sprecher. «Aber als Jäger fällt es schon schwer, die Wölfe als Beute-Konkurrenten zu akzeptieren.» Ihm täten die Wölfe aber auch leid. «Sie haben hier kein artgerechtes Leben.» Diese Meinung ist öfters im Taminatal zu hören. Auch Susi Blöchlinger, die mit ihrem Mann in St. Margrethenberg einen Bauernhof und das «Buure-Beizli» bewirtschaftet, sähe die Wölfe lieber im tiefen Wald eines fernen Landes. Eine Zwergziege sei am hellichten Tag von einem Wolf gerissen worden, durch das Hofgatter habe er die Geiss gezerrrt und einen Steinwurf weiter weg teilweise verzehrt. Um den Hühnerstall sei einer geschlichen, als sie diese füttern wollte, und ihr Mann habe einen Wolf mit dem Stecken verjagt. «Das geschieht alles vor unserer Haustüre. Es ist wie mit dem Fluglärm. Die, die ihn verursachen, kümmert das nicht – bis sie selbst davon betroffen sind. Es gibt hier in der Nähe eine Höhle. Da bin ich schon als Kind gerne herumgestreift. Meinen Kindern erlaube ich das nicht mehr.» Sie wünsche sich, dass zumindest jene Wölfe, die den Menschen zu nahe kommen, abgeschossen werden. Tatsächlich haben sich in diesem Sommer Wölfe häufig in den Wäldern rund um den schmucken Weiler aufgehalten. Wildhüter Rolf Wildhaber weiss genau Bescheid über den Aufenthaltsorts des Wolfsrudels – das notabene nicht immer im geschlossenen Verband unterwegs ist. Die Informationen liefern mehrere Fotofallen, dazu eigene Sichtungen und die Meldungen aus der Bevölkerung. Darunter finden sich manche Filme, die mit dem Smartphone aufgenommen werden. Eine Pilzsammlerin schreckte in einem Wald bei St. Margrethenberg einen schlafenden Wolf auf. Der habe für einige Sekunden ihren Blick fixiert und sei dann davongetrottet, hat sie Wildhüter Rolf Wildhaber berichtet. «Wirklich gefährlich war das nicht, auch der Wolf war wohl so erschrocken wie die Frau. Sie wird den Wald in Zukunft trotzdem meiden». Er habe schon einige ähnliche Begegnungen gehabt. «Die Wölfe rennen nicht einfach weg. Sie bleiben für ein paar Sekunden stehen, vielleicht einfach, um zu sehen, was passiert. Dann trollen sie sich. Deshalb ist es so einfach, ein Photo zu schiessen oder ein Video zu drehen. Man hat Zeit, und man hat nichts zu befürchten». Der Mensch sei für die Wölfe im Taminatal weder Gefahr noch potenzielle Beute. «Sie haben bislang keinerlei negative Erfahrungen mit Menschen gemacht. Für sie sind wir einfach Teil ihres Lebensraumes.» Menschen sind bislang keine zu Schaden gekommen. Ausschliessen kann Wildhüter Rolf Wildhaber dies aber nicht. Das Schreckensszenario wäre ein verletzter Wolf, dem jemand, vielleicht in der Absicht zu helfen, zu nahe kommt. «Der Wolf wird sich angegriffen fühlen. Das kann tödlich enden.» Denkbar wäre auch eine Infektion mit der Tollwut – die Schweiz gilt seit 1998 als frei von Tollwut - oder der Staupe, die in der Ostschweiz letztmals 2009 verheerend unter der Fuchspopulation gewütet hat. Das Verhalten erkrankter Tiere ist unberechenbar. 

Wolf aus dem Fenster heraus fotografiert
Auch im Dorf Vättis wird von Wolfssichtungen berichtet. Einer Frau gelang aus dem Fenster heraus eine Aufnahme des ganzen Rudels, das sich im Winter 2013 am Dorfrand im Gänsemarsch am Waldrand bewegte. Das Bild ging um die Welt. In eine Fotofalle an einer Weggabelung unweit des Dorfzentrums tappen wöchentlich ein bis zwei Wölfe – nirgends in der Schweiz wird eine so hohe Wolfdichte registriert. Sonja Sprecher, Wirtin im Hotel – Restaurant Tamina, hat einen Wolf auf dem Platz vor dem Gebäude gesehen. «Das ist nicht gerade das, was man sich wünscht. Anderseits habe ich mich auch gefreut, einen Wolf so nahe gesehen zu haben.» Die grundsätzliche Opposition gegen den Wolf, wie es sie in den ersten Jahren seines Auftauchens gegeben habe, sei heute weitgehend verstummt. «Wir haben den Wolf akzeptiert, und wir haben gelernt, mit ihm zu leben. Wir würden uns wünschen, dass auch die Medien das tun.» Vieles sei in der Berichterstattung verzerrt dargestellt, aus dem Zusammenhang gerissen oder dramatisiert worden. So will sich heute kaum jemand exponieren, die meisten winken ab. Eine Reporterin des Schweizer Fernsehens sei in ihrem Restaurant auf eine Mauer des Schweigens gestossen. «Niemand wollte mir ihr reden. Nicht, weil es nichts zu sagen gab, sondern, weil es nicht gehört werden würde.» So flackert immer mal wieder ein medialer Blitz auf, etwa, wenn ein Bauer behauptet, einige seiner Schafe seien von Wölfen gerissen worden. Die DNA-Analyse sollte Wochen später zeigen, dass es seine eigenen Hunde gewesen waren. Niemand berichtete. 

Geld gegen DNA-Nachweis
Rolf Wildhabers’s Mobiltelefon klingelt. Ein Landwirt meldet einen Wolfsriss an einem Schaf. «Haben Sie das gerissene Tief angefasst?», fragt Wildhaber. Der Mann ist sich nicht mehr ganz sicher. «Lassen sie es bitte ruhig liegen und berühren sie es vor allem am Kopf nicht, an der Stelle, an der der Wolf zugebissen hat. Mein Kollege wird sich darum kümmern und eine DNA-Probe nehmen.» Wölfe töten mit unglaublicher Kraft durch einen Biss in den Nacken oder an der Kehle. Auch grössere Tiere haben dem wenig entgegenzusetzen, ebenso Hunde und Menschen. Die Beute fressen sie in der Regel nicht auf einmal. Sie verstecken sie dabei aber nicht wie etwa der Luchs. DNA-Proben sind seit Jahren Standard, wenn grosse Beutegreifer wie Wolf, Luchs oder Bär zuschlagen. Das dient zum einen der Forschung, zum andern der Klärung der Frage, ob es tatsächlich ein Raubtier warm und, wenn ja, um welches Individuum es sich handelt. Treibt dieses es zu bunt – die Kriterien sind im Konzept «Wolf Schweiz» bis ins Detail geregelt - , darf es abgeschossen werden. Beim Calanda-Wolf wurden bisher zwei solcher befristet gültige Ausnahmebewilligungen erteilt. In beiden Fällen entkamen die Wölfe, was, je nach Standpunkt der Kritiker zum Wolf, entweder auf die viel zu eng gefassten Bedingungen oder auf mangelnden Willen der Schützen zurückzuführen gewesen sein soll. Tatsächlich wäre in einem Fall ein Abschuss nur zulässig gewesen, wenn der Wolf sich im Rudel in Dorfnähe gezeigt hätte. Damit hätte dem ganzen Rudel ein Zeichen gesetzt werden sollen, dass eine Annäherung an Siedlungsgebiete tödlich enden kann. Der betreffende junge Wolf, der sich zuvor erdreistet hatte, in einem weiten Umkreis in Ställe einzudringen, verschwand kurz darauf und ist nie wieder aufgetaucht. Die Vermutung liegt nahe, dass er gewildert wurde. Nicht auszuschliessen ist, dass andere Wölfe seinem Beispiel –der Wolf übersprang Zäune und Gatter – folgen könnten. Vor allem junge Wölfe probieren auf ihren Streifzügen einiges aus, sie lernen aber auch voneinander – und gehen dabei beträchtliche Risiken ein. Von den 22 Jungwölfen, die in den Jahren 2012 bis 2016 das Licht der Welt im Taminatal erblickt haben, leben nur noch wenige. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Und auch jene, die überlebt haben, sind nur in Ausnahmefällen zurückgekehrt. Manche leben über Jahre unbehelligt und unbeschoren in der Einsamkeit.

bruno alp zanai
Bruno Zähner, Schafbauer, auf der Alp Zanai, schützt seineTiere mit Herdenschutzhunden

Herdenschutz gutes Rezept gegen Wolf
Die Schäden an Nutz- und Haustieren haben sich im Taminatal bislang in Grenzen gehalten. Das liegt auch daran, dass man auf den Wolf vorbereitet war und sich rasch an die Umsetzung eines Schutzkonzeptes machte. Dem Beispiel anderer Länder, namentlich Frankreich, folgend, setzte man dabei auf Herdenschutzhunde, deren Haltung mit staatlichen Beiträgen gefördert wird. Auch im Zanaital, das einem wilden Seitental, das sich von Valens aus in westlicher Richtung erstreckt und in einem steilen, halbkreisförmigen Kessel endet. Noch bis in die 1970er-Jahre wurde das Rindvieh hinauf getrieben, seither weiden hier im Sommer nur noch Schafe und Ziegen. Bruno Zähner übernahm die Alp im Jahr 2013. Auf seinem Hof in Illnau-Effretikon hält er 300 Schafe, auf der Alp im Zanaital sind es deren 900 und eine Herde mit 160 Ziegen. Zwei Hirtinnen und Hirten kümmern sich um die Tiere während der Alpzeit von Anfang Juni bis Ende September. Eigentlich sind es drei Alpen: Alp Lasa, Unterzanai und Oberzanai, mit einer Gesamtfläche von 600 Hektaren. Davon ist etwa die Hälfte Weideland. Das Gelände ist an vielen Stellen steil. Nur bis zur Hütte der ersten Alp Lasa auf knapp 2100 Metern führt ein schmaler Weg, offizielle Wanderwege gibt es im ganzen Alpgebiet nicht. Der Zugang zu den beiden anderen Alpen sei nur sehr geübten Berggängerinnen und Berggängern empfohlen. Für die Wölfe sind diese steilen, weglosen Weiden natürlich keinerlei Hindernis. Ihm sei von Anfang klar gewesen, dass er seine Tiere vor Wolfsattacken schützen müsse, sagt Bruno Zähner. Nach vier Jahren zieht er eine positive Bilanz: Kein einziges Schaf und keine Ziege wurden Opfer eines Wolfes, auch wenn sich immer mal wieder einer habe blicken lassen. Sein Konzept baut, neben der Behirtung, auf nächtliches Einzäunen und auf Schutzhunde. Insgesamt sind es sieben, zwei von ihnen kümmern sich um die 250 Schafe auf der Alp Lasa. -Sie arbeiten im Team. Während einer an den Grenzen der Weide patrouilliert – und diese auch auf Hundeart markiert -, sitzt der andere mitten zwischen den Schafen auf einem Felsen, um zu beobachten. Sie sind darauf trainiert, bei Attacken von Raubtieren zu kämpfen, beim Menschen sich aber aufs Bellen und Beobachten zu beschränken. Sven Baumgartner von der Anlaufstelle Herdenschutz des Kantons St. Gallen demonstriert bei einem Selbstversuch, wie das geht. Direkt hält er auf ein paar Schafe zu und wird vom Schutzhund mit lautem Kläffen gestellt. Baumgartner geht auf die Knie, um auf Augenhöhe mit dem Tier zu sein und streckt ihm die Handfläche entgegen, um seine friedliche Absicht zu bekunden. Der Hund geht darauf ein und zeigt mit wedelndem Schwanz, dass es in Ordnung ist. Als Frauenfelder weiter geht, bleibt er aber immer in seiner Nähe, bis dieser das Revier wieder verlassen hat. Herdenschutzhunde wachsen unter Schafen auf. Sie beschützen sie instinktiv und riskieren dabei auch ihr Leben. Wildhüter Rolf Wildhaber berichtet von einem nach einer Wolfsattacke übel zugerichteten Schutzhund, der nur knapp überlebt habe. Auf der Alp Zanai geniessen die Nutztiere keinen integralen Schutz. «Dazu bräuchte ich noch ein paar Schutzhunde mehr. Das Gebiet ist einfach zu gross», sagt Zähner. Aber das Risiko nehme er aus Kostengründen in Kauf. Der Mehraufwand mit den Schutzhunden werde zwar mit Beiträgen der öffentlichen Hand teilweise abgegolten, die Kosten etwa für deren Ausbildung gingen aber auf seine Kappe. Insgesamt, sagt Zähner, ende die Alpsaison für ihn mit einer ausgeglichenen finanziellen Rechnung. Das Geld für den Lebensunterhalt verdient er in seinem Talbetrieb in Illnau-Effretikon, wo er während der viermonatigen Alpzeit kein Futter für die Schafe braucht und inzwischen auch grosse Teile des Kraftfutters selbst produziert. Dem Wolf selbst stehe er neutral gegenüber. Ein noch nicht recht gelöstes Problem sei die Haltung der Schutzhunde ausserhalb der Alpzeit. «Sie sind ja darauf trainiert, die Herde zu bewachen. Doch dann gibt es keine Gefahr, und sie sind praktisch arbeitslos. Deshalb brauche es einigen Zeitaufwand, sie zu beschäftigen». Probleme macht auch das laute Gebell der Schutzhunde auf den Winterweiden. Einmal habe er nach telefonischen Beschwerden die Hunde über Nacht aus der Herde genommen. Am nächsten Morgen habe er gerissene Schafe in der Herde gehabt. Die Übeltäter waren streunende Hunde gewesen. 
Der Herdenschutz bewähre sich insgesamt gut, sagt Sven Frauenfelder. Aktuell gebe es Wartelisten, nicht alle Herden könnten bewacht werden. Perfekt werde der Schutz aber nie sein. «Risse können wir nicht ausschliessen. Aber sie werden entschädigt, sobald ein Wolfsriss nachweisbar ist.» Ihm bereiten auch Wandererinnen und Wanderer Sorgen, die sich im Alpgebiet abseits der Wanderwege aufhalten. «Unschöne Begegnungen mit den Schutzhunden sind da nicht auszuschliessen, und nicht jeder weiss, wie er sich zu verhalten hat.» So sei es schon zu einigen Bissen gekommen. Auch das Gebell habe schon zu Klagen geführt. Doch hier beisse sich die Katze in den Schwanz. «Es ist schon so: Wer Ja sagt zum Wolf, muss schon auch Ja sagen zu Schutzmassnahmen.»

 

 

 

 

Slowenien und der Wolf: Herdenschutz und Bejagung

Noch Anfang der 1990er-Jahre waren die Bestände des dinarischen Wolfes in Slowenien auf einen kümmerlichen Rest reduziert. Inzwischen siedeln vor allem im Süden des Landes wieder 14 Rudel. Dank eines effektiven Herdenschutzes halten sich die Schäden an Nutztieren in sehr engen Grenzen. Doch es darf auch gejagt werden.

 
Erstkontakt mit seiner neuen Familie, den Schafen: Zwei Wochen alt ist der Herdenschutzhundwelpe des bosnischen Rasse Tornjak. Die Neugier ist gegenseitig.

Schnuppernd begrüssen die Lämmer den kleinen Hund der bosnischen Rasse Tornjak. Er ist zwei Wochen alt, pummelig wie ein Meerschweinchen. Jetzt schliesst er, noch ganz wacklig auf seinen Beinen, erste Bekanntschaft mit den Tieren, für die er, wenn er zum kräftigen Herdenschutzhund herangewachsen ist, schon bald sein Leben riskieren und es mit Wölfen aufnehmen wird. Ein Lämmchen macht sich einen Spass daraus, ihn etwas gar kräftig anzustupsen. Er fällt hin, rappelt sich wieder auf, fällt wieder hin, bis Aleš Sedmak das voreilige Jungschaf wegschupst. Nun kann das Hündchen chnuppernd nach einer Zitze am Bauch eines der Lämmer suchen. 
Die jungen Schafe sind im Stall von den erwachsenen Tieren getrennt untergebracht. Sedmak, in seinem Hauptberuf Ingenieur für die Entwicklung von Solaranlagen, hält zusammen mit seinem Bruder nebenberuflich eine 150-köpfige Schafherde und eine kleine Schar Ziegen. Sie haben sie von ihrem Vater übernommen. Schon der Grossvater war Schafhalter gewesen. Der Hof liegt am Rande des Dorfes Juršče in der Gemeinde Pivka (St. Peter in Krain) in der Region Primorska (Küstenland-Innerkrain) im Südwesten Sloweniens. Triest ist nur eine knappe Autostunde entfernt. Das waldreiche, karstige Hügelland am nördlichen Rand der dinarischen Alpen ist dünn besiedelt. Die Böden erlauben kaum mehr als eine Weidewirtschaft. Die Landwirtschaft ist in jüngerer Zeit zunehmend extensiviert worden, manche Herden sind ganzjährig auf der Weide, etwas Schutz finden sie in offenen Unterständen. Manche Bauern haben auf die Mutterkuhhaltung umgestellt, die Mehrheit bleibt bei Schafen oder Ziegen.


Ales Sedmak: Dank Herdenschutzhunden keine Angst vor dem Wolf.


Bosnische Tornjak-Hunde haben den Herdenschutz in ihren Genen.

«Bären hat es hier schon immer gegeben», sagt Sedmak. «Wer in den Wald geht, muss immer damit rechnen, einem Bären zu begegnen. Bär und Mensch kommen damit gut zurecht. Auch unsere Schafe haben kaum etwas zu befürchten». Mit den Wölfen, die sich seit einigen Jahren stark ausbreiteten, sei das anders. «Es ist in den vergangenen Jahren zu einigen Attacken auf Schafherden gekommen, Dutzende Schafe sind gerissen worden.» Sedmak entschied sich zum Schutz vor den Wölfen für Herdenschutzhunde. In Bosnien kaufte er ein zweijähriges Tornjak-Weibchen. Seither züchtet er die Hunde selbst, die Welpen verkauft er im Alter von acht Wochen an andere Schafhalter. «Diese Hunderasse wird in Bosnien seit Jahrhunderten von Schafhaltern gezüchtet. Tornjak-Hunde braucht man nicht gross auf ihre Aufgabe, Schafe zu beschützen, vorzubereiten. Sie haben es in ihrem Blut.» Entscheidend sei dabei das Alter von zwei bis acht Wochen. Dann gelte es, die jungen Hunde an die Schafe zu gewöhnen. «Wir bringen sie in dieser Zeit nur mit den Lämmern zusammen. Wie in einem Kindergarten. Wir beobachten sie intensiv und greifen ein, wenn die Hunde zu weit gehen. Beisst einer, und sei es nur im Spiel, in die Kehle eines Schafes oder ins Ohr, wird er für einige Tage aus der Herde entfernt.» Es brauche rund ein Jahr, bis man sich ganz sicher sein könne, dass den Hunden nicht ihr Jagdtrieb durchgeht. Die drei erwachsenen Herdenschutzhunde, die Tag und Nacht mit den Schafen verbringen, zeigen, wie es geht: Schnuppern, lecken, den Kopf zwischen die eng beieinander stehenden Schafe stecken oder auch nur in einer Ecke des Stalles dösen. Aber sie müssen auch allzeit bereit sein. Er habe viel Respekt vor den Wölfen, sagt Aleš Sedmak. «Sie sind wunderbare Tiere, und sie sind schlau». Ein Wolfsrudel habe eine Schafherde, die täglich auf eine von elektrischen Zäunen geschützte Weide getrieben wurde, lange beobachtet, bis sie den schwachen Punkt gefunden hätten: Die paar Minuten am frühen Morgen, wenn die Stalltüren geöffnet werden und die ersten Schafe ins Freie springen. «Dann schlugen sie in diesem unbewachten Moment zu. Mit den Herdenschutzhunden wäre das nicht passiert. Aber es braucht mindestens drei, die sich in ihren Aufgaben ergänzen». Deshalb sorge er sich nicht mehr um seine Schafe. Auch auf elektrische Schutzzäune könne er verzichten. «Auf meine Hunde ist Verlass.» Nicht so recht läuft der Verkauf der Zuchthunde. 600 Euro verrechnet Sedmak, einen Drittel der Kosten übernimmt der Staat. Dennoch sie die Nachfrage bescheiden. «Viele Tierhalter arbeiten im Nebenerwerb. Den Aufwand der Hundehaltung wollen sie sich nicht antun.»

 

Dokumentarfilm unbekannten Datums aus dem ehemaligen Jugoslawien: Wölfe attackieren Schafe, Herdenschutzhunde verteidigen sie - mit tödlichen Folgen für den Wolf.


Blick in die karstige Hügellandschaft im Südwesten Sloweniens. Die Wölfe sind zurückgekehrt.

Am Fusse der Kapelle Sveti Marija bei Preserje, 20 Kilometer südwestlich der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, öffnet Janez Kržič das Stalltor. Eine 60köpfige Herde slowenischer Alpenziegen trippelt fröhlich auf die Weide, unter ihnen der Herdenschutzhund Kala. Er hat die ersten Wochen seines Lebens auf dem Hof von Aleš Sedmak verbracht, jetzt ist er erwachsen und bereit für höhere Aufgaben. Der Boarder-Collie Lira sorgt dafür, dass die Herde zusammen bleibt und sich dorthin bewegt, wo es Janez Kržič, der mit ruhiger Stimme kurze Kommandos gibt, wünscht. Zwischen Ziegen und Hunden tollen Kržič’s Kinder herum, der kleinste ist zweieinhalb, der grösste neun Jahr alt. Sie sind selbst Teil dieser Herde, Mensch und Tier bilden eine einzige grosse Familie. Dieses biblische Bild wird perfekt, als Kržič’s Frau Mirjam dazustösst, das sechs Monate alte fünfte Kind im Tragetuch. Sie bringt ihre Haltung zum Leben auf den Punkt: «Wir möchten mit Menschen und Tieren gut auskommen. Das gilt auch für die Wölfe».


Familie Kržič mit Herdenschutzhund, Treibhund, Ziegen und Schafen: ein biblisches Bild.

Kein Mensch hatte sich mehr für die abschüssigen Weiden an den Hängen der steilen Hügel interessiert. Sie wurden einst von Kartausermönchen des Klosters Bistra bei Vrhnika bewirtschaftet, bis der den Idealen der Aufklärung verpflichtete österreichische Kaiser Joseph II. 1782 dessen Aufhebung erzwang. Noch bis in die 1990er-Jahre lebte ein Priester im Pfarrhaus bei der Kirche Sveti Marija, danach vergandeten die Weiden, die Ställe und das Wohnhaus zerfielen. Auch auf den anderen sechs Kirchenhügeln breitete sich Wald aus. Weiter südlich erstrecken sich in einer allmählich gebirgiger werdenden Landschaft die Wälder des verkarsteten dinarischen Gebirges. Sie bilden über 600 Kilometer bis ins nördliche Albanien eine der grössten zusammenhängenden Waldflächen Europas. Es ist die Heimat der mehrtausendköpfigen dinarischen Wolfspopulation. Diesem grossen Bestand ist es zu verdanken, dass die Wölfe in Slowenien nie ganz verschwunden sind, auch wenn sie noch bis in die 1970er-Jahre auf staatliches Geheiss und mit Abschussprämien bejagt wurden. 1973 wurde die Jagd in den staatlichen Jagdrevieren auf etwa einem Fünftel der Fläche eingestellt, seit 1993 dürfen Wölfe nur noch im Rahmen staatlich festgelegter Quoten gejagt werden.


Blick in die Hügellandschaft Preserjes: Hier leben ein zehnköpfiges Wolfsrudel und sechs Bären.


Der Kirchenhügel Sveta Ana in der Gemeinde Preserje wird heute wieder beweidet. Im Hintergrund rechts die slowenische Hauptstadt Ljubljana.

In der Hügellandschaft Preserjes lebt ein zehnköpfiges Wolfsrudel, dazu kommen sechs Bären. Ohne Schutzmassnahmen gäbe es für die Ziegen und Schafe der Familie Kržič wenig zu lachen. Die Wölfe wären längst auf den Geschmack gekommen und würden sich regelmässig ihre Beute holen. Mirjam und Janez Eltern sind Quereinsteiger, Janez kam als Spezialist für automatisierte Glockengeläute viel herum, seine Frau ist Graphikerin. Als ihnen bei ihrer Hochzeit vor zehn Jahren ein Schaf und ein Huhn geschenkt wurde, kamen sie allmählich auf den Geschmack, hielten hobbyhalber ein paar Nutztiere, entdeckten das verlassene Pfarrhaus, erwirkten einen Miet- und Pachtvertrag und begannen, nachdem sie ein Jahr als Selbstversorger gelebt hatten, schliesslich ein neues Leben als Schaf- und Ziegenhalter. Es läuft auch wirtschaftlich gut, eben sind sie dabei, in einem verlassenen Wirtschaftsgebäude eine Käserei einzubauen und den Tierbestand weiter zu erhöhen. Die Tiere halten sie extensiv, sie werden ausschliesslich vom Gras und Heu ernährt, das auf den 30 Hektaren Weideland wächst. «Diese Rechnung geht auf, denn wir haben keine Ausgaben für Kraftfutter, die Tiere sind gesund und brauchen kaum je einen Tierarzt», erklärt Janez Kržič. Die Herde schützen sie mit 500 Meter langen, 1,7 Meter hohen elektrisch geladenen Weidezäunen, die vom slowenischen Forstdienst zur Verfügung gestellt werden. Dazu kommt der Herdenschutzhund, der schon bald Verstärkung erhalten soll. Das klappe sehr gut, der Arbeitsaufwand sei aber nicht zu unterschätzen. Einen Arbeitstag veranschlagt Kržič für das Aufstellen eines 500 Meter langen Zaunes. Er darf sich keine Fehler erlauben, der in einem Kreis aufgestellte Zaun muss am Boden gut fixiert sein. Diese geschützte Weide lasse sich dann eine Woche lang abgrasen. Und so zieht Kržič mit seiner Herde von Kirchenhügel zu Kirchenhügel, gemolken werden die Tiere mit einer mobilen Melkstation auf der Weide, nur in den Wintermonaten sind sie ab November bis April im Stall. Es ist ein intensives, arbeitsreiches Leben. Wolf und Bär haben der Familie Kržič bisher ihren Respekt gezollt und von Angriffen abgesehen.

Keinen Respekt zeigte in einem wesentlich dichter von Wölfen und Bären besiedelten Gebiet ein Wolfsrudel vor den Milchkühen von Marko Kocjančič. «Sie haben am hellichten Tag unsere Herde in nördlicher Richtung getrieben, drei zweijährige, hochträchtige Kühe von der Herde abgetrennt und über 19 Kilometer gehetzt, bis sie so erschöpft waren, dass sie zu einer leichten Beute wurden. Später schlugen sie nochmals zu und holten zwei weitere Kühe». Für seinen finanziellen Schaden ist der Biobauer, der den 156 Hektar grossen Hof mit 86 Milchkühen und 120 Jungtieren zusammen mit seinen zwei Söhnen bewirtschaftet und jährlich knapp 400'000 Kilo Milch selbst zu Joghurt, Frischmilch und Käse verarbeitet, entschädigt worden, auch wenn, wie er betont, «der tatsächliche Schaden grösser war. Die Kühe standen ja kurz vor dem Abkalben.» Damit könne er noch leben. «Aber die Ursache dieses Übels, das Wolfsrudel, streift nach wie vor durch die Gegend, ohne dass etwas unternommen wird.» Kocjančič sieht nur eine Lösung: den Abschuss. Man habe den Wölfen durch eine übermässige Bejagung des Wildes ihre Nahrungsgrundlage entzogen. «Irgend etwas müssen sie ja fressen. Die Zeche dieser falschen Politik bezahlen wir Bauern.»


Marko Kocjančič: "Die Wölfe reissen unser Vieh, weil zu viel Wild geschossen wird."

Beim slowenischen Jagdverband zeigt man sich auch unzufrieden mit den geltenden Abschussquoten insbesondere für Rothirsche. Einerseits gelte es, Verbissschäden zu verhindern, während an die Raubtiere zuwenig gedacht werde. Konflikte mit der Landwirtschaft seien vorprogrammiert, heisst es auf Anfrage. Rund 21’000 Jägerinnen und Jäger zählt das Land mit seinen zwei Millionen Einwohnern, eine im europäischen Vergleich durchschnittliche Zahl. Für den Jägerverband sind Wölfe und Bären Teil des natürlichen Ökosystems, und auch wenn die Raubtiere in direkter Konkurrenz um die Beute stünden, so stehe deren Schutz und Erhalt für die Jäger seit Jahrzehnten ausser Frage. Die Jagd ist schwierig, es ist nicht einfach, die Vorgaben, wonach vor allem Jungtiere geschossen werden sollen, zu erfüllen. Denn Alphatiere und Jungtiere lassen sich nicht unterschieden. Erwischt es ein Alphatier, löst sich das Rudel auf. Die Folgen sind kontraproduktiv. Aus Rudelwölfen werden Streuner, die wesentlich grössere Schäden anrichten können. Die Abschussquoten werden von der Regierung festgelegt. Die wichtigen Interessensgruppen, Landwirte, Umweltorganisationen und Jäger, Wissenschaftlerinnen und Fachleute aus den Ministerien äussern sich dabei in einen konsultativen Verfahren zu den Vorschlägen aus dem Umweltministerium. Die Bandbreite ist gross. Während die Umweltverbände dafür plädieren, nur als problematisch eingestufte Raubtiere abzuschiessen, setzen sich die Bauern für deutlich höhere Quoten ein. Die zehn Wölfe, die 2018 geschossen werden dürfen – prinzipiell von jedem lizenzierten Jäger – liegen in etwa in der Mitte dieser Forderungen.


Eine Wolfsspur im Schlick eines Flusses (Bild: zVg)


Ein von Wölfen gerissenes Schaf (Bild: zVg)

Wie Wölfe jagen - und Herdenschutzhunde sie bekämpfen: Ein jugoslawischer Film unbekannten Datums.

Andrej Andoljšek von der slowenischen Landwirtschaftskammer hätte die Quote bei 15 Wölfen gesehen. Mit der nun beschlossenen Zahl könne er leben. Ihm gehe es um höhere Entschädigungen für die entstandenen Schäden. Das geltende Regime, wonach für gerissene Tiere der Schlachtwert vergütet werde, Ausnahmen, wie im Fall eines von Wölfen getöteten Rennpferdes, aber möglich seien, sei soweit in Ordnung. «Doch alle indirekten Schäden und ein grosser Teil des zusätzlichen Aufwandes für den Wolfsschutz bleiben unberücksichtigt. Die Bauern sind nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Sie verlangen, dass sämtliche Schaden vom Staat gedeckt sind. Er ist es schliesslich auch, der die Wölfe als so wichtig erachtet, dass die Landwirte Schäden davon tragen.» Sehr realistisch ist diese Forderung nicht, denn längst sind Wölfe und Bären in der Mitte der slowenischen Gesellschaft angekommen. Die auf Wildtiere spezialisierte Tierärztin Aleksandra Majič Skrbinšek von der Universität Ljubljana hat sich im Rahmen ihrer Forschung intensiv mit der Haltung der slowenischen Bevölkerung zu den grossen Raubtieren im Land beschäftigt. Das Ergebnis ist unmissverständlich: Sowohl in den Städten als auch auf dem Land sind Wölfe und Bären von einer breiten Mehrheit akzeptiert, Zweifel oder Ablehnung kommen vor allem aus der Landwirtschaft, etwas weniger von Jägerinnen und Jägern. Auch aus diesem Grund legen die landwirtschaftlichen Verbände ihren Schwerpunkt auf höhere Entschädigungen. Sie engagieren sich aber zum Leidwesen des Forstingenieurs Rok Černe, beim slowenischen Forstdienst zuständig für Grossraubtiere, weit weniger für die Aufklärungs- und Beratungsarbeit. «Wir hatten gehofft, dass wir diese Arbeit nach und nach in die Hände der Fachverbände legen könnten. Doch dafür ist es noch zu früh.» Dabei, so Černe, «haben wir von 2010 bis 2013 im Rahmen eines EU-Projektes herausgefunden, dass es sehr wirksame Massnahmen gibt, um Schäden an Nutztieren durch Wölfe oder Bären um bis zu 90 Prozent zu reduzieren: 1,7 Meter hohe, elektrisch geladene, mobile Zäune und Schutzhunde. Abschüsse können nötig werden, wenn Wölfe die vom Menschen gesetzten Grenzen wiederholt überschreiten. Doch das ist sehr selten geworden, etwa wenn Wölfe sich auf die Jagd auf Rinder spezialisieren. 12 Rinder, mehrheitlich Jungtiere, sind 2017 gerissen worden. Mit Schafen und Ziegen haben wir heute kaum mehr Probleme. Der Herdenschutz funktioniert sehr gut.» Die Probleme begännen, wenn Wölfe ihre Angst vor dem Menschen verlieren. Abschüsse von Wölfen aus dem Rudel heraus, aber auch von Einzeltieren, hätten sich gut bewährt. «Die Entfernung von ganzen Rudeln bringt keinen weiteren Erfolg. Wir hatten einen Fall, bei dem ein Rudel regelmässig Schafe aus einer Herde holte. Als ein einzelnes Tier aus diesem Rudel geschossen wurde, hörte der Spuk sofort auf.» Doch eine absolute Sicherheit werde es nie geben. Deshalb sei das Monitoring der Wolfspopulation auch zentral für das künftige Management. «Wir wissen heute sehr genau Bescheid über deren Entwicklung und können auch die Zahl der Rudel und der Wölfe mit hoher Genauigkeit ermitteln.» 14 Rudel bevölkern danach die slowenischen Waldgebiete primär südlich der Hauptstadt Ljubljana, einige von ihnen pendeln dabei zwischen Kroatien und Slowenien. Im Norden des Landes sind die Wölfe erst dabei, sich auszubreiten. Je nach Zählweise kommt man dann auf etwa 75 Wölfe, die entweder in Slowenien oder im slowenisch-kroatischen Grenzgebiet leben.


Rok Černe: "Es gibt sehr wirksame Massnahmen, um Nutztiere vor Wölfen und Bären zu schützen."

Aus wissenschaftlicher Sicht sei es nicht nötig, den Bestand zu regulieren, sagt Aleksandra Majič Skrbinšek. «Das machen die Wölfe unter sich aus. Sie verteidigen ihre Reviere vehement gegen eindringende Artgenossen und töten diese notfalls auch.» Zudem habe es im Norden des Landes noch genügend Platz für den Wolfsnachwuchs, um eigene Rudel zu begründen. Die regulären Abschüsse dienen für Skrbinšek primär dem Bedürfnis des Menschen nach Einflussnahme. Das sei verständlich, auch wenn der Nutzen gering bis nicht vorhanden sei. Denn es sei immer noch der Mensch, der über das Schicksal der Wölfe entscheide. «Und legale Abschüsse tragen wesentlich dazu bei, dass es in Slowenien kaum mehr zu Wilderei kommt. Dieser Pragmatismus hat sich bewährt. « Und solange die Abschussquoten die Erhaltung der Art nicht gefährdeten, sei dagegen wenig einzuwenden.


Am Fuss einer über 500-jährigen Tanne in einem Wald nahe der Ortschaft Rajhenav (Reichenau) in der Gemeinde Kočevje (Gottschee) im Südosten Sloweniens sucht der Viehzüchter Alojz Brdnik im Schnee nach Wolfsspuren. Vergeblich. «Es taut. Das verwischt die meisten Tierspuren schnell». In der Nähe einer vor Jahrzehnten aufgegebenen Sägerei findet sich schliesslich am Strassenrand eine Bärenspur. Die mächtigen Tatzenabdrücke sind unverkennbar. «Wir haben hier auf relativ engem Raum ungefähr 40 Bären und drei Wolfsrudel». Wolfsspuren fänden sich dennoch selten. «Ihnen ist es hier zu lärmig. Sie ziehen ruhigere Waldgebiete östlich von hier vor.» Ganz spurenlos geht das Treiben der Wölfe aber am Hof von Brdnik nicht vorbei. Aus der Mitte seiner Kuhherde rissen Wölfe ein Kalb. Dessen Reste fanden sich in einer Mulde in der Nähe der Weide erst nach der Schneeschmelze. Brdnik züchtet Limousin-Rinder, die Zuchttiere verkauft er in ganz Slowenien. Er sei der einzige Einwohner des Ortes und deshalb der naturgemässe Bürgermeister, scherzt er. Tatsächlich zählte Rajhenav einmal 280 Seelen. Es waren die Nachfahren deutscher Siedler aus Mecklenburg-Vorpommern, die im 14. Jahrhundert nach einer verlorenen Schlacht zur Auswanderung gezwungen worden waren. Im «Gottscheer Land» lebten in 171 Dörfern während 600 Jahren bis 1941 15'000 Deutschstämmige, fleissig und arbeitsam, arm und traditionsbewusst. Als deutsche Truppen mit italienischer Unterstützung im April 1941 das damalige jugoslawische Königreich eroberten, hatten die Diktatoren Hitler und Mussolini Slowenien unter sich aufgeteilt. Die Gebiete nördlich des Flusses Save wurden vom deutschen Reich einverleibt, die südliche Hälfte des Landes mit der Hauptstadt Ljbuljana rissen die Italiener an sich. In einem absurden, von einer Propagandatruppe vor Ort orchestrierten Aktion wurden die Gottscheer Deutschen Ende 1941 «heim ins Reich» geholt. Bis Kriegsende lebten sie im nördlichen Slowenien (der damaligen «Untersteiermark» in Häusern, aus denen Slowenen deportiert worden waren. Danach wurden sie aus dem wieder erstandenen, nun sozialistischen Jugoslawien vertrieben. Wer bleiben wollte, den erwartete der Tod. Etwa 5000 Menschen, ein Viertel der ursprünglichen Bevölkerung, unter ihnen nur noch einige hundert Gottscheer, waren nach der Umsiedlung im waldigen Gotscheer Land zurückgeblieben. Ihr rund 860 Quadratkilometer grosses Siedlungsgebiet wurde zum Rückzugsgebiet slowenischer Partisanen, denen sich auch einige Dutzend Deutsche anschlossen. Über 100 Dörfer wurden von italienischen Truppen vollständig zerstört, der von den Italienern gehaltene Hauptort Kočevje (Gottschee) war nach dem Krieg praktisch unbewohnbar. In den 1950er-Jahren wurden weitere Spuren deutscher Besiedlung getilgt, ganze Dörfer, Kirchen und Friedhöfe verschwanden von der Bildfläche. Zu diesen Dörfern zählt auch Reichenau. Nur ein Wirtschafts- und ein Hofgebäude blieben erhalten, die Weiden wurden in den folgenden Jahrzehnten nur noch extensiv bewirtschaftet. Als Alojz Brdnik Reichenau auf der Suche nach einem Hof entdeckte, waren die Gebäude verlassen, das Land gehörte den Wölfen und Bären. Heute bewirtschaftet er einen 170 Hektaren grossen Betrieb mit weiteren 100 Hektar zur Heugewinnung in der Einsamkeit, die nächste Siedlung ist 18 Kilometer entfernt. Weiden und Wald kennt er längst so gut wie seine Hosentasche. Die Wölfe bleiben auf Distanz. In 22 Jahren hat er keine zu Gesicht bekommen.


Der ehemals von 280 "Gottscheer Deutschen" bewohnte Flecken Reichenau. Heute werden hier Limousin-Rinder gezüchtet.

 

 

Die Wölfe sind zurück im Kanton Wallis, seit 2016 regiert am Augsthorn ein Wolfsrudel. Sie beanspruchen ihren Platz in einem Gefüge, das sich, ohne Wolf, seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat. Nun beschleunigen sie den Strukturwandel.

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Das Schwarznasenschaf: Die Züchter lieben es, der Wolf bedroht es.

Die Schafblattjini ist ein Traum von einer Alp am Fuss des Hohstocks (3226 m) mit seinen zerfurchten, einen Halbkreis bildenden, senkrecht abfallenden Felswänden. Der Schnee hält sich Mitte Juli noch bis zu den ersten Weiden auf 2'700 Meter. Vom Gletscher, der, wie sich die Alten erinnern, einst vom Gipfel heruntergekrochen war, ist nichts übrig geblieben. Eine Gruppe Schwarznasenschafe hat es sich im Schatten eines Felsblockes gemütlich gemacht. Den zotteligen Tieren ist es am späten Nachmittag bei 20 Grad noch zu heiss, um sich zu bewegen. Erst zur Abendbrotzeit werden sie grasen. Rund 450 Schafe verbringen den Sommer auf den stotzigen Weiden hoch über Belalp, vom Rand der westlichen Krete haben sie einen herrlichen Rundblick auf den Aletschgletscher, wenden sie sich gegen Süden, rücken das Matterhorn und die Monte Rosa – Gruppe ins Blickfeld. Es sind fast ausschliesslich Schwarznasenschafe, die sich in kleinen und mittleren Gruppen aufteilen. Es ist ihre gewohnte Herde, denn sie gehören Hobbyschafzüchtern, die in der Regel kaum mehr als zwei, drei Dutzend dieser schönen Tiere halten. Zu grossen Schafherden lassen sie sich nur unwillig zusammentreiben, es braucht mehrere Wochen, bis sie sich daran gewöhnt haben. Lieber gehen sich die kleinen Gruppen aus dem Weg. Auf der Schafblattjini sind sie weitgehend auf sich allein gestellt, nur ab und zu schaut einer der Halter zum Rechten, bringt etwas Kraftfutter und prüft den Bestand. 

Auf der Rosswald - Steinenalpe Alp am Gegenhang oberhalb von Brig kamen am Vortag zwei Schafe zu Tode, ihre Körper zeigten Frassspuren. Die 700köpfige Herde mit Schwarznasenschafen war behirtet, zwei Boardercollies unterstützten den Hirten beim Treiben der Herde. Dieser verständigte den Wildhüter, der sich noch am selben Tag ein Bild der Lage machte. Wölfe galten als die Tatverdächtigen. Schliesslich lebt seit zwei Jahren knapp 25 Kilometer in Richtung Westen, am Augstbordhorn, ein Wolfsrudel, das mit diversen Schafsrissen in ungeschützen Herden auf sich aufmerksam machte. Inzwischen ist die Lage dank Herdeschutzmassnahmen entspannter. Wölfe sind mobil. Für sie ist eine Distanz von 25 Kilometern, und wenn sie dabei Gebirgszüge überwinden müssen, nichts Besonderes. Vor allem junge Wölfe legen auf ihren Erkundungstouren noch weit längere Wege zurück, während Rudel mit Jungtieren weitgehend standorttreu sind, solange es genügend Nahrung für sie gibt. Die Boardercollies, klassische Hirtenhunde, hätten einen dieser Wolfsstreuner auf der Rosswald-Steinenalpe kaum von einer Attacke abgehalten, zumal die Herde über ein weites Gebiet verstreut war. Schon ging die Rede vom Schadenersatz um, eines der Schafe, ein Zuchttier, habe einen Wert von 2000 Franken, hiess es. Der Wildhüter gab schliesslich Entwarnung. Die Schafe waren eines natürlichen Todes gestorben, Kolkraben hatten im Bereich der Schulterblätter ein für sie typisches Loch in die toten Körper gepickt, um ans Fleisch des Aases zu kommen.


Weide mit Aussicht: Schwarznasenschafe auf der Alp Schafblattjini.

Solche «Abgänge» sind auf den Schafweiden in den Schweizer Alpen gar nicht so selten. Rund 4000 Schafe überleben den Alpsommer nicht. Das entspricht etwa zwei Prozent des Bestandes. Die Zahl der Wolfsrisse bewegt sich – mit starken Schwankungen über die Jahre – um die 200. Eine Studie im Rahmen des Verbundprojektes Alpfutur (www.alpfutur.ch/src/2012_schafalp_abgaenge.pdf) hat vor sechs Jahren gezeigt, dass es primär gesundheitliche Probleme und Krankheiten sind, die Schafe auf den Alpen dahinraffen. In solchen Fällen greifen nur kostspielige Versicherungen. In der Regel verzichten die Schafhalter auf diesen Versicherungsschutz und belassen es bei einer Elementarschadensversicherung, die nur bei den deutlich selteneren Blitzschlägen oder Lawinenabgängen zahlt. Bei Wolfsrissen ist das anders. Hier kommen die Entschädigungen aus staatlichen Schatullen, bis zu 1600 Franken werden vergütet, vorausgesetzt, es handelt sich nachweislich um einen Wolf. Aus dieser Warte betrachtet scheint das Problem mit den Wölfen überschaubar zu sein, zumal es auch für den Herdenschutz finanzielle Hilfen gibt, die, je nach Betrachtungsweise und Interessenslage, den zusätzlichen Aufwand weitgehend oder teilweise decken. 
Doch das eigentliche Problem geht wesentlich tiefer. Und es ist der ins Wallis zurückgekehrte Wolf, der, ungefragt und oft unerwünscht, diese Probleme ans Tageslicht bringt. Ihn kümmert die Geschichte dieses Bergtales nicht, auch der strukturelle Wandel in der Landwirtschaft ist ihm egal, ebenso wie der wirtschaftliche, der aus hart arbeitenden, am Existenzminimum lebenden Bergbauern Fachangestellte in Industrie- und Dienstleistungsbetrieben im Tal gemacht hat. Sie tragen das bäuerliche Erbe ihrer Mütter und Grossväter in ihren Herzen, aber ihren Lebensunterhalt verdienen sie längst auf eine andere Weise. Das macht sie zu Romantikern ihrer selbst, und manche von ihnen blind für den Wandel. Die Heger des Wildes, die Jäger, haben den Wolf ausgerottet und müssen ihn nun, oft zähneknirschend, als Beute-Konkurrent akzeptieren. Denn er ist, spätestens mit der Gründung des ersten Walliser Rudels im Jahr 2016, gekommen, um zu bleiben, zwei Jahrzehnte nach den ersten Sichtungen der aus dem benachbarten Aostatal einwandernden Jungwölfe. Die Heger des Waldes, die Förster, kämpfen in einem Gebirgskanton, dessen Wälder fast zu zwei Drittel Schutzwälder sind, um den für den langfristigen Erhalt so wichtigen Baumnachwuchs, namentlich die Weisstanne, dem das Wild die Knospen wegfrisst, was deren Entwicklung erheblich behindert bis verunmöglicht.


Förster, Jäger und Vater eines Schafzüchters: Drei Seelen wohnen in Christian Thelers Brust.

Diese drei Seelen trägt Christian Theler in seiner Brust. Er ist Revierförster im Forst Massa bei Naters mit 2125 Hektaren Wald, passionierter Jäger und Vater eines Sohnes, der von seinem Grossvater mütterlicherseits eine Herde Schwarznasenschafe übernommen hat. Und diese drei Seelen stehen zum Wolf in einem jeweils ganz anderen Verhältnis. «Als Förster begrüsse ich den Wolf, der seinen Beitrag leistet zur Regulierung der teils sehr hohen Wildbestände. Es wird aber noch dauern, bis sich das eingependelt hat. Aktuell weicht das Wild dem Wolf noch aus. Das kann dann lokal zu sogar höherem Wildverbiss führen. Als Jäger arrangiere ich mich mit dem Wolf. Er beansprucht einen Teil der Beute. Das akzeptiere ich. Uns Jäger braucht es aber weiterhin zur gezielten Regulation des Wildes. Und als Angehöriger eines Schafhalters blutet auch mir das Herz, wenn eines dieser schönen Schwarznasenschafe vom Wolf gerissen wird. Erwischt es ein wichtiges Zuchttier, kann das eine jahrelange Aufbauarbeit zunichte machen. Das ist dann auch finanziell nicht wiedergutzumachen, vom emotionalen Verlust ganz zu schweigen. Mir liegt auch diese kleinräumige, grossartige Kulturlandschaft im Wallis sehr am Herzen. Die Schafhalter leisten hier, indem sie die oft extrem steilen Weiden weiter bewirtschaften, einen sehr wichtigen Beitrag. Sollten sie damit aufhören, wird es sehr schwer, deren Verbuschung und Verwaldung aufzuhalten. Die Artenvielfalt würde stark abnehmen.» 
Niemand weiss, wann die Schwarznasenschafe auf der Alp Schafblattjini erstmals nach vielen Jahrzehnten wieder ungebetenen Besuch vom Wolf erhalten werden. Aber allen ist klar: Es ist nur eine Frage der Zeit. Der Wolf mischt sich in ein erst seit drei Menschen-Generationen neu gewachsenes Gefüge und beansprucht wieder seinen Platz, dem man ihm genommen hatte. Vielleicht wird man später einmal von einer Zeit des Übergangs sprechen. Die Grosseltern von Christian Thelers Frau Myriam hatten noch einen Bergbauernbetrieb bewirtschaftet, zu den Kühen gesellten sich eine kleine Ziegenherde und eine Handvoll Schafe, deren Wolle noch von Hand gesponnen wurde und deren Fleisch eine willkommene Nahrungsergänzung im Winter war. Diese Subsistenzlandwirtschaft verschwand nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach, als sich am Talgrund grosse Industriebetriebe wie das Chemiewerk Lonza in Visp ansiedelten und die Bauern zu Hunderten von ihren Höfen in die Werkhallen lockte. Aus Vollerwerbs- wurden Nebenerwerbsbauern, viele gaben die arbeitsintensive Haltung des Rindviehs auf und wechselten zur extensiven Schafhaltung. Sie entflohen damit auch der Armut, die im 19. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre Zehntausende zur Auswanderung gezwungen hatte. Einer von ihnen ist Art Furrer, der, aus einer mausarmen Familie stammend, deren einzige Fleischquelle gewildertes Wild war, 1959 als 22-jähriger dem Wallis den Rücken kehrte, in den USA Karriere als Ski- und TV-Star machte und 1973 zurückkam, um auf der Riederalp am Aletschgletscher ein Hotelimperium zu begründen. Der Tourismus setzt heute im Wallis rund ein Drittel der Beschäftigen ins Brot. Viele kommen wegen der Schönheit der abwechslungsreichen Kulturlandschaft zwischen Berg und Tal, für deren Erhalt viele Bäuerinnen und Bauern sorgen, die im Hauptberuf im Tourismus, der Verwaltung oder der Industrie tätig sind. Um diese über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft zu bewahren, wendet der Staat grosse Summen auf – schweizweit sind es in den Berggebieten rund 1,4 Milliarden Franken –, um die Bauern für ihren Einsatz als Landschaftspfleger zu entschädigen. Davon profitieren auch die Nebenerwerbsbauern, die oberhalb von Blatten die steilen Wiesen mit einer Maschine mähen, das Heu zusammenrechen und, in waghalsiger Fahrt, mit dem Ladewagen aufladen. Es ist ein Familientag, an dem auch viele Freunde mittun, um das Heu rechtzeitig einzubringen. Im Herbst werden dann nochmals die Schafe darauf weiden. Ohne Heuen und Grasen wäre hier längst der Wald zurückgekehrt, den vor Jahrhunderten die ersten Siedler gerodet hatten. Jetzt tut er es kleinen Schritten, dort, wo es den Bauern zu aufwendig wird. Zum Beispiel an einem spitzen Grat etwas weiter oben, wo nur mit der Sense gearbeitet werden könnte. Noch blüht hier die seltene Graslilie. Doch der Wald naht, Teile der einstigen Weide sind schon bewachsen, und auch direkt am Grat haben es sich die ersten Jungbäume bequem eingerichtet. Diese Verwaldung trifft auch die vielen Waldweiden im Wallis. Wo einst das Vieh graste und für Licht im Dunkel der Nadelwälder sorgte, breitet sich heute junger Bergwald aus.


Viel Handarbeit erfordert das Heuen in den steilen Weiden des Wallis.


Auch Myriam Thelers Eltern hatten 1976 auf Schafhaltung umgestellt, als ihrem Vater als Nebenerwerbsbauern die Kuhhaltung zuviel wurde. Diese 30köpfige Schafherde hat nun ihr Sohn Elia übernommen. Der 18-jährige pflegt sein Hobby mit grosser Leidenschaft. Er tritt sein Erbe unter ganz anderen Voraussetzungen an. Denn aus den Nutztieren von einst sind Haustiere geworden, zu denen man eine ähnlich persönliche Beziehung pflegt wie zu Hund und Katze. Das zeigt sich an der Wolle, aus der einst Socken und wärmende Westen gefertigt worden waren. Heute ist sie wertlos und fristet allenfalls als Gebäudeisolation ein trauriges Dasein. Doch die Hingabe, mit der diese bis zu zehn Zentimeter langen Haare gepflegt werden, steht im umgekehrten Verhältnis zum finanziellen Nutzen. Der Ertrag ist emotional, es geht um Schönheit, Anmut und Sozialprestige. Denn wenn im Herbst nach der Alpabfahrt an grossen Schafschauen die schönsten Schwarznasenschafe prämiert werden, sind, ähnlich wie beim Kaninchenzüchterverein, die vergebenen Jurypunkte der Lohn für die getane züchterische und tierpflegerische Arbeit. Der der Not gehorchende Pragmatismus der Vorfahren ist einem Schönheits-Ideal gewichen. Zweifellos. Sie sind schön anzusehen, die Schwarznasenschafe. Doch man muss sich schon auch fragen, welchen Sinn es machen kann, den gesamten Kopf dieser Tiere in einen Wollknäuel zu hüllen, aus dem die Tiere keinen freien Blick mehr haben. Die Schönheit liegt hier nur im Auge des Betrachters. Die zwei Walliser Landschafe, die Myriam Theler ihrem Mann Christian geschenkt hat, sind dagegen nur hässliche Entlein, die Nachfahren jener Schafe, die einst den Bergbauern zu einer prekären Existenzsicherung verholfen hatten. Er mag sie trotzdem. Doch man sollte den leicht ins Absurde driftenden Schönheitswettbewerb rund um die Schwarznasenschafe nicht isoliert betrachten. Für die heutigen Tierhalter geht es auch um das Kulturerbe ihrer Vorfahren, das sie, in veränderter Form, weiter pflegen. Wie lange sie das noch tun werden, muss offen bleiben. Ein Hobby ist ein Hobby. Und das kann sich ändern. Für Christian Theler beschleunigt der Wolf diesen Kulturwandel, der durchaus auch dazu führen könnte, dass die Landwirtschaft im Wallis weiter intensiviert und dort, wo die Plackerei zu gross ist, aufgegeben wird. Der Wolf wäre dann unangefochtener König in dieser vom Wald dominierten Landschaft. Theler träumt von einem Wolfs-Management, das, ähnlich den Urinspritzern, mit denen Wölfe ihr Revier markieren, eine strikte, unsichtbare Linie zieht, um den Wolf, notfalls mit der Waffe in der Hand, in die Schranken zu weisen. Er weiss, wie schwierig das sein wird in dieser reich strukturieren Landschaft ohne klare Grenzen zwischen Wald und Wiese. Am Herdenschutz und an der Behirtung führt kein Weg vorbei. Die schon heute in Genossenschaften organisierten Schafhalter müssen sich organisieren, was ansatzweise schon geschieht. Und sie müssten, wie einst beim Geissenpeter, ihre kleinen Herden mit anderen zusammenlegen, um sie einfacher hüten und schützen zu lassen. Das würde einiges an Mehrarbeit mit sich bringen und möglicherweise einen anderen Strukturwandel bedeuten: Die Professionalisierung der Schafzucht mit grossen, vielhundertköpfigen Herden und Haltern, deren Existenz von derem Wohl und Weh abhängt. Der Schutz vor dem Wolf wäre zumindest einfacher zu bewerkstelligen. 
Kreuz und quer liegen grau gewordene Föhrenstämme übereinander auf einer Waldlichtung auf einem Grat hoch über Bister. Über extrem steiles Gelände folgt man beim Aufstieg durch den Bawald den Wildwechseln. Die Stämme sind 28-jähriges Sturmholz. Der Orkan Vivian hat sie im Februar 1990 gefällt und damit auch Licht in den dichten Wald gebracht. Es ist willkommenes Licht für den Baumnachwuchs. Doch der tut sich schwer. Noch nach zehn, fünfzehn Jahren sind manche jungen Tännchen nur wenige Zentimeter hoch, so setzen ihnen die Hirsche zu. Die Mitarbeiter um Christian Theler haben das Totholz deshalb so geschichtet, dass sich die jungen Bäume darunter ungestört entwickeln können. Die Hirsche machen einen Bogen darum. Es sei ihnen zu riskant, sich in dieses igelartige Geflecht zu wagen, sagt Theler. «Sie müssen vorsichtig sein und sind deshalb bedacht, immer einen Fluchtweg offen zu haben. Ihre Feinde, das sind die Jäger und die Wölfe.» Der lichte Grat erlaube ihnen, diese frühzeitig zu erkennen. Ein paar Schritte bergaufwärts hat sich in einem Gehege (Wildkontrollgatter) eine prächtige Baumvielfalt entwickelt, sogar Kirschen und Edelkastanien finden sich auf 1200 Metern Höhe. Rundherum findet sich fast nur vermoderndes Totholz. Die Hirsche verhindern jeden Baumnachwuchs. Das natürliche Gleichgewicht ist gestört. Der Wolf werde auf lange Sicht dazu beitragen, dass dieses wieder hergestellt wird. «Bis dahin werden die Jäger für die Regulation des Wildes wesentlich wichtiger sein.» Etwas unterhalb des aussichtsreichen Grates führt ein Wildwechsel parallel zum Hang, um sich kurz darauf in einem grünen Dickicht zu verlieren. Auch die Jäger orientieren sich daran. Die Wildbestände sind hoch, beim bedeutendsten Wild, dem Hirsch, viel zu hoch. Das hat zum einen mit der Aufgabe grosser landwirtschaftlicher Nutzflächen und der Ausbreitung der Wälder zu tun – im Wallis hat sich die Waldfläche seit 1985 um 15 Prozent vergrössert -, zum andern mit der staatlich geförderten Ausrottung der Beutegreifer, vor allem Bär und Wolf, die wegen ihrer Nutzviehrisse verteufelt wurden, primär aber als Konkurrenten ums Wild unschädlich gemacht werden sollten. Auch der teilweise geringe Jagddruck spielt eine Rolle. Der integrale Schutz dieser Raubtiere kam in der Schweiz viel zu spät – es gab sie nicht mehr. Jetzt, wo sie wieder im Land sind, gilt es, mit ihnen ein Auskommen zu finden. Die Jäger sind grossmehrheitlich für den Wolf, weil sie sich bewusst sind, dass sie ihn nicht wieder loswerden können, weil sie aber auch realisiert haben, dass eine Annäherung an das natürliche Gleichgewicht allemal besser ist als das ständige Löcher stopfen durch den Menschen mit Jagdquoten, dem Schutz des Jungwaldes und dem anhaltenden, kaum aufzuhaltenden Rückzug der Landwirtschaft in den Alpen. 
So, wie der Wolf sichtbarer macht, was unter der Oberfläche schon lange brodelt, so wird es der Mensch sein, dem es obliegt, ihm den ihm gebührenden Platz einzuräumen. Es sieht gar nicht so schlecht aus.

 

Neuer Erklärungsversuch zum Wolf

Mit «Die Rückkehr der Wölfe» legt der Dokumentarfilmer Thomas Horat seinen Fokus weniger auf das Raubtier als den Menschen, dem der Wolf mal als Freund, mal als Feind erscheint. Das weckt Verständnis für beide Seiten. Der grundsätzlichen Frage nach unserem Naturbild weicht Horat aus. Der Film läuft  in Schweizer Kinos.

 
Ungefragt und oftmals ungebeten kehrt der Wolf in Siedlungsgebiete zurück, aus denen er vom Menschen vertrieben worden war. Der Schrecken steht den beiden Salzburger Schafhaltern noch ins Gesicht geschrieben, als sie von der ersten Wolfsattacke auf ihre ungeschützte Herde erzählen. Sie sind ratlos. 

In Bulgarien gibt sich ein Berufskollege wesentlich gelassener. Er kennt die Wölfe, die nie aus dieser abgelegenen Bergregion verschwunden sind, er respektiert sie, er schützt seine Nutztiere mit Hunden. Und wenn die Wölfe sich doch mal ein Schaf holen, dann zeigt er Verständnis. Der Wolf müsse auch leben. 

In Thomas Horats Dokumentarfilm “Die Rückkehr der Wölfe» stehen Menschen im Mittelpunkt, denen der Wolf mal als Freund, mal als Feind erscheint. Er lässt sie reden, zeigt sie in ihrem Umfeld, und er verzichtet gänzlich auf die Kommentierung. Das verleiht dem Film eine wohltuende, angemessene Distanz, und es schafft den Raum für eine vertiefte Auseinandersetzung. Denn es geht nur vordergründig um den Wolf und seine Existenzberechtigung. Es geht um den Menschen und sein sich wandelndes Bild von der Natur. Wo der Wolf als Nahrungskonkurrent bis weit ins 20. Jahrhundert mit staatlicher Förderung verteufelt und ausgerottet worden war, ist er inzwischen staatlich geschützt. Die Fortschrittlichen von damals sind die Zurückgebliebenen von heute. 

Die Auswahl der Protagonistinnen und Protagonisten, die im Film in zu grosser Zahl auftreten, als dass ein vertiefter Dialog möglich wäre, ist für diese Auseinandersetzung leider etwas einseitig. Es dominieren die Wolfsversteherinnen und – erklärer. Kaum jemand mag sich ernsthaft mit jenen auseinandersetzen, die skeptisch sind oder schlicht Angst haben. Wichtige Stimmen in diesem Konzert, namentlich aus Jagd und Forstwirtschaft, gehen gänzlich unter. So zeigt der Film schliesslich doch jenes zur Verklärung neigende Naturbild, wie es in vielen Tierdokus vermittelt wird, in denen der Mensch schon gar nicht vorkommt. Dabei geht es beim Wolf wie bei anderen zurückkehrenden Raubtieren wie Luchs oder Bär nicht um den Platz in der Natur-, sondern in der vom Menschen massgeblich geprägten Kulturlandschaft. Der  Wolf ist derselbe geblieben, der Mensch ist ein anderer geworden – und muss sich damit zurechtfinden.

 

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Greina: Alpwirtschaft Im Wandel

In der Region Greina spielte die Alpwirtschaft über viele Jahrhunderte eine zentrale Rolle. Gealpt wurde von beiden Seiten des Alpenhauptkamms, die Tessiner aus dem Bleniotal gingen dabei besonders weite Wege, um zu den begehrten Weideplätzen zu kommen. Wir blicken im Dossier zurück und in die Gegenwart

1. Einleitung: Die Alpwirtschaft in Graubünden
2. Alp Diesruth: im Widerstreit der Interessen
3. Lampert- und Läntaalp: Von intensiver und extensiver Nutzung
4. Bleniesser Alpen: Vom Wandel der Alpwirtschaft
5. Alp Greina: Von Pferden und Schafen 

 

Die Alpwirtschaft in Graubünden

 

 

Einleitung

Gealpt wird das Vieh im Kanton Graubünden schon seit vielen Jahrhunderten. Die Blütezeit war vom späten Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Heute wandelt sich die Alpwirtschaft - die Senninnen und Sennen sind auch Landschaftsgärtner.

Das abweisende Klima hat die Alpen in der Frühzeit der Besiedlung vor starker Nutzung verschont. Doch bereits zur Bronzezeit lebten in der Gegend Menschen. Davon zeugt die Siedlung Crestaulta in Surim bei Lumbrein. Es war eine inneralpine Sonderkultur, die um 1400 bis 800 vor Christus andauerte. Sie hinterliess eine grosse Zahl von Bronzestücken, Schmuck und Keramik. In der Eisenzeit zwischen 800 vor Christus und Christi Geburt lebten die Rätier und im Tessin die Lepontier, ein keltischer Stamm im Norden. An rätische Siedlungen erinnern Flurnamen wie Lugnez oder Petnaul bei Vrin. Die Lage im Kreuz der Pässe Bernadino, Splügen, Lukmanier und Gotthard war strategisch zwar günstig. Trotzdem bauten die Römer keine weiteren Siedlungen in abgelegenen Gegenden, wenn sie nicht für den Strassenbau wichtig waren. Im Mittelalter wurden die Alpen auch als Rohstoffquelle entdeckt: Gold, Silber und Kristalle, aber auch Holz wurde aus den Bergeregionen ins Tal geschafft. Umgekehrt entdeckten immer mehr Tierhalter die höheren Lagen als Weidegrund, um dem knapper werdenden Talgrund auszuweichen. Damit bekamen sie die Möglichkeit, das Talgras zu scheiden und für den Winter einzulagern. Denn lange Winter bedeuteten Hunger : für Menschen und Tiere.

Ursprünglich, das heisst in den Anfangszeiten der Besiedlung, bewirtschafteten die Dorfbewohner in Graubünden die Alpen gemeinsam. Nach und nach gerieten sie aber unter den Einfluss von Adeligen, 3die auch die Alpen für sich beanspruchten. Sie hatten dafür keine Verwendung und die Bauern durften sie weiterhin nutzen. Nun aber als Lehen und Erblehen. Der Territorialfürst war in der Zeit von Rätia Prima ab 452 nach Christus der Bischof von Chur, das in diesem Jahr erstmals als Bischofsitz erwähnt wurde. Auch das Kloster Disentis bekam den Titel einer Fürstabtei mit Territorialrechten. Noch waren aber in der Zeit des Frühmittelalters und Mittelalters, (ca 500-100 n. Chr.) die nördlichen Alpregionen zwar schwach, aber zunehmend besiedelt. Noch störten die immer wieder durchziehenden Nomaden nicht wirklich. Doch die Bevölkerung nahm zu und die Menschen siedelten in immer höher gelegenen Regionen. In dieser Zeit gab es auch noch Wandersennen. Dies waren verarmte Tierbesitzer ohne Land, die im Winter bei einem Bauern wohnten und Futter kaufen, solange da war. Dann mussten sie weiterziehen. Mit dem Einzug in die Alpen begann der Mensch auch die Kulturlandschaft zu formen: Der Wald wurde gerodet, Weideflächen gewonnen und gepflegt. ( NFP 48 Schlussbericht. S. 20-25. )

Mittelalter und Neuzeit

In den folgenden Jahrhunderte begannen sich die hörigen Bauern von ihren Lehen wieder frei zu kaufen. Zu diesen gehörten auch die Alpen, die sie gemeinsam frei kauften und gemeinsam bewirtschafteten. Diese Alpen waren aber häufig mit Sonderrechten, den so genannten Servituten belegt. Das begann schon damit, dass sich die Feudalherren noch einige Rosinen genehmigten, wenn sie die Bauern in die Freiheit entliessen. Das konnte das Recht auf einen bestimmten Teil der Produktion beinhalten, auf den Dünger, auf einen Teil der Alp, auf Holz, bestimmte Durchgangsrechte, Vor- und Nachweiderechte, die Nutzung des Waldes für die Kohlegewinnung, Jagdrechte, Murmeltiernutzungsrechte und vieles mehr. Von Bedeutung waren auch die Schneefluchtrechte. Sie bedeuteten, dass bei einem Wintereinbruch die Tiere der oberen Weiden das Recht hatten, weiter unten zu weiden. Doch die Ausrufung dieses Rechtes wurde möglichst lange hinausgezögert, weil dessen Ausübung eine hohe Belastung für die unteren Weiden bedeutete. Die Gemeinden organisierten die Bewirtschaftung der Berglagen in Alpkooperationen oder Markgenossenschaftsalpen. Dabei bestossen sie die Alp gemeinsam, aber mit eigenen Tieren die sie gemeinsam hüten. Aber es gab verschiedene Facetten der kollektiven Nutzung der Alpen.

Auch das Recht der Alpnutzung hat sich im Laufe der Jahrhunderte vom Ursprung der Markgenossenschaft verändert. Zuerst hatte in den romanischen Gebieten jeder Tierbesitzer unterschiedslos das gleiche Recht, die Gemeinschaftsalp mit seinen Tieren zu bestossen. Später gewährten die alteingesessenen Familien, die sich : nach heutigem Begriff als Ortsbürger definierten : Zugezogenen dieses Recht nicht mehr. Die Gründung von Genossenschaften schränkte die Nutzung weiter ein. Nun durften nur noch Genossenschafter eine Alp bestossen : auch wenn die manchmal von Nachbardörfern kam. Diese starke Nutzung, sowie die Belastung durch Servituten führte zu Erosionen, Lawinen- und Murgängen und zur Erkenntnis, den Alpboden zu pflegen und eine Art Management einzurühren. Diese Entwicklung setzte in der frühen Neuzeit ein, war jedoch je nach Tal und Nutzung der Alpen unterschiedlich.

Viele Kooperationen beschlossen, dass ein Mitglied nur noch so viele Tiere oben sömmern darf, wie es durch den Winter bringt. Wer hungernde Tiere hatte, musste ätzende Kommentare über sich ergehen lassen. Damit begegneten die Bauern der Überstossung. Die Versuchung zu überstossen war gross, denn im von Graubünden aus gesehen nahe gelegenen Italien lag ein Markt mit grossem Fleischbedarf. Der sogenannte Einschlag, also die Nutzungsbeschränkung ist deshalb aus heutiger Sicht eine beachtliche wirtschaftliche Leistung der Bauern, auch wenn die Einsicht in einen Managementplan : wie man dies heute nennen würde - auf manchen Alpen spät kam. Die amerikanische √ñkonomin Elinor Ostrom hat für ihre Analyse im Umgang mit Gemeinschaftsgütern 2009 den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten. Zu ihren Studienobjekten gehörte die Schweizer Alpwirtschaft, unter anderem der Umgang im Wallis mit der beschränkten Ressource Wasser. Sie fand heraus, dass von einer Gemeinschaft nachhaltiger bewirtschaftet wird, als dies auf mancher Privatalp der Fall ist. Eine wichtige Voraussetzung sind strenge Regeln und deren Durchsetzung. Sie wurden demokratisch eingeführt und jeweils den sich verändernden Gegebenheiten angepasst.

Unfreie Bauern mussten weiterhin den Zins für ihr Lehen in Form von Naturalien (meist Butter und Käse) am Martinitag oder St. Antönitag abgeben. Für freie Bauern war zwar die Lehensabgabe, nicht aber der Zehnte getilgt. Mit der Zeit wurde dafür ein fixer Geldbetrag verhandelt. Diese Belastung sank aber dank der Inflation mit der Zeit.

Im Spätmittelalter, also zwischen dem 12- bis 15. Jahrhunderte, änderte sich die Situation noch einmal. Die von Feudalherren als Innenkolonialisierung unterstützte Walser-Wanderung begann. Selbstverständlich war dies kein humaner Akt, um den Walliser Bevölkerungsdruck zu entschärfen. Es ging für den Bedarfsfall um einen Vorrat an kriegstüchtigen Bauern. Mit den Wallsern kam ein neuer Stil der Alpbewirtschaftung nach Graubünden: Jener der privaten Nutzung. Im Gebiet um das Rheinwaldhorn siedelten die ersten Walser vor rund 700 Jahren.

Während des 16. und 17. Jahrhunderts gingen die meisten Alpen auch im romanischen Teil von den Gemeinden in Genossenschafts- oder Privatbesitz über. Das kam so: Einzelne Mitglieder schlossen sich zusammen und bewirkten bei der Gemeindeversammlung der Verkauf der Alp : oft für ein währschaftes Nachtessen und einer Anzahl Mass Wein. Kurze Zeit darauf wurden sie wieder zurück gekauft, weil die Gemeinden in dieser Zeit stark wuchsen und damit die Notwendigkeit, die Alpen wieder kollektiv zu nutzen.

 

Alpleben

Die Alpen werden traditionell eher extensiv bewirtschaftet. Eine Alp ist eine in sich geschlossene Betriebseinheit, bei der nicht die Höhe das Problem ist, sondern das Klima. Alpen liegen oft an der oberen Grenze, wo Produktivität gerade noch möglich ist. Die Bevölkerungszunahme im späten Mittelalter und der Neuzeit und die damit verbundene steigende Anzahl von Tieren übte einen steigenden Druck auf den Alpboden aus. Da sich vor allem im romanischen Teil viele Alpen in irgendeiner Form im kollektiven Besitz befanden, definierte die Alpgenossenschaft, welchen Beitrag jeder Nutzer leisten muss. Dazu gehörte auch die Säuberung der Alpen, der Bau von Zäunen, der Kampf gegen Unkraut und Gestrüpp und das Zusammentragen von Steinen und Geröll zu einem Mäuerchen. Die Genossenschaft entschied auch entsprechend dem Wetter, wann die Alpung beginnen darf, wo geweidet wird und wann die Sömmerung beendet wird. Eine gute Alpgenossenschaft investierte auch in die Infrastruktur. Sie baute die Sennerei, Unterkünfte für das Personal, Wege, Zäune, Brücken, Holztröge; sie besorgte das für die Käseherstellung nötige Brennholz und vieles mehr.

Es gab auch Alpen, die von den Gemeinden alle zehn Jahre von neuem verpachtet wurden. Diese Unsicherheit dämpfte die Motivation der Genossenschaften, auf der Alp zu investieren. Weil im romanischen Kulturraum die Bauern im Sommer im Tal gebraucht wurden, stellten sie einen Senn ein. Er war der Chef auf der Alp, doch zum Team gehörte ein Hirte und für beide je ein Helfer. An einem bestimmten Stichtag in der Anfangszeit der Sömmerung melkten Senn und Hirte im Beisein der Genossenschafter die Kühe und die Milchmenge wurde auf die ganze Alpzeit von rund 90 Tagen extrapoliert um den zu erwartenden Ertrag zu schätzen. Diese auf Butter und Käse umgerechnete Menge musste der Senn am Ende der Alpzeit abliefern. Die Bauern waren natürlich daran interessiert, dass am Stichtag eine möglichst hohe Milchleistung erzielt wurde. Nun war es üblich, dass der Senn vor dem Stichtag die Kühe herumhetzte, um die Milchleistung zu senken. Umso schöner war der triumphale Einzug im Dorf, wenn er die Erwartungen übertraf.

 

Auch die Walser pflegten eine dreistufige Bewirtschaftung ihrer Alpen.

Dabei behielten sie ihren Hang zur Selbständigkeit und Einzelgängerei im Vergleich Gemeinbewirtschaftung der Romanen. Diese reglementierten ihre Dorfordnung bis ins Detail. Die Bewohner des romanischen Sprachraumes bevölkerten traditionell die tieferen Lagen. Sie pflegten Acker- und Fruchtanbau. Wenn die Tiere alpten, nutzten sie die Zeit für Feldarbeit. Das ist auch der Grund, weshalb sie sich genossenschaftlich organisierten und einen Senn anstellten. Die später zugewanderten Wallser wohnten in den noch freien Höhenlagen. Sie lebten ausschliesslich Vieh- und Aufzucht. Dabei besassen sie in der Regel auf drei Höhenstufen land, das freilich durch die Erbteilung zerstückelt wurde. Doch die Gebäude blieben in der Familie und deshalb lohnte sich der Bau auf so einer Privatalp. Freilich gab es auch Gemeindealpen, beispielsweise Schafalpen. Übergaben sie ein Privatgut der Gemeinschaft, versahen sie es mit einer Holztafel. Diese so genannte Tässele, ein geritztes Täfelchen war eine Art Ausweis, das über den Besitzer Auskunft gab. Oft lebte auf den Privatalpen der Opa, der als Senn fungierte. Er musste etwas vom Käsen verstehen, vor allem aber: Andere Arbeiten waren ihm zu viel. 

"Er ischt nüd mee, er cha z alp" sagte man in etwa in Vals.

Häufig war Sennarbeit auch Frauenarbeit. Ob sie von den Grosseltern oder der Mutter verrichtet wurde : die Kinder verbrachten den Sommer auf der Alp. Nach dem Melken am Morgen stiegen die Frauen in Vals oft ins Tal ab, kochten für die Männer das Mittagessen, halfen beim heuen und stiegen dann in der Hitze des Spätnachmittags wieder die zwei Stunden zur Alp hoch. Diese Zeit nutzten sie und strickten wandernd. Oben kochten sie dann wieder und versorgten die Kinder.

Auf genossenschaftlichen Alpen der Romanen arbeiteten in der Regel keine Frauen. Kinder gab es trotzdem: sie arbeiteten. Die Hirten hatten meist einen Buben als Gehilfen, selbst in den höchsten Lagen, wo Schafe und Ziegen weideten. Meist war er neben Hüteaufgaben auch verantwortlich für die Verbindung zur Kuhalp. Eine Genossenschaftsalp ist eine Arbeitsgemeinschaft, die sich für einige Zeit zusammenraufen musste. Das dies nicht ohne Reibereien ging, liegt auf der Hand.

Die Milchkühe weideten auf der besten Alp, die meist auch relativ nahe beim Dorf liegt. Dort steht auch die Sennerei, ein Kuhstall, ein Schweinestall und die Unterkunft für das Alppersonal. Die Schweine wurden als Molke-Verwerter gemästet : allerdings erst seit die Labkäseproduktion Einzug gehalten hat. Viele Genossenschaften hielten sich einen Zuchtstier auf der Alp, dem die Kühe zugeführt wurden. Mastochsen wurden selten gezüchtet und wenn man einen hatte, brauchte man ihn im Tal für die Feldarbeit. Die Kälber sind in den unteren Weidegebieten, die Rinder, das so genannte Galtvieh im oberen Teil. Galt sind Tiere, die man nicht melkt, das sind Kälber, Rinder, aber auch trächtige Kühe. Während die Kühe im Stall übernachten, verbringen die Rinder die ganze Zeit im Freien. Es ist üblich, dass in diesen Weidegebieten noch kleine Wäldchen stehen, meistens an der oberen Baumgrenze. Sie bieten den Tieren bei Unwettern Schutz. Manchmal steht auf dieser Alp für den Hirten eine zusätzliche bescheidene Unterkunft. Die Galtviehalpen waren im Gegensatz zu Kuhalpen auch Wildtieren, beispielsweise Bären ausgesetzt. Die höchstgelegenen Weiden wurden aber von Ziegen, Schafe, Pferden und später Fohlen genutzt. Pferde wurden zur Zucht genutzt und spielten früher bei der Alpbewirtschaftung eine durchaus wichtige Rolle, weil ihre Bedeutung, vor allem als Zugtiere noch grösser war. Auf höher gelegenen Alpen war eine Gründüngung verbreitet. Dabei wurden alle zwei Jahr die Mähung liegen gelassen. Während beim Stall auf der Kuhweide der Boden schnell überdüngt war und sich Amoniak liebende Pflanzen, etwa der giftige Eisenhut (diente früher zur Vergiftung von Wildtieren, ist aber in der Homöopathie ein Heilmittel), breit machten, fehlte er in abgelegenen Gebieten. Die Sennen und Hirten warfen den Mist vielerorts in Tobel, anstatt ihn von der Sennerei ausgehend zu verbreiten. Im Oberland, westlich der Greina, aber auch in Vals, war es noch lange Zeit üblich, leichter gebaute Ställe alle paar Jahre zu versetzen. Der Boden konnte sich so von der temporären Übernutzung erholen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm wegen der Industrialisierung die Zahl der bestossenen Alpen ab. Mit der einsetzenden Industrialisierung zogen Arbeitskräfte aus den verarmten Berggebieten fort. Eine Arbeit beim Bau der Passstrassen oder im aufkommenden Tourismus war lukrativer. Zudem lockte eine vermeintlich goldene Zukunft in Amerika oder Russland. Manche Alp in Graubünden drohte zu verlottern.

Einerseits fehlten die Arbeitskräfte, andererseits wurden die Kühe und ihre Milch wegen der Zuwanderung im Tal gebraucht, wo Textilmaschinen standen und Menschen hungerten. Tendenziell wurde dann das Gras in den Alpen geschnitten und ins Tal gebracht. 1815 bracht der Vulkan Tambora in Indonesien. Es war nach Ansicht heutiger Forscher der grösste Vulkanausbruch in den letzten 20'000 Jahren. Die Asche bedeckte den Himmel derart intensiv, dass in Europa der Sommer praktisch ausfiel. Eine unglaubliche Missernte führte zu Hunger und Elend. Die gute Seite dieser Katastrophe war ein Innovationsschub in der Landwirtschaft. Das Wissen über den Feldbau und die Tierhaltung sollte nicht mehr nur den Bauern überlassen werden. Landwirtschaft wurde zum Forschungsgegenstand und die landwirtschaftlichen Schulen und Messen das Ergebnis. Ab 1850 kamen auch die Alpen in den Fokus der Wissenschaft. 1863 wurde der Schweizerische Alpwirtschaftliche Verband (SAV) zwecks "Hebung der schweizerischen Alpwirtschaft" gegründet. Die Basis bildeten die Alpstatistiken, die ab 1864 erhoben und 1890 verbessert wurden. Die Schweizer Alpstatistik 1892-1912 entwickelte sich während Jahrzehnten zu einem internationalen Standartwerk. Sie diente als Grundlage für Fördermassnamen, etwa durch das Bundesgesetz von 1951 über die Förderung der Landwirtschaft, der Einbezug der Alpgebiete (1957), und die erstmals ausgeschütteten Sömmerungsbeiträge (1980). Seit 2002 können sie an Bedingungen, beispielsweise ökologische Auflagen geknüpft werden. Diese Verbindung geschah schon vor 100 Jahren, als Bergkantone wie Graubünden damit begannen, die Stosszahlen für die Alpen zu definieren. Bei der Festlegung orientierte sich Graubünden an den Erfahrungswerten der Genossenschaften und Kooperationen, denn die Bedingungen sind extrem unterschiedlich und hängen von der Sonneneinstrahlung, der Wasserverfügbarkeit und des durchschnittlichen Klimas ab.

Doch dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Alpen aus Sicht des Alpwirtschaftlichen Vereins uneffizient genutzt wurden. Die Organisation atmete den Geist des jungen Bundesstaates, dessen liberale Gründergeneration das Land modernisieren wollte. Aus heutiger Sicht wirken die Berichterstattungen etwa von H. Strüby etwas belehrend. Jedenfalls schreibt er über Somvix kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert, die Gemeinde verfüge über 13 grosse kommunale Alpen und über ein geringes Interesse für die "Hebung der Alpwirtschaft." Dieser Begriff ist immer wieder zu finden, nicht nur für die Greina-Region findet er Anwendung. Er gilt für ganz Graubünden. Weiter schreibt er, es wäre vom allgemeinen volkswirtschaftlichen Standpunkt aus zu begrüssen, wenn von solchem Überfluss durch Verkauf ein Teil der Alpen in andere Hände käme. Diese regere Tätigkeit würde zu mehr Wohlstand für alle führen. Mit anderen Worten: Die Alpen werden ein Wirtschaftsgut, Kühe werden mit Kennleistungen beschrieben, Effizienz und Management wird gefordert. Es geht nicht mehr darum, die eigene Familie zu ernähren, sondern einen Beitrag zur Volkswirtschaft zu leisten. Mit diesen neuen Anforderungen werden die Bauern nun zunehmend konfrontiert. Sie sollen sich und ihre Lebensweise hinterfragen, obgleich sie wiederum im ganzen Land glorifiziert werden. Die Einführung der Schwing- und √Ñlperfeste sind nur wenige Jahrzehnte alt und dienen der Herausbildung eines Schweizertums. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schickte die landwirtschaftliche Kommission Graubündens Berichterstatter aus, die dann in Wandervorträgen und Büchern ihre Kritik und Forderungen festhielten, wie etwa die Einführung einer Taxe für Sommerweiden, um den Nutzern den Begriff vom Wert dieser Güter beizubringen, den sie gegenwärtig nicht kennen würden, weil die keine Gegenleistung zu tragen haben.

Immerhin wurden in Graubünden 1910 noch 882 Alpen bestossen und die Alpwirtschaft bot Arbeit für 22'000 Arbeitskräfte : dies allerdings nur für die drei Monate der Alpzeit. Dennoch: Die Ernährung auf der Alp war gut, und mancher Bursche nutzte die Gelegenheit, während des Sommers wieder zu Kräften zu kommen, auch wenn der Lohn schlecht war. Ein Senn bekam noch in den 1940er Jahren für die drei Monate Arbeit in verantwortlicher Stellung nur 500 Franken. Dafür musste er nicht nur Käse herstellen, er sollte etwas von Tieren verstehen, Krankheiten erkennen, sie therapieren und deshalb auch verschiedene Kräuter mit medizinischer Wirkung einsetzen können. Von den 822 Alpen waren 572 Gemeindealpen, 151 Genossenschaftsalpen und 77 Privatalpen. 7 waren damals noch im kirchlichen Besitz. Total wurden sie mit 72308 Stössen belegt.


Literatur: 

Dr. K. Gutzwiler, Hirtentum und Alpwirtschaft und Handelsverkehr über die Alpen in der Pfahlbauzeit. Buchdruckerei Zimmermann, Waldshut.
Die Vieh- und Weidealpen an de Koblenz/Schweizer Nordampe des Lukmaniers, Verlag Sprecher, Eggerling und Co, Chur.
Strüby, die Alpwirtschaft im Kanton Graubünden, Verlag Vogt und Schild, Solothurn 1909.
Genossenschaften: Gemeinsam erfolgreich, Verlag Seegrund, St. Gallen, 2012.
Weiss: Das Alpwesen Graubündens, 1941. Eugen Rentsch Verlag Zürich.
Die Alpwirtschaft im Kanton Graubünden. Hrsg Schweizerischer alpwirtschaftlicher Verein. H. Strüby, Verlag Vogt und Schild Solothurn, 1909.
Carli Giger : Die Vieh- und Weidealpen an der Nordrampe des Lukmaniers, Verlag Sprecher, Eggerling und Co, Chur
Prof. Heer, Bündner Volksblatt 1846: Alpwirtschaft.
Jubiläumszeitschrift 150 Jahre Alpwirtschaftlicher Verein 2012: Die Alpwirtschaft im Wandel der Zeit

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Alp Diesruth: Im Widerstreit der Intressen
Die Alp Diesruth stand über Jahrhunderte zur Disposition zwischen Tessinern und Bündnern, die gleichermassen die raren Alprechte beanspruchten. Heute fährt sie durch ruhigere Gewässer.

Der Name Diesruth ist aus dem Lateinischen hergeleitet eine Verbindung der Wörter dorsum (Rücken) und rumpere (zerbrechen). Romanisch: dies (Rücken) und rumper (zerreissen, zerbrechen). Die Beschreibung trifft auf den Übergang in die Greina zu, die wie ein eingeschnittener Grat wirkt. Diesrut gehörte wie die Greina aus Vriner Sicht den Tessinern. Dennoch besassen die Lugnezer das historisch verbriefte Recht die Weiden für die Pferde zu nutzen. 1984 schrieb Retus Sgier über die geschichtliche Entwicklung der Alp Diesrut und der Alpgenossenschaft eine Diplomarbeit im Rahmen der Lehrerausbildung. Er war der Neffe des damaligen Präsidenten der Alpgenossenschaft Vinzens Walder. Laut Sgier wurde 1615 in einem Gerichtsurteil erwähnt, dass die Semioner vor etwa 125 Jahren die Alp Diesrut gekauft hätten. Vor Gericht verlangten die Vriner, dass sie einen Teil der Alp nutzen dürfen, aber sie bekamen nicht Recht. Das Urteil zeigt, dass die Semioner nicht nur Diesrut, sondern auch Zamuor besassen und darüber hinaus ein Schneefluchtrecht bis auf die Vriner Allmend. Das Urteil lässt aber vermuten, dass die Veräusserung der nahegelegenen Alp Diesrut wohl eher kurzsichtig war und dass schon bald Bedarf an diesen Weideflächen bestand. Es zeigte aber auch, wie die Alp genutzt wurde. Es spricht von 225 Kuhrechten, wobei ein Kuhrecht zwei Kälbern entspricht. Dies ist eine sehr intensive Nutzung, denn spätere Quellen sprechen 1880 von 60 Kühen, 20 Stück Galtvieh und 25 Schweinen, die im Sommer auf Diesrut leben. Auch der Alpberichterstatter Alfred Strüby gibt 1909 eine Stosszahl von 120 Stück Vieh an.

Aus Feuern geboren

In seiner Arbeit beruft sich Sgier auf verschiedene Quellen, die von einer Tragödie bei einer Familie Nöckel schreiben. In der Nacht des 14. Februar 1593 soll Christen Nöckel "Mutter und Schwester getötet, Haus und Stall angezündet" und die "Brandfackel in den Wald hinein" getragen haben, so dass der ganze Waldbestand gegen die Alpen Diesrut und Ramosa dem Feuer zum Opfer viel. Jedenfalls scheint vor dieser Zeit in dem Gebiet Wald existiert zu haben und danach nicht mehr. Dass einmal Wald existierte, bestätigt 1942 auch Victor Albrecht, Alphirte in Diesrut. Als man die Pflöcke eines Zauns etwa einen Meter tief in die Erde graben wollte, stiess man auf Wurzelrückstände.

Sollte es tatsächlich zu einem solchen Waldbrand gekommen sein, hat dies Bewirtschaftung von Diesrut verändert. Einerseits entfiel die Schutzfunktion des Waldes, andererseits gewannen die Semioner sehr viel Weideland. Umso wichtiger war das Schneefluchtrecht, denn die Tiere hatten ohne Wald weder Schutz noch Unterstand. Brennholz musste in späteren Jahrhunderten sogar von anderen Alpen herantransportiert werden ‚Äì etwa von der abgelegenen gegenüberliegenden Talseite Prau da Tschef. Später kauften die Semioner, das auf der Alp benötigte Holz von den Vrinern. Zwischen 1900 und 1910 spannten sie ein Stahlseil, zwischen den Alpen, was die Arbeit erheblich erleichterte. Der Alphirt aus den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts erinnerte sich gegenüber Sgier auch noch an die Milchverarbeitung in Diesrut im ausgehenden 19. Jahrhundert. Es gab auf der Alp zwei Sennereien. In der oberen Hütte wurde Butter, Käse und Zieger hergestellt. Die Produkte wurden zweimal wöchentlich mit zwei Eseln über die Greina nach Ghirone ins Tessin gebracht und von dort nach Semione weiter transportiert. Im Bereich der unteren Hütte befanden sich rund 30 Milchkühe und ein Unterstand für die Schweine. Hier wurde Käse produziert, von denen täglich zwei Laibe nach Puzzatsch gebracht wurden. Dort gab es einen Käsekeller, weil eine Lagermöglichkeit auf der Alp Diesrut fehlte.

Auf Diesrut existierte also offensichtlich die von den später auftretenden Alpberichterstatter monierte Kultur des Überlagerns nicht, bis die "Butter einen Bart" bekam. Wie im einleitenden Text erwähnt, kamen jedes Jahr am 7. September 10 bis 15 Semionerinnen und brachten den Käse nach Vrin, wo er mit Fuhrwerken über den Lukmanier in das Heimatdorf transportiert wurde. Am 8. September feierten die Damen in Vrin mit der einheimischen Bevölkerung eine gemeinsame Messe, tanzten, assen einen Festschmaus und machten sie sich mit den Schweinen und Kühen auf den Rückweg nach Semione. Die Aufteilung der Milchverarbeitung zwischen oberer und unterer Hütte wurde bis 1909 beibehalten. Dann wurde nur noch im oberen Teil gekäst. Ab 1912 wurde die Alp zunehmend mit Galtvieh bestossen. Bis 1918 sömmerten noch 20 bis 30 Kühe. Ab 1930 wurde die Milchwirtschaft ganz aufgegeben. Sgier schreibt 1984 in seiner Arbeit von Ruinen auf der Alp und meint damit die eingefallene obere Hütte, den Schweinestall und eine Hütte damals "Silla Val" genannt, die wohl als Hütte des Alppersonals diente. Diese Hütte lag zwar für die Beweidung ungünstig, hatte dafür am Weg zwischen Vrin und der Greina für den Transport eine gute Lage.

Tragische Schicksale

Die Alpstatistiken aus dem Jahre 1909 beschreiben Diesrut als 520 Hektaren gross Alp von denen 100 Hektar unproduktiv seien. Die Alp liegt auf einer Höhe zwischen 1808 Meter über Meer und 2450 Meter über Meer. Sie wird von einem Wanderweg durchschnitten, der von der Vrin auf die Greina führt. Anfangs des 20. Jahrhunderts wurde sie 54 Kühen, 13 Galt- und Zeitkühen, 18 Rindern, einem Stier, drei Eseln, und 20 Schweine bestossen.

Die Alp Diesrut wurde damals noch von den Semionern geprägt. Für ihre Nutzung nahmen sie Nachteile in Kauf. Wegen der hohen zu überwindenden Pässe reduzierte sich die Alpzeit manchmal auf kaum noch zwei Monate. Diese schwierigen Umstände waren wohl auch der Grund, weshalb oft nicht so viele Tiere in Diesrut sömmerten, wie dies möglich gewesen wäre. Sgier spricht in seiner Arbeit von Unterbewirtschaftung ‚Äì jedenfalls führte dies seiner Interpretation zufolge zu allzu glatten Hängen und dadurch 1917 zu einer schweren Lawine, welche die untere Hütte mit Steinfundament wegfegte. Für die Semioner war dies wohl ein weiterer Stein im Mosaik, das auf einen Rückzug hinwies. 1900 gerieten die Semionerinnen während des Alpabzugs auf der Greina in einen Wintereinbruch. Ein Mädchen blieb zurück, wollte die Schweine retten, verirrte sich und wurde schliesslich tot aufgefunden. 1918 kam der langjährige Säumer und Senn auf dem Rückweg ums Leben. Gegen den Rat eines Vriner Bauern brach er bei Schneetreiben auf, da sein Esel den Weg kenne. Er blieb verschollen bis man seine Leiche auf der Alp Camadra fand. Semione verpachtete die Alp Diesrut zwischen 1920 und 1922 und schrieb sie 1925 zur Versteigerung aus. 1920 pachtete sie eine Gemeinschaft der Nicht-Bürger von Brigels. Es war ein Zusammenschluss all jener, die zwar Bauern im Gebiet Brigels waren, nicht aber Ortsbürger und deshalb keinen Zugang zu den eigenen Alpen hatten. Die Brigelser verweigerten zwei Jahre lang den Zugang, obwohl genügend Land vorhanden gewesen wäre. Doch auch die Brigelser hatten ihre Probleme, als sie die Alp zuerst mit Kühen bestiessen. Weil die Alp von den Tessinern nur noch mit Galtvieh bestossen wurde, fehlten nun die Einrichtungen für eine Milchwirtschaft. Die Käsekeller waren schon bald voll und es mussten in Vrin Lagermöglichkeiten hinzugemietet werden. Im unteren Teil gab es zudem zuwenig Weiden, sodass das Galtvieh schon früh steigen musste, und damit Wiesen abgraste, die später einen höheren Ertrag gebracht hätten.

1925 ersteigerte ein Pachtkonsortium der Brigelser Nicht-Ortsbürger und Vriner Bauern die Alp von Semione und gründete daraufhin die Alpgenossenschaft. Die Vriner durften die Hälfte der Weide Uauls zur Sömmerung nutzen. Seit die Ställe neu gebaut wurden, besteht auch das alte Schneefluchtrecht nicht mehr. Eine Sennerei gibt es seit 1930 nicht mehr. Nicht die Käseproduktion steht im Zentrum, sondern die Aufzucht.

Zum Inhalt der Genossenschafts-Statuten gehörte die Bestimmung, dass das Alprecht jeweils nur an einen Nachkommen der Unterschreibenden vererbbar war. Von 1926 an wurden die Milchkühe der Genossenschafter nicht mehr in Diesrut gesömmert, sondern anderswo untergebracht. Diesrut wurde zur reinen Galtviehalp. Die 160 Stossrechte, die geschätzt wurden, füllten die Genossenschafter mit Fremdvieh, wenn nicht genügend eigenes Vieh vorhanden war. Die Bewirtschaftung mit Galtvieh war einfacher und weil sich die Aufnahme von fremdem Vieh als lukrativ erwies, pachteten die Genossenschafter zwischen 1926 und 1951 die Greinaebene hinzu. Im Pachtvertrag mit der Tessinergemeinde Aquila wurde festgeschrieben, dass die Hirtenhütte der Greina zwar verbessert werden darf, dass sie aber Eigentum Aquilas bleibt. Das hatte zur Folge, dass sie verfiel. Der ausgehandelte Pachtzins für die Alp Greina betrug bis 1940 900 Franken im Jahr. 1940 wollte in Auqila auf 1300 erhöhen, was die Alpgenossenschaft Diesrut mit folgenden Argumenten ablehnte. Einerseits sei das Pachtgebiet zu lange schneebedeckt und die Weidezeit zu kurz und die Hütten seien in einem mangelhaften Zustand. Die Pachtvorstellungen von Vrin beliefen sich auf 600 Franken, man einigte sich auf 700 Franken - unter der Bedingung, dass die Alpgenossenschaft eine Hirtenhütte und einen Steg über den Somvixer-Rhein erstellte. Während des 2. Weltkrieges war die Armee in der Greinaebene und erstellt dort elf Militärbaracken. 1945 mietete die Alpgenossenschaft für sechs Franken pro Tag einer dieser Baracken, sodass das Hirtenhüttenproblem gelöst war. Bei den Verhandlungen um eine neuerliche Pacht der Greinaebene verlangte Aquola soviel, dass keine Einigung mehr zustande kam. Gespannt blieb auch das Verhältnis zwischen der Alpgenossenschaft und der Bürgergemeinde Brigels, obwohl sie in Diesrut gemeinsame Interessen verband. Dies zeigt die Ablehnung des Brigelser Vorschlages von 1934, die Alpgenossenschaft solle ihre Kühe auf Brigelser Alpen weiden lassen und im Gegenzug 50 Rinder aufnehmen. Die alpgenossenschaftliche Gegenrechnung lautete: die Aufnahme von 35 Rindern ‚Äì mehr wäre ein Verlust. Die Stimmung war so gereizt, dass Brigels an Mitte der 1940er Jahre den gemeinsamen Pachtvertrag mit der Genossenschaft nur jährlich erneuern wollte ‚Äì oder eben nicht. Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt und die Brigelser Kühe sömmern auf den Alpen der Gemeinde Brigels, die brigelser Rinder, die dort keinen Platz finden auf Diesrut. Natürlich gegen die üblichen Taxen.

Die Auseinandersetzungen zeigen jedoch einmal mehr, dass früher der Alpboden einen grösseren Wert hatte. Es war nicht egal, ob einige Rinder mehr oder weniger weideten, wenn dafür im Winter teureres Futter hinzugekauft werden musste. Wie aus den Bedingungen für die Hirtenanstellung hervorgeht, arbeiteten auf der Alp Diesrut jeweils drei Zuhirten. 1931 betrug der Lohn 2’000 Franken für den Sommer, eine Kuh durfte kostenlos mitgenommen werden und die Genossenschafter verpflichteten sich, bei schlechtem Wetter zu helfen. Bei späteren Verträgen ging zwar der Lohn sehr moderat hoch, doch die Verpflichtung zu helfen, verfiel. Ab 1952 steigen die Löhne stark an und es wird immer weniger verlangt. Die Entlohnung der Alphirten passt sich offensichtlich der wirtschaftlichen Lage an.

Victor Albrecht, Alphirte auf der Diesrut erzählte Retus Sgier, wie das Leben als Galthirte 1925 war. Er verbrachte den Sommer in der gleichen Hütte, die in Toni Halters Roman "Il Caval√© della Greina" eine zentrale Rolle spielte. "Ich hauste zusammen mit drei Knaben. Uns standen zwei Pritschen übereinander, eine Kochstelle und eine Sitzgelegenheit zur Verfügung." Über die 1938 als Ersatz für die zerstörte Hütte "Silla Val" erbaute Hütte Zamuor sagte Albrecht: "Die Hütte war erbärmlich. Der Wind pfiff durch die Ritzen, die ich mehrmals mit Dreck und Kuhfladen zugepflastert habe. Auch die Innenausstattung liess zu wünschen übrig. Eine Strohpritsche, eine Feuerstelle sowie eine Sitzgelegenheit. Die Hütte glich eher einer Höhle als einer Behausung." Deshalb sagte Albrecht: "Die Militärbaracke oben auf der Greina war später viel komfortabler. Wertvoll war auch der Steg über den Somvixerrehin. Vorher mussten wir oft den ganzen Tag in nassen Schuhen in der Kälte herumlaufen. Ich habe deshalb selber einen Steg erbaut, doch leider wurde dieser durch ein Hochwasser weggeschwemmt." Weiter fährt er fort: "Das Wetter auf der Geina machte nie halbe Sachen. Ich erinnere mich an den Sommer 1948. Einmal geriet das Vieh schutzlos in ein fürchterliches Hagelwetter. Das Vieh hatte aufgeschürfte Ohren, blutverkrustete Ränder und Mäuler. Das Gras war gefroren und durch das Eis messerscharf. Die Greina war während des Sommers 30mal mit Schnee bedeckt." Irgendwann, zwischen 1950 und 1970 hörte die Alpung von Geissen und Schweinen auf. Es schien nicht mehr lukrativ. Seither halten die Sennen nur noch eine Milchkuh für den Eigenbedarf.

Retus Sgier hat die Protokollbücher der Alp Diesrut studiert. Er kommt zum Schluss, dass es innerhalb der Alpgenossenschaft auch Meinungsverschiedenheiten gab. Meist ging es um Fragen, die schnell existentiell wurden, denn reich waren die Bauern nicht. In den Statuten wurden beispielsweise festgehalten, dass alle Genossenschafter gezwungen waren, ihr Vieh selber auf Diesrut zu sömmern und die Taxen dafür zu bezahlen, wenn nicht genügend Fremdvieh angemeldet wurde. Das war 1937 und 1972 der Fall. Doch 1972 hielten sich zwei Genossenschaftsmitglieder nicht daran, doch die Gemeinschaft einigte sich im Sinne einer Verwarnung gütlich. Als dies noch einmal passierte, wurde den Beiden eine Rechnung präsentiert, welche der Alp Diesrut bei der Sömmerung zugeflossen wäre. Es kam zum Streit und die Herren wurden aus der Genossenschaft ausgeschlossen. Weil der Entscheid angefochten wurde, einigten sich die Alp und die Ausgeschlossen 1978 auf eine Entschädigung von 4’000 Franken plus Gewinnbeteiligung aus dem Ertrag der nächsten 25 Jahre.

 

Hohe Investitionen

Auch bei der Neuschaffung der Statuten 1977 ist der Passus wieder aufgenommen worden, dass jeder Genossenschafter bei Viehmangel sein Galtvieh auf Diesrut sömmern muss. Zu diesem Zeitpunkt besteht die Genossenschaft noch aus vier aktiven Mitgliedern. Die restlichen Genossenschafter sind zu alt oder keine Bauern mehr. Doch in Wahrheit ruht die Last des Unterhalts der Bauten, der Organisation der Bewirtschaftung, nur noch drei Schultern. Ein Bauer hatte den Hof seinem Sohn übergeben, der es ablehnte das Alprecht von Diesrut zu übernehmen. Diese drei hielten die Infrastruktur im Schuss und organisierten die Renovationen von Stallungen, die beispielsweise 1983 90’000 Franken kosteten. Auch heute kostet der Unterhalt viel Geld. 2011 wurden 260'000 in die Wasserversorgung und Tränkeanlage investiert und dieses Jahr (2014) steht die Renovation und Erweiterung oberen Hütte an. Geschätzte Kosten: 136'000 Franken.

In den Statuten steht zwar, dass ein Genossenschafter sein Alprecht verkaufen darf, dieses aber zuerst der Genossenschaft anbieten muss. 1977 beantragte der Erbe eines Alprechtes, der aber Genossenschafter war, den Verkauf der ganzen Alp Diesrut, da sie nur so gewinnbringend sei. Die Genossenschafter gingen auf die Idee nicht ein. Dennoch zeigt der rege Kauf und Verkauf der Alprechte auf Diesrut, dass auch im Lugnetz die Moderne eingekehrt war: Jugendliche zogen fort, andere dehnten ihren Bauernbetrieb aus und wiederum andere glaubten, ein wenig spekulieren zu können. Bereits in den siebziger Jahren sömmerten nur noch drei Genossenschafter ihr Vieh auf der Alp Diesrut.

Heute hat die Alpgenossenschaft Diesrut noch neun Mitglieder. Zwei aus Morrissen schicken im Sommer Tiere dorthin. Die restlichen Tiere kommen von 11 Bauern aus der Region Illanz. Drei liefern ihre Tiere aus dem Unterland. Ein Bauer schickt seine Tiere von Gächlingen (Schaffhausen) und einer von Andelfingen (Zürich) aus auf die Alp Diesrut. Beide sind schon seit rund 30 Jahren dabei erklärt Alexander Caduff, Präsident der Genossenschaft Alp Diesrut. Er selber hat seinen Hof an seinen Sohn übergeben und dieser alpt auch heute noch. Alexander Caduff hat die Bauern aus Gächlingen und Andelfingen per Inserat in einer Bauernzeitung gefunden, als er freie Weideplätze auf Diesrut hatte. Das gilt auch für den dritten Bauern, der aus Wäggis stammt. Er hat ihn vor 10 Jahren akquiriert. Heute macht man dies im Internet. Pro Kuh wird 100 Franken während der 90-tägigen Alpzeit bezahlt. Hinzu kommen noch 330 Franken Alpbeitrag pro Tier, welche die Genossenschaft als Alpbesitzerin kassiert. "Wenn die Beiträge auf diesen Niveau bleiben, hat unsere Alp auch eine Zukunft", erklärt Alexander Caduff.

 

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Lampertsch-Läntaalp: Von intensiver zu extensiver Nutzung

Die Lampertsch- und die Läntaalp wurden über Jahrhunderte aus dem Bleniotal bestossen. Mehrere Familien sömmerten das Vieh in dem von mächtigen Dreitausendern gesäumten Hochtal. Heute ist die Nutzung viel extensiver. Auch die Alpkäserei ist Geschichte.

Kleine weisse Punkte und ein gelegentliches Blöken: 850 Schafe verlieren sich in der Weite der steilen Wiesen oberhalb der Alpgebäude der Lampertschalp. Ein mächtiger Wasserfall begrenzt ihr Weideland. Der Länta-Gletscher, von dem heute nur noch ein kümmerlicher Rest übrig geblieben ist, und der Valser Rhein haben dieses von mächtigen Gipfeln gesäumte Hochgebirgstal geprägt. Die Weiden an den Hängen hat der Gletscher geformt, das fruchtbare Schwemmland im Tal der Fluss. Talabwärts machen 50 Mutterkühe, ihre Kälber und eine Schar Rinder im stotzigen, von Felsen durchzogenen, aber weniger steilen Gelände Mittagspause: Einige haben es sich auf dem Alpweg bequem gemacht. Es ist eine teils neue, teils wieder entdeckte, im Vergleich zu den heute üblichen, hochgezüchteten Rassen viel berggängigere Vieh-Generation: Schottische Hochlandrinder, Pinzgauer Rinder, Tiroler Grauvieh. In die steilen Hänge, wo einst Jungvieh geweidet hatte, das kaum grösser war als die heutigen Schafe, treibt sie Alois Stoffel dennoch nicht. "Sie würden problemlos zurecht kommen. Aber sie sind einfach zu schwer. Wir hätten schon nach wenigen Jahren erhebliche Trittschäden". Die Tiere stammen von Bauern aus der Region Ilanz, sie werden noch wie seit Urzeiten in einem Alpaufzug auf die Lampertschalp getrieben.

Stoffel bewirtschaftet die Alp zusammen mit seiner Gattin seit 1998. Eine eigene Landwirtschaft hat er nicht. Schon sein Vorgänger, der während 25 Jahren hier gealpt hatte, hatte den eigenen Betrieb aufgegeben und im Winter als Skilehrer gearbeitet. Mit dem Alpkäsen hat Stoffel vor einem Jahrzehnt aufgehört. Die Lust sei ihm angesichts der immer schärfer werdenden Hygiene-Vorschriften vergangen. Die Investitionen wären in keinem Verhältnis zu den erzielbaren Erträgen gestanden. Heute wäre es aber auch kaum mehr möglich, Alpkühe aufzutreiben. Die Bauerfamilien aus Ilanz und Umgebung, die seit mehreren Generationen ihr Vieh auf der Lampertschalp sömmern, haben alle auf Mutterkuhhaltung umgestellt. Und die auf Hochleistung getrimmten Milchkühe aus dem Flachland kämen mit der kargen Kräuterkost auf der Alp kaum mehr zurecht. Die Milcherträge wären zu gering. Zudem ist selbst der Ausschank von Rohmilch heute verboten ‚Äì sie müsste zuerst pasteurisiert werden. So dient die Alp nur noch der reinen Fleischproduktion, während ein Helikopter Brausewasser und andere moderne Köstlichkeiten zur nahen Länta-Hütte am Fusse des gleichnamigen Gletschers fliegt. Dort entspringt der Valser Rhein. Vor vielen Generationen wurde auch die Länta-Alp noch mit Grossvieh bestossen. Auch Käse wurde hergestellt. Seit einem guten Jahrhundert weiden hier aber nur noch Schafe. Auf der Länta- und der Lampertschalp wurden noch bis in die 1950er-Jahre bis zu 2000 Schafe gealpt. Die Schafzahl ist heute auf 850 gesunken.


Ein Bild aus den 1950er-Jahren, als die Lampertschalp noch weit intensiver bewirtschaftet wurde.

 

Regina Capaul hat als junge Mutter von zwei Kleinkindern die Sommer 1965 und 1966 auf der Lampertschalp verbracht. Zusammen mit ihrem Bruder und vier Buben bewirtschaftete sie die Alp. Sie war zuständig für den Haushalt, die Alpkäserei und die Butterproduktion. Zu den 28 Kühen kamen 35 Zuchtstierkälber, 100 Rinder und 1300 Schafe. Ihr Bruder hütete die Schafherde, zwei Buben waren für die Behirtung des Galtviehs zuständig, einer für die Stierkälber und einer für die Kühe. Elektrozäune gab es noch nicht. Ein Teil des Rahmes wurde abgeschöpft, um Butter zu produzieren. Die entfettete Milch wurde zu einem Teil verkäst, zu einem andern Teil an die Stierkälber verfüttert.

Zu der Zeit war es schon drei Generationen her, dass die Lampertschalp aus dem Bleniotal bestossen worden war. Um das Jahr 1885 hatte, nach einigen strengen Wintern, der einen Viehauftrieb aus dem Tessin nur mit grosser Verspätung erlaubte, eine über 400-jährige Tradition geendet. 1451 hatten die Gemeinden Valentino, Castro und Marolta einen Drittel der Alp gekauft. Die anderen Teile gehörten einer Tessiner Familie und den "Tautonici", den Walsern aus Vals. Tessiner, Romanen und Valser Familien bewirtschafteten als Pächter die Alp über Jahrhunderte. Manche taten sich in einer frühen Form der Alpgenossenschaften zusammen, manche arbeiteten für sich. 24 Alphütten haben Archäologen nachgewiesen. Es gab auch eine Kapelle, die in den 1920er-Jahren von einer Lawine hinweggefegt wurde. Die Blenieser hatten einen aussergewöhnlich beschwerlichen Weg hinauf zur Alp. Die schwierigste Passage war die Felswand, die es auf dem Weg vom Soredapass auf 2759 Metern hinunter ins Tal zu bezwingen galt. Tonnen von Steinen mussten für den Saumpfad verlegt werden, einige der Stützmauern waren meterhoch. Nur kleine Reste haben sich erhalten. Begangen wurde auch die Bocchetta di Fornee etwas weiter talaufwärts. Der Soredapass war auch für den Fernhandel von einiger Bedeutung. Hatte man diese hohe Hürde einmal gemeistert, ging es vergleichsweise bequem in sanftem Abstieg hinunter nach Vals.

Acht der einstmals 23 Hütten haben sich erhalten. Genutzt werden heute nur noch drei. Der Valser Rhein hat sich wegen der anhaltenden Gletscherschmelze, die auch viel Geröll ins Tal spült, in den vergangenen Jahrzehnten wieder um einiges breiter gemacht. Einer seiner Vorgänger sei schockiert gewesen, erzählt Alois Stoffel, als er nach Jahrzehnten der Alp wieder einen Besuch abstattete. Die besten Weiden habe der Rhein zerstört. Der Niedergang der Lampertschalp hatte aber schon zuvor eingesetzt. In verschiedenen Alpkastastern und Aufzeichnungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Bild einer schlecht gepflegten Alp vermittelt. Das galt offenbar nicht nur für die Lampertschalp. 5‚Äò380 Hektaren auf den 14 Alpen seien nutzbar, heisst es im 1909 erschienen Buch "Die Alpwirtschaft im Kanton Graubünden", als dessen Herausgeber der Schweizerische Alpwirtschaftliche Verein zeichnet. Für eine "intensive Bearbeitung" fehlten "nötige Hände und nötiger Geist". Autor H. Strüby, der Zentralsekretär des Verbandes, führte den Missstand auf die private Halterung und Käserei zurück. Heu und Dünger würden den Alpzwecken oft "entfremdet", es gebe keinerlei Modernisierung oder Verbesserungsmassnahmen. So sei eine vor Jahren erstellte Wasserleitung auf der Lampertschalp nicht mehr erneuert worden. Bestossen wurde die Lampertschalp zu der Zeit nach einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1901 mit 63 Kühen, 83 "älteren Rindern", 27 Kälbern, zwei Pferden, 1000 Schafen, 40 Ziegen und sechs Schweinen während 83 Tagen. Knapp 20 Jahre später dasselbe Bild: "Es wird wenig geleistet", heisst es im "Bericht über die Alpinspektionen im Kanton Graubünden". Die Bestossung war leicht gesunken. Die jetzigen Pächter brächten "wenigstens jährlich den Dünger aus. Gutes Weideland könnte durch Entwässerung gewonnen werden. Notwendig wäre ein besserer Unterhalt der Alpwege". 1943 wurde die Lampertschalp mit 125 Stück Rindvieh und 500 Schafen bestossen, auf der Läntaalp weideten weitere 1200 Schafe. 1977 waren es 130 Kühe und Rinder, 20 Ziegen und 900 Schafe (zusammen mit der Läntaalp).




Mutterkuhhaltung, auf dem Bild ein Kalb einer schottischen Hochlandkuh, auf der Lampertschalp. Die viel leichteren Rinder belasten die Böden weit weniger. (Bild: Fitze)

 

1957 kauften die Kraftwerke Zervreila AG die Alp von den Tessinern. Mit der Alpwirtschaft hatten sie nicht viel am Hut. Vielmehr sollte oberhalb des 1959 eingeweihten Zervreila ‚Äì Stausees ein Naturdamm gebaut werden, der den Valser Rhein bis zur Alp Länta zurückgestaut hätte. Das Valser Stimmvolk machte diesen Plänen 1989 in einer Urnenabstimmung mit einem Nein zum Projekt einen Strich durch die Rechnung. Inzwischen ist auch ein zweiter Plan, der wohl das Ende des Alpbetriebes bedeutet hätte, in der Schublade verschwunden. Ein kompletter Rückzug des Menschen würde auch das Ende einer über Jahrhunderte gewachsenen Kulturlandschaft bedeuten. Alois Stoffel hat mit einigen gezielten Eingriffen mit dem Mäher Schneisen in die bereits vergandenden und verbuschenden Flächen geschlagen, um den Schafen die Wiederbeweidung zu erleichtern. Die überdüngten, mit Placken überwucherten Flächen am Talboden hat er immer wieder gemäht und von den Schafen abgrasen lassen. Mit Erfolg. Die Placken sind verschwunden.

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Blenieser Alpen: Vom Wandel der Alpwirtschaft 

Über Jahrhunderte wurden die Alpen im Bleniotal intensiv bestossen. Jeder Grashalm war wertvoll. Um 1900 begann der allmähliche Übergang zu einer extensiveren Bewirtschaftung. Er hält bis heute an. Betroffen sind auch die Alpen im Greina-Gebiet.

Im Jahr 1205 verpflichten sich die Bauern der Gemeinde Semione im Bleniotal zum Unterhalt der Brücke Samino bei Campo Blenio auf Gebiet der Gemeinde Olivone. Sie muss das Gewicht von Zugochsen, Kühen und Pferden tragen können. Die Brücke sichert den Zugang zu den Alpen Berneggio und Camadra. Letztere hat das Patriziat Ghirone dem Patriziat Semione zur Bewirtschaftung verpachtet. Die Pächter sollen selbst besorgt sein für den Brückenunterhalt. Dieses auf der Selbstbestimmung der Bürger (patrizi) beruhende Gemeinwesen regelte die öffentlichen Angelegenheit und die Gerichtsbarkeit im Tal. Die Patriziate entstanden um die erste Jahrtausendwende, als es gelang, sich allmählich aus den Fesseln der kirchlichen und weltlichen Feudalherren zu befreien und eine weitgehende Selbstbestimmung zu behaupten. In die Geschichte eingegangen ist der 1182 beschworene "Eid von Torre", in dem die Blenieser und die Leventiner sich jeglicher äusseren Gerichtsbarkeit verweigerten. Die Patriziate gingen in der modernen Schweiz in die Ortsbürgergemeinden über. Heute sind vieler dieser einstmals stolzen, selbstbewussten Patriziate im Bleniotal überaltert, die Bevölkerung ist stark geschrumpft, und die so enge Bindung an die Land- und Alpwirtschaft wird allmählichen zur fernen Erinnerung.

Die über achthundert Jahre alte, damals nur mündlich geschlossene Vereinbarung zwischen den Patriziaten Ghirone und Semione hat sich dank schriftlich festgehaltener Zeugenaussagen in einem Rechtsstreit erhalten, bei dem es um Nutzungskonflikte um Weiden, Äcker und Alpen im Bleniotal ging. Es ist einer der ersten schriftlichen Belege zur Alpnutzung im Bleniotal überhaupt. Die erhaltenen Akten zeigen eine offenbar schon über Generationen entwickelte Landwirtschaft, in der Besitz und Landnutzung bis ins kleinste Detail geregelt waren. Die Alpen spielten eine zentrale Rolle. Bestossen wurden sie primär mit Kühen, aber auch Schafe, Schweine und Ziegen wurden gesömmert. Manche Voralpen durften erst nach dem ersten Heuschnitt bestossen werden, Pferde und Ochsen hatten auf einigen Alpen ausdrückliches Weideverbot. Es kam auf jeden Grashalm an. Die sich wie ein roter Faden durch das Mittelalter ziehenden Konflikte um die Nutzung des kargen Landes liessen sich letztlich erst lösen, als in einem eigentlichen Wettrennen im Spätmittelalter zunehmend Alpen jenseits der Bergketten auf der unter weniger Bevölkerungsdruck leidenden Bündner- und Urnerseite erworben wurden.


Blickauf Malvaglia, um 1950.

 

Im Kern hat sich diese Bewirtschaftungsweise bis heute erhalten. So ist die Alpe Camadra nach wie vor im Besitz des Patriziats Ghirone und wird‚ wahrscheinlich seit weit über 1000 Jahren - vom Patriziat Semione bewirtschaftet. Doch die Rahmenbedingungen haben sich seit dem 19. Jahrhundert radikal gewandelt. Von diesem Wandel solldie Rede sein: Camadra, Cavallasca und Motterascio ‚Garzotto.

Im Jahre 1895 wurden im Kanton Tessin erstmals Tierzählungen auf den rund 450 Alpen durchgeführt. Neben 16105 Kühen, 6706 Rindern, 603 Kälbern, 168 Stieren wurden auch 7824 Schafe, 33510 Ziegen und 3853 Schweine gealpt. 1909 wurde erneut gezählt, und es zeigte sich ein Rückgang "wie in keinem anderen Alpenkanton", wie es in dem vom Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verband erstellten Alpenkataster des Tessins heisst. 11912 Kühe, 4152 Rinder, 1284 Kälber, 131 Stiere, 5768 Schafe, 29152 Ziegen und 3377 Schweine nehmen sich aus heutiger Sicht nicht als gar so dramatischer Rückgang aus‚ heute werden im Tessin kaum mehr 5000 Kühe auf die Alp geführt, von denen ein Grossteil aus der deutschen Schweiz stammt. Der ganz grosse Aderlass sollte erst noch kommen. Die Zahlen belegen aber einen landwirtschaftlichen Strukturwandel, der seine Wurzeln in der um 1800 einsetzenden Industrialisierung, der allmählichen Aufgabe des Ackerbaus und einem starken Bevölkerungsrückgang hat. 1901 wurden auf den 38 Blenieser Alpen insgesamt noch knapp 400 Arbeitskräfte ‚eine knappe Mehrheit Frauen‚ gezählt. Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 6500 Personen, Kinder und Alte eingerechnet, ist das eine nach wie vor stattliche Zahl. Ob diese Älplerinnen und Älpler auch ausserhalb des Tales rekrutiert wurden, ist nicht überliefert. Es fehle allenthalben an Alppersonal, heisst es im Alpkataster 1909. Die Hauptschuld dafür trage die "grosse Auswanderungslust der männlichen Jugend". Das war eine die Tatsachen verdrehende Unterstellung. Auswandern war keine Lust, sondern eine Bürde, die Tausende Tessiner vor allem im 19. Jahrhundert auf sich nahmen. Die elenden Lebensbedingungen in vielen Tessiner Bergtälern liessen meistens keine Wahl, und vor allem die Neue Welt in Amerika verhiess ein besseres Leben. Eine Ausnahme machten laut Alpkataster die Marronibrater vorwiegend aus dem Bleniotal, die "als volkstümliche und beliebte Kastanienverkäufer" im Winter in "unseren Städten arbeiteten", im Sommer aber ihren "ländlichen Beschäftigungen" nachgingen -ein schiefes Klischeebild, das sich bis heute erhalten hat. Zu der Zeit waren aus vielen Marronibratern schon längst Industriearbeiter geworden. Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Noch um Mitte des 19. Jahrhunderts gingen über 1000 Blenieser einer saisonalen Beschäftigung ausserhalb des Tales nach. Bis zur Jahrhundertwende hatte sich diese Zahl halbiert. In dem halben Jahrhundert zwischen 1850 und 1900 ging die Bevölkerung des Bleniotals von 7687 auf 6363 Einwohner zurück. Am dramatischsten war der Rückgang in Aquila, das 452 seiner einstmals 1171 Bürger verlor. Die Belobigung der Kastanienverkäufer war letztlich ein dem politischen Zweck des Alpwirtschaftlichen Verbandes geschuldetes Wunschdenken: Vom Rathause aus müssten die Alpen verbessert werden, hatte die Parole an der Generalversammlung 1896 gelautet. Sie gilt bis heute.

Ein halbes Jahrhundert später zeigt sich die Landwirtschaft im Bleniotal weiter auf dem Rückzug. Vor allem der Ackerbau ist fast zum Erliegen gekommen. Hatten 1850 noch 24 Mühlen das Mehl gemahlen, waren es hundert Jahre später nur noch deren vier. Die Zeit der weitgehenden Selbstversorgung war vorbei. Der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft war von 60 auf 44 Prozent gesunken. Viele Kleinstbetriebe hatten aufgegeben. Um 1900 hatte es noch rund 1200 Bauernhöfe mit Flächen von weniger als einer Hektare gegeben. Um 1950 waren es noch knapp 300. Insgesamt hatte sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe auf etwa 1000 halbiert. Gleichzeitig war die Produktion stark intensiviert worden. Die Zahl der Rinder und Kühe pro 100 Einwohner verdreifachte sich in den ersten fünf Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Auf einen Betrieb kamen im Durchschnitt dennoch nur gerade ein halbes Dutzend Rinder und Kühe und ein knappes Dutzend Ziegen‚ zu viel zum Sterben, zu wenig zum Überleben. Der Rückgang traf auch die Alpwirtschaft. Deutlich weniger Tiere wurden gealpt. Um die Effizienz zu steigern, wurde die Zusammenarbeit auf den Alpen verbessert. Die über Jahrhunderte übliche private Alpung durch jeden Familienbetrieb, die zu eigentlichen Sommersiedlungen auf manchen Alpen geführt hatte, wurde mehr und mehr aufgegeben. Die Arbeit wurde nun gemeinschaftlich organisiert und an einzelne Mitglieder der Boggie genannten Genossenschaften oder an angestellte Älplerinnen und Älpler delegiert. Der Personalaufwand war noch immer beträchtlich. Auf den 26 Alpen des oberen Bleniotales, zu denen auch die Alpen Camadra, Motterascio ‚ÄìGarzotto und Cavallasca gehören, arbeiteten 1950 noch 79 Personen. Das war eine Halbierung des Personalbestandes. Der Rückgang setzte sich fort‚ bis heute.


Alp Monti die Compietto im Olivonetal, um 1950.

 

Alpe Camadra

"Eine recht grosse und gut geeignete Alp" sei die Alp Camadra, heisst es Tessiner Alpkataster von 1976. Sie liegt im Val Camadra, das sich von Campo Blenio bis zum Greinapass erstreckt, auf einer Höhenlage von 1500 -2490 Meter. Die Alp Camadra gehört dem Patriziat Ghirone, ist aber schon seit langer Zeit an das Patriziat Semione verpachtet. 1901 wurde die Alp während 70 Tagen bestossen und von sechs Männern bewirtschaftet. Gealpt wurden 80 Kühe, 70 Rinder, 1 Stier, 85 Geissen, 22 Schweine und zwei Esel. Rund 1,4 Tonnen Magerkäse, 700 Kilo Butter und 450 Kilo Frischkäse wurden damals produziert. Damit gehörte die Alp zu den ertragreichsten im Bleniotal. Die 5950 Franken, die sich damals erwirtschaften liessen, würden heute etwa dem Zehnfachen entsprechen. Der Bau des 1963 fertig gestellten Luzzone -Stausees tangierte auch die Alp Camadra. Die Weiden im Talgrund sind wegen der Abzweigung einiger Quellen weniger fruchtbar. Als Kompensation baute das Kraftwerk eine Erschliessungsstrasse bis Pian Gerrett auf 2000 Metern. Seither ist die Alp Camadra mit geländetauglichen Fahrzeugen erreichbar. Die Eigentümerin der Alp, das Patriziat Semione, hat das vertraglich zugesicherte Recht, ab dem 10. September auch die tiefer gelegenen Weiden bis zum Wintereinbruch mit Schafen zu bestossen.

Bis in die 1950er-Jahre wurde die Alp gemeinschaftlich genutzt, die Bewirtschaftung entsprach im Wesentlichen jener der Zeit um 1900, wenn auch mit etwas weniger Tieren. 1950 etwa wurden noch 74 Kühe, 59 Rinder, 21 Schweine und 80 Ziegen auf die Alp getrieben. Zur Zeit des Kraftwerkbaus wurden Stallungen und Hütten saniert. Seither ist die Alp an einen privaten Nutzer verpachtet und wird ausschliesslich mit Kühen aus dem Tal und seit drei Jahrzehnten auch mit Schafen bestossen. Einerseits hat die Alp die Tradition der Milchkuh-Sömmerung beibehalten, ja sogar leicht ausgebaut, anderseits ist die traditionelle weitere Nutzung mit Sömmerungsrindern, Geissen und Schweinen komplett aufgegeben und durch die wesentlich weniger personalintensive Beweidung mit Schafen ersetzt worden. Diese grasen heute auch auf manchen Weiden, die seinerzeit von den damals wesentlich leichteren und auch im steilen Gelände trittsicheren Kühen genutzt wurden. Die Stallungen für die Kühe sind modern und mit Melkständen ausgestattet. Es wird nur wenig Gülle ausgebracht. Die stellenweise Nutzung von Waldweiden verhindert wirksam eine Wiederbewaldung. Während die Kuhalp eine der selten gewordenen Erfolgsgeschichten schreibt, mit einem weitherum gerühmten AOC-Alpkäse, bereitet die Schafalp, auf der vorwiegend Schafe aus dem Bleniotal gesömmert werden, einige Sorgen. Bis heute steht keine Hütte zur Verfügung. Stattdessen muss ein Wohnwagen mit dem Helikopter angeflogen werden. Der Bau einer Hütte wird mit 300’000 Franken veranschlagt. Das Geld dafür sei schlicht nicht vorhanden, sagt Michele Tognu, Präsident des Patriziats Semione.

Alpe Cavallasca

Die Alp erstreckt sich von 1450 bis auf 2240 Meter im Val Cavallasca, einem Seitental des Val Luzzone. Laut Statistica Generale delle 465 Alpi Ticinesi (1901) muss man sich auf der Alp einen sehr lebhaften Sömmerungsbetrieb vorstellen. Zwei Männer und neun Frauen weilten während der 60 Alptage auf der Alp. Dafür standen nicht weniger als 14 Ställe und Hütten zur Verfügung. Man wirtschaftete wie im Tal getrennt. Die Alp wurde damals mit 62 Kühen, 44 Rindern, 1 Stier, 200 Ziegen, 21 Schweinen und zwei Eseln für Transportzwecke bestossen. Der durchschnittliche Milchertrag pro Kuh und Tag von fünf Litern lässt auf geradezu zierliche, sehr geländegängige Tiere schliessen. Heute sind 30 Liter zur Norm geworden. Der mit Magerkäse, Butter und Ricotta erwirtschaftete Umsatz von 4100 Franken (zu heutigem Wert etwa 400’000 Franken) lässt erahnen, wie wichtig die Alpen damals auch aus ökonomischer Sicht waren. Ein halbes Jahrhundert später wurde die Alp mit deutlich weniger Tieren bestossen. Im Alpsommer 1950 waren es 56 Kühe, 7 Rinder, 14 Schweine und 110 Ziegen.

Die Alp wurde 1953 im Zuge des Stauseebaus im Val Luzzone mit einem neuen Saumpfad erschlossen, Ställe und Alpgebäude mit einem Aufwand von 100’000 Franken saniert. Zwei der alten Hütten blieben in Verwendung. Das Alpgebiet ist seither verkleinert und wird erst ab einer Höhenlage von 1700 Meter genutzt. 1996 sind die Alpgebäude mit einem Aufwand von 270’000 Franken renoviert worden, eine Melkanlage wurde eingebaut und die Alpkäserei technisch auf den neuesten Stand gebracht, mit Gasheizung und moderner Ausrüstung. Der Niedergang der Alpkäserei liess sich damit nur hinauszögern. Es fehlt vor allem an einem befahrbaren Zugang.

Die Bestossung war schon seit Jahrzehnten rückläufig. Der Tessiner Alpkastaster von 1976 vermeldet noch 55 Stösse in 70 Tagen (Anfang Juli bis Mitte September). In den 1990er-Jahren wurde dieser Wert kaum mehr erreicht. Bis vor zwei Jahren lag die Zahl der gealpten Kühe noch bei etwa 30, dazu kamen 200 Ziegen. Es war immer schwieriger geworden, Alpkühe aufzutreiben. Die für viele Alpen zunehmend wichtigeren Wanderer kommen kaum. Der Weg endet auf der Alp, ein Zugang zur Greina-Hochebene ist zwar für geübte Berggänger durchaus machbar, den einst vom geländegängigen Alpvieh genutzten, heute weitgehend verfallenen und nicht markierten Saumpfad nutzen aber nur noch Gämsen.

Seit diesem Jahr ist die Käseproduktion ganz eingestellt, der Alpbetrieb ist auf Mutterkuhhaltung mit 40 Kühen und ihren Kälbern umgestellt worden. Vom einstigen Hochbetrieb ist nicht mehr viel übrig geblieben. Heute arbeiten noch zwei Personen als Pächter auf der Alp. Für das Patriziat Ghirone ist die Bedeutung der Alp, die jährlich einen Pachtzins von 2’800 Franken einbringt, stark zurückgegangen. Die aus den drei Weilern Baselga, Cozzera und Aquilesco bestehende Kommune zählte im 17. Jahrhundert noch knapp 400 Einwohner. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerungszahl, bedingt durch die starke Abwanderung, bereits halbiert. 1900 wurden noch 81 Einwohner gezählt. Heute sind es knapp 40 vorwiegend ältere Menschen. Es gibt noch zwei landwirtschaftliche Betriebe. Aldo Giamboni, Präsident des Patriziats, ist bei einer Bank in Bellinzona tätig.

 

Motterascio -Garzotto

Mit 250 Franken beteiligte sich das Patriziat Aquila 1891 am Bau eines Saumpfades von der Alp Ratüsc hinauf auf die Alp Motterascio. Die Gesamtkosten lagen bei 1000 Franken. Damit wurde der Viehauftrieb auf die 1750 bis 2540 Meter gelegene Alp Motterascio erheblich erleichtert. Heute ist dieser auch von vielen Wanderern genutzte, für einen Bergpfad unüblich breite Weg sichtlich in die Jahre gekommen und muss dringend saniert werden. 1 Million Franken werden dafür veranschlagt. Das Patriziat unter Präsident Alessio Rigozzi, seit vier Jahrzehnten im Amt, kann das Geld alleine nicht aufbringen und sucht dringend nach Sponsoren. So ändern die Zeiten.

Die beiden Alpen Garzotto und Motterascio wurden über Jahrhunderte von verschiedenen Familienbetrieben getrennt bewirtschaftet, die über je ihre eigene Infrastruktur verfügten. Auf der Alp Motterascio arbeiteten laut Tessiner Alpstatistik von 1901 während 80 Alptagen 2 Männer und sieben Frauen. Je 13 Hütten und Ställe standen zur Verfügung. Bestossen wurde die Alp mit 80 Kühen, 80 Rindern, einem Stier, 200 Ziegen, 4 Schafen und 25 Schweinen. 1,4 Tonnen Magerkäse, 300 Kilo Butter und 300 Kilo Ricotta brachten einen Ertrag von 4’100 Franken (entspricht nach heutiger Kaufkraft etwa 400’000 Franken).

In den 1930er-Jahren liess sich der ineffiziente Alpbetrieb mit verschiedenen privaten Alpbewirtschaftern nicht mehr aufrecht erhalten. Auf Initiative des Patriziates wurde eine Boggia (Alpgenossenschaft) gegründet mit einer zentralen Käserei und einem angestellten Hirten. Dennoch waren die Bestossungszahlen deutlich rückläufig. 1950 trieben die Hirten noch 42 Kühe, 57 Rinder, 10 Schweine und 140 Ziegen auf die Alp. Der Bau des Luzzone-Stausees brachte eine Neu-Organisation der Alpen Garzott, Motterascio und der benachbarten Alp Garzora. Die Alpen Motterascio und Garzotto sind seit 1961 zusammen gelegt, die Infrastruktur wurde inklusive Alpkäserei erneuert. 1957 waren die beiden Alpgenossenschaften fusioniert worden, nachdem sechs Jahre eine Lawine einen Teil der Alpgebäude zestört hatte. Im Gebiet der Alp Garzora, die zuvor noch mit 58 Kühen, 50 Rindern, 150 Ziegen und weiterem Kleinvieh bestossen worden war, weiden seit 1964 nur noch Schafe. Ein Teil der Weiden der Alp Garzotto fiel dem Bau des Stausees im Val Luzzone zum Opfer. Die Alp Garzotto wurde nun mit einem reduzierten Viehbestand (50 Milchkühe und 45 Rinder) als Voralp von Ende Juni bis Mitte Juli bestossen, danach sömmerte das Vieh auf der Alp Motterascio bis Ende August, um im September nochmals auf den Weiden der Alp Garzotto zu grasen. Diese Alp ist mit Fahrzeugen erreichbar. Auf die Alp Motterascio führt eine 1961 gebaute und 1995 erneuerte Transportseilbahn.

Heute wird die Alp Motterascio - Garzott mit 50 Kühen und 40 Rindern bestossen. Die Alpgebäude auf der Hochalp Motterascio sind vor wenigen Jahren erneuert worden. Dazu kommt eine behirtete, 1300-köpfige Schafherde mit Schutzhunden, die im Hochsommer auf der Greina weidet. Die Schafe stammen vorwiegend aus dem Bleniotal und der Region Biasca. Die Nutzung ist weit weniger intensiv als vor einem Jahrhundert, die Weiden sind in einem guten Zustand. Die anstehende Erneuerung des Saumpfades hinauf auf die Alp Motterascio könnte auch so etwas wie eine Nagelprobe für die Zukunft der Alp sein. Denn die 1,1 Millionen Franken müssen weitgehend von Sponsoren aufgebracht werden. Es wäre ein Bekenntnis zum Wandertourismus und zur Alpwirtschaft gleichermassen. Weitere Informationen erteilt Alessio Rigozzi, Patriziato generale di Aquila, 6719 Aquila, 079 222 77 49, e-mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

 

Weiterer Rückgang wahrscheinlich

Insgesamt ist die Bewirtschaftung der Alpen im Bleniotal heute weit weniger intensiv als noch vor einem Jahrhundert, sowohl, was die Personalstärke als auch die Viehzahl anbelangt. Während immer mehr Rindvieh aus der Deutschschweiz gesömmert wird, werden die Schafe nach wie vorwiegend aus der engeren Region auf die Alpen des Greinagebietes getrieben. Der Prozess scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Der in den vergangenen Jahren schweizweit zu beobachtende Abwärtstrend bei der Bestossung der Alpen könnte die auch im Bleniotal zu beobachtende Verbuschung, in den tieferen Lagen teilweise auch Verwaldung, noch verstärken.

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Alp Greina: Von Pferden und Schafen

Die Alp Greina gehört seit über fünf Jahrhunderten dem Patriziat Aquila. Bis vor einem Jahrhundert weideten Pferde auf den ebenen Flächen. Heute sind sie von Sumvitger Schafen und Tessiner Rindern abgelöst.

Es spukt auf der Greina. Ein Reiter auf einem schwarzen Hengst ist dazu verdammt, ewige Busse zu tun für ein schmieriges Geschäft, das ihn zum reichen Mann gemacht hatte. Er hatte zwei Brüder beim Kauf der Weiderechte für eine Herde Pferde auf der Alp Greina über den Tisch gezogen. Jeder, der den Mann sieht, soll binnen eines Jahres sterben, heisst es. Leo Tuor, in den Jahren 1985 - 1999 auf der Alp Greina als Schafhirt tätig, erzählt die Legende in seinem Buch "Giacumbert Nau". Es handelt von der Einsamkeit des Hirten, einem nachdenklichen Zeitgenossen und Einzelgänger, der im steten Konflikt zwischen Altem und Neuem steht. Auf die Alp bringt ihn ein Helikopter, andere Alphirten bieten ihm das Boulevardblatt zur Lektüre an. Er lebt mit einem einfachen Gasherd in einer in eine Felsspalte gebauten Hütte und hütet seine Schafe, erzählt vom kulturellen Reichtum der Gegend, von Schutzheiligen und von alten Geschichten.Tausende von Wanderern, die alljährlich über die Plaun de la Greina pilgern, die Tundra der Alpen, lassen sich von solchen Geschichten längst nicht mehr abschrecken. Die heute noch rund 900-köpfige Schafherde werden sie kaum zu Gesicht bekommen. Viel zu weitläufig ist die am Talende des Val Somvitg beginnende Alp mit ihren Weiden auf einer Fläche von 1200 Hektaren, die sich von 1400 Metern bis in die alpinen Zonen auf 2600 Metern erstrecken. Im Flachmoor der Greina mit einer Vegetation wie in subpolaren Gebieten weidet vor allem das Rindvieh der Alpe Motterascio. Die Weiden der Schafe liegen in den Seitentälern und den die Greina säumenden Hängen. Die Herde folgt dabei ab Mitte Juni aus den tiefsten Weiden des Somvitg auf 1400 Meter dem sich in den Höhenlagen langsam entwickelnden Sommer bis in die Gipfelhänge der 3000er-Berge und zieht sich gegen den Herbst hin etappenweise wieder zurück.



Wanderer schwärmen von der tundra-ähnlichen Landschaft auf der Greina. Während Jahrhunderten grasten hier Pferde. (Bild: Roland Gerth)

Pferdesömmerung gegen Alprecht

Die Alprechte der Alp Greina gehören seit 1494 dem Patriziat Aquila. Die Verkäuferin, die Talgemeinde Lugnez, bedingte sich das Recht heraus, so viele Pferde während 60 Tagen auf der Alp zu sömmern, wie sie im Winter beherbergen konnte. Damit waren Pferde gemeint, die vor allem als Saumtiere benötigt wurden. Für den Weiterverkauf bestimmte Zuchtpferde waren von der Sömmerung ausgeschlossen. Die Zahl der gealpten Pferde auf der Greina soll in früheren Jahrhunderten in die Hunderte gegangen sein. Beweidet wurde dabei aber fast nur der flache Talgrund, der als ideales Pferdeterrain galt. Die Hänge überliess man den Tessiner Rindern und Schafen. Damit, so glaubten die Lugnezer, hätten sie den Fünfer und das Weggli gewonnen: Den von Aquila zu leistenden, "ewigen" Zins und die besten Weidegründe auf der Greina. Jahrhundertelange Streitereien um diese Zinsverpflichtung waren die Folge, die sich formal erst mit dem modernen Schweizer Zivilgesetzbuch von 1912 lösen liessen, nach dem der Lehensvertrag nach modernem Recht als Kaufvertrag zu gelten hatte. Vorher hatten schon die Fakten gesprochen. Mit dem Eisenbahnbau schwand die Bedeutung der Säumerei fast über Nacht. Den Lugnezern kamen die Pferde abhanden. 1902 wurden die letzten Pferde gesömmert, ein Versuch, stattdessen Fohlen auf die Alp zu treiben, war mangels Nachfrage und geeigneter Gebäulichkeiten ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Im Alpkastaster von 1909 wird die Alp Greina mit einer Fläche von 600 Hektar angegeben, von denen nur 200 produktiv seien. Gemeint war damit der Anteil der Greina-Ebene, der durch die Lugnezer Pferde beweidet wurde. 1924 verpachtete Aquila die Alp an die Alpkooperation Diesruth-Brigels und überging damit die Lugnezer. Seither wird sie nur noch mit Schafen bestossen. Nachdem sie von der Gemeinde Sumvitg übernommen worden war, ging die Bewirtschaftung 2003 an die neu gegründete Alpgenossenschaft Sumvitg über. Der Hirt ist unterhalb der Terrihütte stationiert. Wie viele Schafe früher gesömmert wurden, ist nicht überliefert. Man darf aber davon ausgehen, dass es analog zu anderen Alpen in der Region wesentlich mehr waren als heute. Noch in den 1980er- und 1990er-Jahren seien es um 1200 Schafe gewesen, erinnert sich Leo Tuor. Heute sind es um die 900. Zulässig wären 2 - 3 Schafe pro Hektar, tatsächlich ist es nur eines. Empfohlen wird für eine künftige Nutzung die Aufgabe der oberhalb von 2400 Meter gelegenen Weiden, deren Biodiversität nicht von der kurzzeitigen Nutzung durch die Schafe abhängig sei. Auf den meisten anderen Weiden beförderten die Schafe, obwohl sie nur auserlesene Kräuter fressen, die Biodiversität, indem sie in der kurzen Zeit ihrer Anwesenheit für eine Verjüngung der von ihnen begehrten Pflanzen sorgen. Während früher die gealpten Schafe ausschliesslich aus der Gemeinde Sumvitg stammten, hat sich der Anteil der "einheimischen" Tiere bei etwa 80 Prozent eingependelt. Etwa 100 Schafe werden aus Zizers auf die Alp Greina geführt, die übrigen stammen aus der Region Disentis. Die Mehrheit der Schafhalter sind Vollerwerbsbauern, einige haben gänzlich auf die Schafhaltung umgestellt, andere halten eine geringe Zahl Schafe, um die steilen Hänge beweiden zu können. Finanziell lohnt sich das nur sehr bedingt.


Wie ein Tatzelwurm sehen die 1200 Schafe aus, die auf einem extrem steilen Hang von der Greina ins Somvix im Kanton Graubünden absteigen. Drei Hirtenhunde und ein Schafhirt sorgen dafür, dass auch jene, die vom Weg abkommen, ihr Ziel, die Weiden im rund 700 Höhenmeter tiefer gelegenen Talgrund, erreichen. (Bild: Fitze)



Viehaufzug aus dem Bleniotal

Während Jahrhunderten wurden viele Alpen auf der heutigen Bündnerseite im Greinagebiet aus dem Bleniotal bestossen. Als sich die Rahmenbedingungen ungünstig entwickelten, zogen sich die Tessiner um 1900 allmählich zurück.

Als im Jahr 1494 das Patriziat von Aquila im Bleniotal von der Talgemeinde Lugnez die Alp Agrena, die heutige Alp Greina, erwirbt, arrondiert sie ihre Besitztümer nördlich der Wasserscheide zu einem stattlichen Alpgebiet, das vom Val Luzzone über die Greina bis zu Teilen der Alp Blengias im Lumnez reicht. Auch andere Blenieser Kommunen und Privatpersonen erwarben Alpen auf der heutigen Bündnerseite: im Sumvitg, im Lumnez und im Valsertal. Der Alpauf- und abtrieb und der Transport der Alpprodukte waren eine mühselige Angelegenheit: Etwa aus Semione (399 m) durch die Sosto-Schlucht oberhalb von Olivone nach Campo Blenio (1215 m) und weiter durch das Val Camadra hinauf zum Greinapass (2362 m) und über die Hochebene der Greina hinauf zur oberen Canallücke (2655 m) und in südwestlicher Richtung zu den verschiedenen Alpen. Der Hintergrund ist letztlich in der Bevölkerungsentwicklung begründet. Während im Bleniotal gutes Weideland immer knapper wurde, stand dieses ennet der Wasserscheide reichlich zur Verfügung. Das Bleniotal war vergleichsweise dicht besiedelt, einige Gemeinden erreichten ihr historisches Bevölkerungsmaximum im 16. Jahrhundert. Zudem gab es in den norditalienischen Städten reichlich Nachfrage nach Milchprodukten und Fleisch. Die Ausweitung der Alpgebiete nach Norden war auch ökonomisch folgerichtig. In den bevölkerungsarmen Bündner Tälern wie dem Lumnez, Sumvitg oder Vals waren gute Alpweiden quasi im √úberfluss vorhanden. Die Bündner achteten aber sehr wohl darauf, dass sie die besten Weidegründe für sich behielten. Historisch gute Beziehungen der Notabeln trugen das Ihrige zum Handel mit den Alprechten bei. Es kam zu einem regen Austausch, die Märkte im Tessin und in Graubünden waren über Jahrhunderte von beiden Seiten gut besucht. Auf den im Sommer im Vergleich zu heute geradezu dicht bevölkerten Alpsiedlungen erbebte auch manches Herz. Grenzüberschreitende Heiraten und Niederlassungen waren die Folge. Es waren schliesslich die sich verändernden Rahmbedingungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zum allmählichen Rückzug der Bleniesi aus den entlegensten Alpen führten. Die Intensivierung der Landwirtschaft mit steigenden Erträgen in den Tälern machte die extrem arbeitsintensive Alpwirtschaft zunehmend unrentabel, der teils dramatische Bevölkerungsschwund führte zu akutem Personalmangel, dem auch mit einer verbesserten Arbeitsteilung durch die Einführung von Alpgenossenschaften nicht mehr beizukommen war. Um 1920 war es mit der Blenieser Herrlichkeit auf den Bündner Alpweiden weitgehend vorbei. Manche Alpen blieben noch über Jahrzehnte in deren Besitz, wurden aber nach und nach verkauft. Heute ist dieses Stück alpwirtschaftlicher Geschichte beinahe in Vergessenheit geraten. Der Park als gemeinsames Projekt könnte sie wiederbeleben.


 

 

 

 

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Wasserkraft – die nachhaltige Energie

Die Schweiz ist von der Natur mit Wasser gesegnet. Dank ihrer Höhenlage des Landes eignet sich dieses Wasser aber auch zur Stromgewinnung und deshalb auch zum Zankapfel. Denn die tausendfache Verbauung von Gewässern schadet der Artenvielfalt. Andererseits hat Wasser auch eine zerstörerische Kraft. Das Dossier über Wasserkraft weitet das Thema aus: Es widmet sich dem Gewässerschutz, der Stromnutzung, aber auch den Konflikten, die daraus entstehen. Es zeigt, wie sich ein Fluss verhält, wenn er seinen Weg frei wählt und widmet sich dem grossen Bauwerk: der Wiedererstellung eines lebendigen Alpenrheins 

 

 

Geschrieben von Martin Arnold

Königsweg intelligent Gewässer schützen

Daniel Heusser, Gewässerschutzexperte beim WWF Schweiz und Roger Pfammatter, Geschäftsführer des Schweizer Wasserwirtschaftsverbandes SWV diskutieren über die finanziellen Schwierigkeiten der Stromproduzenten und die Umweltinteressen. Gefragt sei ein schlauer Gewässerschutz.

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Staumauer Grande Dixence im Wallis, der grösste Stausee der Schweiz (Bild: Paul Kordwig)

 

Es sind seltsame Begleitumstände für dieses Gespräch. Die Wasserkraftnutzung zur Stromgewinnung steckt in einer so tief greifenden Krise, dass das Parlament als Überbrückung über fünf Jahre 120 Millionen Franken zuschiesst. Daniel Heusser, Sie müssen sich zurückhalten: Lieber Wasserkraft als Kohlekraft, richtig?

Daniel Heusser: Das stimmt, aber das heisst nicht, dass wir einen Schmusekurs mit den Wasserkraft-Produzenten pflegen. Im Gegenteil: Die Verhandlungen sind sehr viel härter geworden, weil der finanzielle Spielraum auf der anderen Seite des Tisches kleiner wurde. Wir streben immer die optimale Lösung für die Biodiversität an, und an unserer Seite steht das Gewässerschutzgesetz.

Roger Pfammatter: Ich erlebe die Umweltorganisationen oftmals als Verhinderer, die einfach ihre ureigenen Interessen vertreten. Da ist zu viel Frosch- und zu wenig Vogelperspektive. Überbordende Forderungen an die Wasserkraft sind letztlich ein energiepolitisches Eigengoal.  Jedenfalls fehlt mir der Tatbeweis, dass den Umweltorganisationen die Wasserkraft lieber ist als andere Energiequellen, wie die Kohle.

Daniel Heusser: Wir haben viel mehr Wasserkraft ermöglicht als verhindert.Der WWF kämpfte in der Vergangenheit für eine Dreckstromabgabe, also für eine Abgabe auch auf Kohlestrom. Das hätte die Probleme der Wasserkraft reduziert. Aber dies müssen wir in Zukunft besser in der Öffentlichkeit kommunizieren. Hinter der Realisierung vieler Projekte steckt ein Verhandlungsprozess, der manchmal hart ist und lange dauert. Aber am Schluss kann ein Projekt realisiert werden, das wirtschaftlich ist und der Umwelt so wenig wie möglich schadet.

Roger Pfammatter: Bereits die Wortwahl, dass Umweltverbände Wasserkraft „ermöglichen“ oder „verhindern“ können, spricht ja Bände über deren Selbstverständnis. Diesen Rahmen zu setzen ist ja eigentlich die Aufgabe der Politik und der staatlichen Institutionen.

 

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"Kein Schmusekurs": Dani Heusser, Gewässerschutzexperte beim WWF Schweiz

 

Wie lassen sich faire Parameter beschreiben?

Daniel Heusser: Die Artenvielfalt ist messbar, und wenn eine Massnahme die Stromproduktion um drei Prozent senkt, dafür aber die Artenvielfalt wesentlich erhöht, sollte sie getroffen werden. Dann darf dies nicht an ein bisschen weniger Einnahmen scheitern.

Roger Pfammatter: Im Moment ist bei der Stromproduktion sowieso nichts wirtschaftlich, was nicht subventioniert wird. Deshalb gibt es bei der Grosswasserkraft keine nennenswerten neuen Projekte. Und die vorhin erwähnte Unterstützung von 120 Millionen für die Wasserkraft ist angesichts der jährlichen Verluste von rund einer Milliarde Franken natürlich ein Tropfen auf einen sehr heissen Stein.


Der Grund für die schlechte wirtschaftliche Verfassung der Kraftwerke ist allerdings der europäische Strommarkt. Die nachhaltigen Energieliequellen Sonne und Wind werden vor allem in Deutschland in viel grösseren Mengen genutzt als gedacht.

Roger Pfammatter: Und dazu kommen noch die billigen Preise der fossilen Energie. Die Preise machen vor der Grenze genauso wenig halt wie der Strom. Wenn Deutschland grosse Mengen Strom aus erneuerbaren Energiequellen produziert, gleichzeitig aber auch Kohle verstromt, weil die aus den USA so billig importiert werden kann, bekommen wir ein Problem. Denn das mit Milliarden an direkten und indirekten Subventionen verursachte Überangebot senkt die Preise so tief, dass die eigentlich kostengünstige Wasserkraft nicht mehr mithalten kann.

Daniel Heusser: Deswegen sollten Kleinkraftwerke unter einem Megawatt nicht mehr gefördert werden. Unserer Meinung nach wird es sogar erst ab drei Megawatt interessant. Wobei ich einschränken möchte, dass es einige durchaus ökologische Projekte gibt. Aber demgegenüber stehen zu viele kleine Projekte in unberührten Seitentälern, die auch noch durch die gesetzlich verankerte Einspeisevergütung gefördert werden. Man sollte dieses Geld besser für Vergrösserungen oder Effizienzsteigerungen bestehender grosser Wasserkraftanlagen verwenden.

 

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"Schuss ins eigene Knie": Roger Pfammatter, Geschäftsführer des Schweizer Wasserwirtschaftsverbandes SWV.

 

In diese Richtung zielt der Beschluss der Parlamente, die nur grössere Anlagen unterstützen wollen.

Roger Pfammatter: Dagegen könnte noch das Referendum ergriffen werden. Aber der Beschluss des Parlaments für eine untere Fördergrenze bei einem Megawatt Leistung ist nachvollziehbar, und ich tauge nicht zur Verteidigung der Kleinstanlagen. Sie produzieren zwar deutlich mehr pro Förderfranken als Photovoltaik- oder Windanlagen. Aber 98 Prozent der Schweizer Wasserkraftproduktion stammen von den 400 grossen Anlagen mit mehr als einem Megawatt installierter Leistung – das ist wirklich relevant. Die mit Subventionen gepushten Kleinstanlagen bringen angesichts der vielen Konflikte tatsächlich wenig.

Daniel Heusser: Einige dieser Kleinwasserkraftwerks-Besitzer sind sogar die Grossen, die auch gross sind im Kassieren von Unterstützungsgeldern. Da verstauben wirklich sinnvolle Projekte in der Schublade der Energieriesen, während nun überall irgendwelche Kleinkraftwerke die letzten Bergbäche und unberührten Täler bedrohen. Und dies nur, weil sie Subventionsgelder sprudeln lassen.

Roger Pfammatter: Diese „Kassiererei“ ist das Resultat einer verfehlten Energiepolitik. Investiert wird heute nur noch in subventionierte Anlagen. Hauptursache ist primär die verfehlte europäische Energie- und Klimapolitik. Die Schweiz beschreitet aber zunehmend den gleichen Weg der Subventionitis. Ich befürchte, dass man, wenn man damit begonnen worden ist, kaum mehr herausfindet. In einem nicht masslosen verzerrten Markt wäre die sehr effiziente Wasserkraft bestimmt nicht auf Unterstützung angewiesen. Und im Übrigen erhält die Grosswasserkraft zurzeit ja noch keinen Rappen.

 

Wenn also der Markt spielen würde, müssten die kleinen Kraftwerke den Betrieb aufgeben?

Roger Pfammatter: Das ist sicherlich so, wobei das natürlich auch für alle anderen subventionierten Stromquellen wie Photovoltaik und Windanlagen gilt. Und inzwischen leider sogar für die Grosswasserkraft, weil der so genannte Markt dermassen verzerrt und verfälscht ist.

 

Daniel Heusser, was sind die erwähnten Schwierigkeiten bei den Verhandlungen mit Wasserkraftproduzenten?

Daniel Heusser: Nach dem Gewässerschutzgesetz müssten die Anlagen ab 2012 einen gewissen Standart erfüllen…

Roger Pfammatter: Zwei Drittel der Anlagen erfüllen ihn.

Daniel Heusser: Ja, aber einige Kantone setzten es nicht durch.

 

 

Von welchen Massnahmen sprechen wir?

Daniel Heusser: Die Kraftwerke müssen eine gewisse Menge Restwasser durchfliessen lassen. In Zukunft müssen die Wehre und Dämme, die es bei solchen Anlagen gibt, fischgängig sein, Schwall und Sunk, also die höchste und geringste Wassermenge, darf nicht ein bestimmtes Mass überschreiten und auch das Geschiebe und die Steine müssen sich Gewässer im natürlichen Rahmen bewegen können.

Roger Pfammatter: Es gibt einen gesetzlichen Spielraum. Man kann ihn ausnützen. Wenn die Wirtschaftlichkeit einer Anlage nicht mehr gewährleistet ist, sind die Betreiber von der Sanierungspflicht auszunehmen oder die Anforderungen müssen verringert werden.

Daniel Heusser: Die Axpo hat dafür extra ein ausgeklügeltes Rechenmodell entwickelt, das von der ganzen Branche angewendet wird. Damit können Kraftwerke ihre Unrentabilität nachweisen. Wir wollen natürlich nicht, dass Wasserkraftproduzenten in finanziellen Schwierigkeiten geraten. Wenn die Wirtschaftlichkeit aber im Einzelfall so schlecht ist, dann darf man auch mal über den Rückbau einer Anlage nachdenken. Viele erledigen ihre Hausaufgaben nicht. Ausserdem verstehen wir uns als Interessenvertreter der Artenvielfalt. Wir können nicht um jeden Preis Verständnis dafür haben, einen Bach oder Fluss auszutrocknen. Wasserkraft muss wirtschaftlich sein. Aber auf keinen Fall auf Kosten der Umwelt.

Roger Pfammatter: Das Gesetz sieht vor, dass eine Sanierung nur soweit von Kraftwerken finanziert werden muss, als dass diese wirtschaftlich tragbar ist – und auch das ist ein markanter Eingriff in das wohlerworbene Recht zur Nutzung der Wasserkraft. Ich erlebe die Umweltverbände in diesem Punkt als stur. Sie überladen das Fuder und verhindern damit ausgewogene Lösungen. Beispielsweise wäre die Restwassersanierung im Misox seit vielen Jahren realisiert, wenn die Umweltverbände die damals vorliegende Verfügung des Kantons nicht ans Bundesgericht weitergezogen hätten. Das Gericht stützte die Beschwerde zwar teilweise – aber angesichts der heutigen wirtschaftlichen Lage ist es sehr unwahrscheinlich, dass es für die Umwelt eine bessere Lösung gibt.

Dani Heusser: Der Kanton Graubünden hat den Misoxer Fall als Pilotsanierung ins Schaufenster gestellt und alle anderen Kraftwerke hinten angestellt. In diesem Kontext blieb uns gar nichts anderes übrig, als hier für eine ökologisch gute Lösung einzustehen. Mit Betonung auf gut und nicht übertrieben. Das Bundesgericht hat uns ja dann auch Recht gegeben. Trotz diesem positiven Urteil sind wir aber leider noch keinen Schritt weiter. Dies ist das wahre Dilemma an diesem Urteil. Der Kanton müsste das Ruder viel stärker in die Hand nehmen. Im Moment scheint es aber fast so also, ob die Axpo das Sagen habe.

Roger Pfammatter: Es gibt eben auch Anlagen, wo es keine wirtschaftlich tragbaren Massnahmen gibt, die zu einem genügend grossen ökologischen Mehrwert führen.

Daniel Heusser: Dank den geforderten Massnahmen soll die Artenvielfalt in unseren Gewässern wiederhergestellt werden. Dies geschieht nicht von heute auf Morgen, und es braucht Zeit, bis solche Revitalisierungsmassnahmen wirken. Aber wenn ein trocken gelegtes Gewässer wieder Wasser bekommt, geht es schnell, bis es wieder besiedelt wird. Auch wenn zwei Drittel der Wasserkraftproduzenten nun die gesetzlichen Bestimmungen erfüllen und die andern bald auch noch dazu stossen werden, ist dies kein Grund, sich zurückzulehnen. Vielleicht sind für die Verbesserung der Artenvielfalt weitere Massnahmen notwendig, beispielsweise die Dynamisierung von Gewässern.

Roger Pfammatter: Die Wasserkraft ist nur eine der möglichen Ursachen, die zum Rückgang der Fischvielfalt in den Gewässern geführt hat. Andere Gründe sind die übermässige Kanalisierung und Verbauung der Gewässer, Mikroverunreinigungen aus Siedlungen und der Industrie, der klimabedingte Temperaturanstieg in den Gewässern, der Einfluss invasiver Arten und vielleicht auch das Verhalten der Fischer selbst, die die Gewässer nicht mehr besetzen wie früher.

 

Können die Wasserkraftproduzenten im aktuellen Marktumfeld die Schutzmassnahmen überhaupt bewältigen?

Roger Pfammatter: Bei der Ausarbeitung der neuen Gewässerschutzbestimmungen hat das Parlament die Finanzierung über eine Netzabgabe beschlossen. Die Kosten dafür werden von den Stromkonsumenten getragen. Das war ein durchaus weiser Entscheid, damit die Wasserkraft nicht zusätzlich weiter belastet wird.

Daniel Heusser: Das ist auch richtig so. Ich befürchte aber, dass das Gewässerschutzgesetz auf politischer Ebene wieder angegriffen wird.

Roger Pfammatter: Wir haben nichts Entsprechendes in Vorbereitung. Wichtig sind deshalb pragmatische Lösungen und der Wille von allen Seiten, das Fuder nicht zu überladen.

Daniel Heusser: Uns als Umweltorganisation geht es nun darum, trotz der finanziell schwierigen Phase, die Wasserkraft als Energieträger zu erhalten und den Besitzstand auf einem ökologisch hohen Niveau zu bewahren.

Pfammatter: In diesem Punkt sind wir uns einig. Im Gegensatz zur Situation in vielen anderen Ländern sind die Anlagen bei uns noch in einem sehr guten Zustand. Aber die Instandhaltung und die Erneuerung von Verschleissteilen kostet dauerhaft Geld. Wir leben jetzt schon vier Jahre in einem äusserst schwierigen Marktumfeld. Ewig kann das so nicht mehr weitergehen. Man kann nicht über Jahre hinweg für eigentlich kostengünstige 5 oder 6 Rappen pro Kilowattstunde produzieren und nur 2,5 Rappen einnehmen. Das zehrt an der Substanz und stellt mittelfristig die Versorgungssicherheit und die gesamte Energiestrategie in Frage.

Daniel Heusser: Entweder muss auf dem gesetzlichen Weg die einheimische und erneuerbare Energie geschützt werden, oder es muss neue Rahmenbedingungen geben. Es kann nicht sein, dass wir nun plötzlich die Atomkraft auch nochmals subventionieren. Es könnte auch ein Geschäftsmodell sein, mit der Speicherung von Solarenergie zu verdienen. Und gerade dies können die Schweizer Produzenten anbieten.

Roger Pfammatter: Die Wasserkraft hat einen sensationellen Wirkungsgrad. Kein anderer Energieträger kann da mithalten, vor allem auch die hoch subventionierte Photovoltaik oder Windenergie nicht. Aber um nicht missverstanden zu werden: Ich sehe diese Energieträger als Ergänzung, plädiere aber doch dafür, ein Augenmerk auf die Wasserkraft zu legen. Nur leider können wir die globalen Rahmenbedingungen nicht ändern. Obwohl der Energiekonsum weltweit steigt, sinken die Preise, weil zu viel Energie produziert wird.

 

Besteht die Gefahr einer Kannibalisierung wie auf dem Milchmarkt?

Roger Pfammatter: Ich habe diese Parallele zur Landwirtschaftspolitik auch schon gesehen. Es gibt europaweit, wenn nicht weltweit zuviel Unterstützung am falschen Ort. Was die Situation in der Schweiz betrifft: wenn die Bauern in einer ähnlichen Situation wären wie die Wasserkraftwerke, wären sie längst mit dem Güllenwagen auf den Bundesplatz gefahren und hätten sie ausgeschüttet.

Vielleicht würde eine solche Aktion die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Problem der Stromproduzenten lenken?

Roger Pfammatter: Vieles im Strommarkt ist aus dem Lot. Anderes ist absurd. Die für Grosskunden eingeführte Liberalisierung hat Betriebe und Verwaltung der öffentlichen Hand dazu gebracht, dass sie entweder billigen Strom aus dem Ausland beziehen, oder die einheimischen Produzenten so unter Druck setzten, dass sie ihren Strom annährend zum gleichen Preis wie sie die ausländische Konkurrenz anbietet, bekommen. Also oft unter den Produktionskosten der einheimischen Wasserkraft. Dabei ist oftmals die gleiche öffentliche Hand Mitbesitzerin der Kraftwerksunternehmen und erwartet dann auch noch Gewinnausschüttungen. Man nennt das, was die Kantone betreiben: sich selber ins Knie schiessen. Vielleicht sollte dies der Öffentlichkeit tatsächlich mehr ins Bewusstsein rücken.

Daniel Heusser: Die gleiche öffentliche Hand, die billigen Importstrom nutzt, subventioniert dann wieder für viel Geld denn Bau oder Erneuerung kleiner Kraftwerke, die den Strom nur sehr teuer produzieren können, wie beispielsweise Kraftwerke an der Lorze bei Cham. Und der billige Importstrom ist dann Dreckstrom aus Kohlekraft, der das Klima schädigt und neue Kosten verursacht.

Dann dürfen wir annehmen, dass sich der WWF den Strom etwas kosten lässt?

Daniel Heusser: Wir beziehen Naturmade Star. Das ist zertifizierter, nachhaltig produzierter Strom. Die Elektrizitätswerke der Stadt Zürich sind fortschrittlich und haben ein gutes Angebot. Vor allem kleinere Kunden haben aber nicht überall eine so gute Auswahl.

Roger Pfammatter: Wir beziehen unseren Strom der Geschäftsstelle in Baden selbstverständlich zu 100 Prozent aus zertifizierter einheimischer Wasserkraft.

Der Klimawandel wird Auswirkungen auf die Wasserkraft haben.

 

Bereitet sich die Branche darauf vor?

Roger Pfammatter: Der Klimawandel ist natürlich auf dem Radar und hat bereits heute relevante Auswirkungen auf die Wasserkraft. Beispielsweise profitieren stark vergletscherte Einzugsgebiete vom zusätzlichen Wasser der Gletscherschmelze. Es gibt aber auch negative Erscheinungen wie das Auftauen des Permafrostes und die Zunahme von Sedimenten. Sie tragen zur Verlandung von Seen bei und gefährden Turbinen. Die Entwicklung ist mit vielen Unsicherheiten verbunden, wobei es Gewinner und Verlierer geben wird.

Daniel Häusser: Unter den Gletschern bilden sich Seen und die könnten eines Tages teilweise auch für die Energieproduktion genutzt werden. Viele liegen hoch und in ökologisch weniger sensiblen Gebieten. 

Neue Technologien könnten den Markt noch einmal aufwirbeln. Energie wird aus Flusskraft gewonnen, aber auch über ein starkes Gefälle im Alpenraum. Dabei übernehmen die Stauseen auch eine Speicherfunktion. Das ist ein wirtschaftlich interessantes Potential. Allerdings könnten andere Technologien einen Strich durch die Rechnung machen. Es können ganz andere Speichermöglichkeiten wichtig werden. Etwa Power to Gas.

Daniel Heusser: Das ist für mich noch weit weg. Die im Prinzip saubere Wasserkraft ist schon da. Wir müssen sie nur nachhaltig nutzen.

Roger Pfammatter: In der Tat ist vieles im Umbruch. Wer hätte vor zehn Jahren bei gleichzeitigem weltweitem Wirtschaftswachstum einen solchen Preissturz für Strom möglich gehalten? Es kann sehr schnell sehr viel passieren, vor allem in hochpolitischen Energiefragen. Leider gilt allzu oft: Hauptsache „innovativ“. Altbewährtes wie die Wasserkraft wird im besten Fall als gegeben hingenommen. Dabei ist die Wasserkraft der eigentliche energiepolitische Trumpf der Schweiz. Aber sie braucht faire Rahmenbedingungen. Dann ist sie für die Energiezukunft nicht ein Teil des Problems sondern ein Teil der Lösung.


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Geschrieben von Martin Arnold

Ein grosses Werk

Dass bei grossen Hochwasserschutzprojekten verschiedene Interessen aufeinander treffen, zeigt anschaulich das Projekt Rhesi. Rhesi soll am Alpenrhein Hochwasserschutz, Naturschutz und die Bedürfnisse der Trinkwasserversorgung unter einen Hut bringen.

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 Hochwasser am Rhein im Juni 2016: Hier könnten Auenwälder stehen. (Bild Andreas Butz)

 

Wer das St. Galler Rheintal als Wanderer vom Höhenweg aus erblickt, sieht auf ein graublaues Band, das gerade von Nord nach Süd verläuft. Verglichen mit dem mäandernden Tagliamento, dem König der Alpenflüsse im Friaul, ist das wie Tag und Nacht. Der Alpenrhein präsentiert sich als trostlose Wasserautobahn. Doch die Wasserautobahn soll einige Nischen erhalten und der Natur mehr Platz geben. Die Überarbeitung des Hochwasserschutzes und die geplante Sanierung der Dämme bieten die Chance dazu. Denn unter dem Titel Rhesi (Rhein. Erholung und Sicherheit) ist als zwischenstaatliches Projekt ein Jahrhundertwerk geplant, dessen Bauzeit 25 Jahre dauern soll. Die Basis ist das Entwicklungskonzept Alpenrhein. Es wurde 2005 von der gemeinsamen Regierungskommission der beteiligten Kantone, Vorarlbergs und Liechtenstein vorgelegt. In diesem Entwicklungskonzept wurde deutlich, dass der Hochwasserschutz am Rhein verbessert werden muss. Und zwar betrifft dies nicht die Standfestigkeit der Dämme, sondern die Wassermenge pro Sekunde, die an der engsten Stelle durchfliessen kann. Der Rhein hat sich am Oberlauf zudem tiefer eingegraben, am Unterlauf verflacht die Flusssohle.
Nach dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bei Reichenau strömt der Rhein, dessen Einzugsgebiet etwa die Fläche des Kantons Bern umfasst, auf insgesamt 90 Kilometer in einem schmalen, kanalisierten Flussbett: Sein Wasser soll so schnell wie möglich durchs Rheintal fliessen. Es wird am Unterlauf gesäumt von zwei mächtigen, mit Steinen ausgekleideten Wuhren, die ihn bei mittlerem Hochwasser daran hindern, über die Ufer zu treten. Das kommt nur alle paar Jahre vor. Dann wird das Rheinvorland überflutet, und der Fluss hat nun, solange das Hochwasser anhält, den nötigen Raum, um sich auszutoben.

 Erst die über sieben Meter hohen Hochwasserdämme in grossem Respektabstand werden ihn daran hindern, sich ins dicht besiedelte Rheintal zu ergiessen. Die Durchflussmenge beträgt im Moment in untern Teil kurz vor dem Bodensee 3100 Kubikmeter und soll nun 4300 Kubikmeter erhöht werden. Denn neue Berechnungen zeigen, dass es nicht mehr so sicher ist, dass 3100 Kubikmeter genügen

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Rheinregulierung als Jahrhundertwerk

Kurt Fischer, Bürgermeister der österreichischen Marktgemeinde Lustenau, erschrak kurz nach seinem Amtsantritt 2010, als ihm im Rahmen einer Überprüfung der Katastrophenschutzmassnahmen das Ausmass eines Dammbruches bewusst wurde: „Wir hätten keine Chance, die Menschen aus den flussnahen Quartieren zu evakuieren. Uns bliebe nur, ihnen zu raten, sich auf die Dächer zurückzuziehen. Ich bin mir sicher: Es würde Tote geben“. Katastrophal wären auch die zu erwartenden Sachschäden von mehreren Milliarden Franken. Die Dämme halten nur einem so genannten 100-Jahr-Ereignis stand, wenn mit Abflussmengen von 3100 Kubikmetern pro Sekunde – das entspricht 3,1 Millionen Liter Wasser – zu rechnen ist. Doch es kann noch viel schlimmer kommen. Bei einem etwa alle 300 Jahre zu erwartenden Hochwasser ist mit den erwähnten 4300 Kubikmeter pro Sekunde zu rechnen. Lustenau, Diepoldsau, Widnau, Au, St. Margrethen oder Rheineck wären vollkommen überschwemmt. Wie nach dem Jahr ohne Sommer mitten während der Hungersnot 1817, als der Rhein zeitweise von Bad Ragaz bis zur Rheinmündung einen See bildeten und der Fluss selber drohte, bei Sargans nach Westen zu fliessen und in den Walensee zu münden.
Die Rheinregulierung ist das Ergebnis eines Jahrhundertprojekts, das in seinen Anfängen bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückreicht. Damals erkannte man beidseits des Rheins, dass der regelmässig über die Ufer tretende, seinen Lauf immer wieder ändernde Fluss nur mit gemeinsamen Anstrengungen zu zähmen war. Doch es brauchte eine ganze Reihe weiterer, katastrophaler Überschwemmungen, bis sich 1892 die Schweiz und Österreich zusammenrauften und mit der internationalen Rheinregulierung die Basis legten für ein Jahrhundertwerk. Daniel Dietsche, Rheinbauleiter Schweiz, ist beeindruckt von der Arbeit der damaligen Ingenieure und Baufachleute, die wasserbautechnische Pionierarbeit leisteten. Sie schufen ein Werk, das den Hochwasserschutz im Rheintal nahezu perfekt machte, so perfekt, dass der Alpenrhein nicht nur seinen Schrecken verloren hat, sondern auch den Bezug zur Bevölkerung. Über hundert Jahre hat der Rheindamm gute Dienste geleistet. Die Rheinregulierung brachte den Bauern im Tal auf den Vorlandflächen zwischen Wuhr und Hochwasserdamm auch rund 350 Hektar der besten Böden im Tal, Land, das sie für die Graswirtschaft nutzen dürfen. Bis zu vier Heuernten sind auf den mit Jauche oder Mist gedüngten Böden möglich. Im Untergrund des Flussbettes findet sich Trinkwasser, das beidseits in verschiedenen Gemeinden gefördert wird und rund 200‘000 Menschen versorgt.

 


Dank Renaturierung könnten mehr Stellen am Rhein aussehen wie die Mastriler Augen. Bild Anita Mazzetta.

Doch die Dammbreite wurde zu schmal bemessen, das Wasser läuft zu schnell durch und gräbt sich in den Untergrund. Das erhöht die Gefahr einer Grundwasserabsenkung im Rheintal. Weil man die Bevölkerung wegen der zu erwartenden immensen Schäden auch vor einem sehr seltenen Hochwasser schützen will, ist nun die Zeit des Handelns gekommen. Ein besserer Schutz soll mit der Verbreiterung des inneren Dammes auf mehr als das Doppelte erreicht werden. Das führt bei normalem Wasserstand zu mehr Flussdynamik, sodass das Flusswasser mäandern und Sandbänke bilden kann. Weil die Hochwassergefährdung in Bodenseenähe grösser ist, macht das Projekt Rhesi den Anfang. Es sind viele Hürden zu überwinden.


Platz für die Natur

2009 wurde die Internationale Rheinregulierung beauftragt, ein Sanierungsprojekt auszuarbeiten, das den Namen Rhesi erhielt. Die wichtigste Auflage: Rhesi muss in beiden Anrainerstaaten den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Die Schweiz geht dabei in Sachen Renaturierung noch etwas weiter und gibt damit den Rahmen vor. Das Gewässerschutzgesetz lautet: „Bei Eingriffen in das Gewässer muss dessen natürlicher Verlauf möglichst beibehalten oder wiederhergestellt werden“. Damit sei eines klar, sagt Hans-Peter Willi, Leiter der Abteilung Gefahrenprävention beim Bundesamt für Umwelt. Er ist als Vertreter der Eidgenossenschaft Mitglied der Gemeinsamen Rheinkommission. „Eine weitere Verschlechterung ist ausgeschlossen“. Die Frage ist: Wie viele ökologische Verbesserungen sind möglich?
Die Plattform „Lebendiger Alpenrhein“, dessen Geschäftsstelle beim WWF in St. Gallen der Gewässerbiologe Lukas Indermaur leitet, setzt sich bei der Rheinsanierung für ein ökologisches Vorgehen ein. Während der Rhein früher neben Angst und Schrecken auch viel Erholung und schöne Stunden in der Natur ermöglichte, ist er heute als Naherholungsgebiet nicht präsent. Der Damm bildet die langweilige Kulisse zwischen dem Wasser und dem Kulturland. „Die Renaturierung des Alpenrheins ist ein sehr langfristiges, generationenübergreifendes Projekt. Wenn man jetzt keinen Fluss schafft, der einen Lebensraum für möglichst viele Arten ist und die Lebensqualität der Bewohner erhöht, ist die Chance für hundert Jahre vertan", stellt Lukas Indermaur klar. Umfragen haben bestätigt: Die betroffene Bevölkerung wünscht sich einen naturnahen Alpenrhein mit vielen ökologischen Inseln und Auen.

 

Wird als Erholungsraum geschätzt: Renaturierung bei Rüthi. (Bild pd)

 

Obwohl das Vorland zwischen dem inneren und dem äusseren Damm öffentlicher Boden ist, stellen sich die Bauern, die es nutzten dürfen, präventiv als Opfer dar, um möglichst viel für sich herauszuholen, oder die Anzahl der ökologische Ausgleichsflächen wie Auen, die gemäss Gesetz alle rund fünf Flusskilometer vorhanden sein müssten, weiter zu verkleinern. Und auch die Gemeinde Widnau blockiert: Sie müsste auf ihre Wasserfassungen direkt am Rhein verzichten. Dies wäre allerdings zu ihrem eigenen Nutzen, denn das Wasser ist zu kurz im Untergrund, um es in die Trinkwasserleitungen zu leiten. Gegen die Aufhebung der sehr rheinnahen Trinkwasserfassungen wehrt sich die Widnauer Gemeindepräsidentin und Vertreterin der Trinkwasserversorgungen im mittleren und unteren Rheintal, Christa Köppel, trotzdem:„Es gibt Interessenskonflikte zwischen den Anliegen des Hochwasser- und Naturschutzes und jenen der Trinkwasserversorgung. Die Versorgung mit genügend einwandfreiem Trinkwasser hat höchste Priorität. In unserem Fall geht es um 80‘000 Menschen." Umweltverbände gehen davon aus, dass auch weiter weg vom Rhein Wasser gefasst werden kann. Ausserdem grenzt Widnau an die Hügel des Appenzeller Vorlandes mit seinen ergiebigen Wasserquellen.
In ihrem Vorschlag im November 2015 präsentiert die Internationale Rheinkommission im Rhesi-Projekt zwischen der Illmündung bei Oberriet und dem Bodensee auf 30 Kilometern fünf ökologische Trittsteine, deren Realisierung aber in Frage gestellt wird. Zwei dieser Trittsteine sind innerhalb der bestehenden Dämme, drei setzen eine Erweiterung des Aussendammes auf einigen wenigen Kilometern voraus. Im Bereich Widnau würde der Rhein sogar eine Strecke von elf Kilometern ohne ökologischen Mosaikstein durchfliessen. „Die elf Kilometer ohne ökologische Trittseine sind für uns unannehmbar“, erklärt Lukas Indermaur unmissverständlich.

 

Eigeninteresse vor Gemeinwohl

Nach dem Abschluss der Vernehmlassung wurde deutlich, dass auf der einen Seite Landwirte und die Trinkwasserversorger opponieren und auf der anderen Seite Umweltverbände, welche die bescheidenen ökologischen Ambitionen von Rhesi kritisieren. Markus Mähr, Projektleiter von Rhesi hat nun ein spezialisiertes Büro beauftragt, bis Ende 2016 Kompromissvorschläge vorzulegen. Gleichzeitig sucht er dort, wo es zu Dammerweiterungen kommt, das Gespräch mit den Landeigentümern. Sollte es zu einer Einigung kommen, arbeitet die Internationale Rheinregulierung ein Projekt aus, das einer Umweltschutzprüfung unterzogen werden kann. Hat sie die bestanden, stünde einem neuen Staatsvertrag nichts mehr im Wege. "Welchen Parlamenten er dann vorgelegt werden muss, ist noch nicht ganz klar", erklärt Markus Mähr. Fest steht, dass er zumindest in der Schweiz über die Kostenbeteiligung der Kantone bei einem Referendum an der Urne zu Fall gebracht werden könnte. Die Pläne sind vage. Mähr rechnet mit Baukosten von 600 Millionen Franken, die aber 30 Prozent nach oben und unten variieren könnten. Es ist wahrscheinlich, dass am neuen Rheingesicht nicht nur Politiker, sondern auch Juristen mit formen werden. Sollten bestimmte Massnahmen bis vor Bundesgericht angefochten werden, könnte es noch bis weit über 2020 hinausgehen, bis gebaut wird. 
Dabei ist die neue Flussregulierung eine Chance für die Region. Widerstand von allen Seiten gab es auch bei der Sanierung des Escher- und Linthkanals. Aber es gelang, in die Sanierung zusätzlichen Massnahmen zu Gunsten der Natur im Bauprojekt unterzubringen. Integriert sind viele kleine Nischen zwischen im Kanton Glarus auf dem Abschnitt des Escherkanals, sowie zwischen dem Walensee und dem Zürichsee. Eine wichtige Massnahme befindet sich beim Benkener Ried, das nun auch mit dem ökologisch wertvollen Kaltbrunner Ried über Korridore vernetzt wird. Zudem wird das Benkener Ried um vier Hektaren vergrössert. Das neue 120 Millionen Franken teure neue Linthwerk ist seit 2013 abgeschlossen. Die Natur hat nicht überall jenen Platz bekommen, den sie verdient hätte. Doch dorthin, wo dem Fluss Platz gegeben wurde, wo Flächen überschwemmt wurden, sich Tümpel bildeten, Amphibien und Schmetterlinge zu siedeln begannen, fühlen sich die Menschen magisch hingezogen. Für die Umweltverbände ist die Entwicklung erfreulich. Einerseits ist sie ein Gewinn für die Natur, andererseits entsteht hier ein Vorbild für das noch grössere Projekt der Revitalisierung am Alpenrhein. Denn es ist sichtbar, wie wertvoll neuer Naturraum auch als Lebensraum für die Menschen ist.

 

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Geschrieben von Martin Arnold

Kampf um Restwasser

Beim weiteren Ausbau der Wasserkraft scheiden sich die Geister. Nach Ansicht von Umweltschutzkreisen nutzt die Schweiz bereits jene Gewässer zur Energiegewinnung, wo dies sinnvoll ist. Der weitere Ausbau würde nicht viel zusätzlichen Strom bringen, aber grosse Schäden in der Natur anrichten.

valdherens restwasser
Oft wird das Wasser einer ganzen Region umgeleitet, um es zu verstromen. Das Bild zeigt den Stausee Grande Dixence mit einem solchen Zufluss.

 

"Die Umweltverbände sind zu prinzipientreu. Das verhindert manchen sinnvollen Kompromiss. Der Preis dafür ist unter Umständen der Import von billigem Kohlenstrom aus der EU." Roger Pfammatter Geschäftsführer des Schweizer Wasserwirtschaftsverbandes SWV hält mit seiner Kritik an den Umweltverbänden nicht zurück, wenn es um Fragen des weiteren Ausbaus der Wasserkraft geht. In der Energiestrategie 2050 ging die Schweizer Regierung ursprünglich von einem Ausstieg aus der Kernenergie und einem deutlichen Ausbau der Wasserkraft aus – neben der Förderung anderer erneuerbaren Energien. Die Energiestrategie ist praktisch Makulatur. Kernkraftwerke können bis zum St. Nimmerleinstag betrieben werden. Allerdings gibt es einen Hacken. Sie müssen steigende Sicherheitsanforderungen erfüllen. Bereits jetzt können sie mit dem Durchschnittspreis pro Kilowatt auf den europäischen Energiebörsen kaum mehr mithalten. Die Wirtschaftlichkeit ist gefährdet. Und die Rechnung wird zukünftig noch schlechter, weil erneuerbare Energien wie Solar- und Windenergie immer günstiger produziert werden können. Hinzu kommt die Verstromung extrem billiger Kohle aus den USA importierter Kohle, weil dort die Energiegewinnung aus Fracking wiederum die Kohle konkurriert. Demselben Preisdruck ist allerdings auch die Wasserkraft ausgesetzt. Viele Wasserkraftbetreiber sind in finanzieller Bedrängnis. "Und wenn sie immer strengere Umweltauflagen erfüllen müssen, bringt sie das in Existenznot", erklärt Roger Pfammatter. Umweltverbände vertreten die Meinung, dass Wasserkraft jahrelang hochrentabel war und die Energieproduzenten deshalb finanziell genug robust seien, um einige Krisenjahre zu überstehen. Auch wenn Wasserenergie grüne Energie ist, löst sie bei Umweltverbänden zwiespältige Gefühle aus. Es ist eine Frage der Qualität und Quantität. Die Qualität wäre besser, wenn bei jeder Staustufe für Fische die Möglichkeit bestünde, sie zu überwinden. Und die Quantität wäre besser, wenn in jedem Fluss genügend Wasser fliessen würde, damit die Fische wandern könnten. Das Gewässerschutzgesetz formuliert diese Ziele und die Umweltorganisationen setzten sich dafür ein, dass sie auch landesweit erreicht wird. Chancen bestehen vor allem dann, wenn die bestehenden Bauten saniert werden müssen.

 

Konstruktiver runder Tisch

Viele Produktionsstandorte wurden in den Boomjahren und in Zeiten der Technikeuphorie nach dem zweiten Weltkrieg gebaut. Der Ort Marmorera im Kanton Graubünden wurde beispielsweise geflutet, um dank des Stausee Marmorera und seinem Kraftwerksystem rund 200 Megawatt Strom, also mehr als die halbe Leistung des Kernkraftwerk Mühlebergs nach Zürich liefern zu können. Doch der Fluss Julia alleine würde nicht genügen, um diese Leistung zu produzieren. Dazu muss aus 14 Standorten, verteilt auf fast 170 Quadratkilometern, Wasser hinzu geführt werden. Diese 14 Standorte befinden sich an Flüssen und Bächen, die teilweise vor allem im Winter austrocknen. Diese massive Beeinträchtigung von Lebensräumen ist nicht mehr möglich. Ein Bundesgerichtsurteil vom November 2012 hat an der Moesa im Misox einen richtungsweisenden Entscheid getroffen. Die Pilotsanierung der Misoxer Kraftwerke lehnte das Gericht in der geplanten Form ab. Während die kantonalen Behörden bei der Sanierung der Wasserentnahme von einer marginalen Restwassererhöhung ausgingen, befand das Bundesgericht, eine finanzielle Ertragseinbusse von etwa neun Prozent sei zumutbar, auch wenn dadurch drei bis sechs Prozent mehr Wasser ungenutzt dem Lago Maggiore entgegen fliesst. Auch was die Sanierungskosten betrifft, war das Urteil klar. Der Spielraum muss voll ausgenutzt werden und wenn ein Kraftwerk praktisch abgeschrieben ist, wie das im Misox der Fall war, liegt mehr für die Natur drin.

 

 

Das Bundesgericht will, dass die Moesa genügten Wasser führt. 

Seit diesem Urteil suchte das Amt für Energie und Verkehr in Graubünden den Konsens zwischen den Behörden, Vertretern der Umweltorganisationen und den Strombetreibern. "Wir diskutieren nicht nur an runden Tischen, wir gehen auch gemeinsam an die Orte, die umstritten sind. Dann lassen wir die minimale Wassermenge durch, aber auch jene, die der maximalen Forderung entspricht und schauen konkret am Flussufer, was dies für die Fische bedeutet. Wenn ein Kraftwerk in starker finanzieller Bedrängnis ist, verlangen wir eine Überlebensgarantie für Fischbestände, ist der Spielraum grösser, wollen wir Bedingungen für einen ansprechenden Lebensraum", erklärt Anita Mazzetta, Geschäftsführerin des WWF Graubünden das aktuelle Vorgehen im Ringen um für alle Seiten befriedigende Flusssanierungen. Immerhin wird in Graubünden mit fast acht Milliarden Kilowattstunden rund ein Fünftel der Schweizerischen Wasserkraft produziert. Im Kanton gibt es 35 Konzessionsnehmer. Hinzu kommt eine grosse Anzahl Kleinkraftwerke in den Händen der Gemeinden und 20 neue Kraftwerke die dank kostendeckender Einspeisevergütung subventioniert gebaut wurden. Weitere sind in Planung. Der WWF vertritt am runden Tisch die Umweltorganisationen. Anita Mazzetta lobt ihn als konstruktiv. Das Beispiel Marmorera zeige aber auch, wie schwierig es ist, in Regionen mit hoher Energieproduktion, allen Gewässern gerecht zu werden. "Wenn wir allen 14 Entnahmegewässern ein paar Liter mehr geben, gewinnen wir nichts. Wir konzentrieren uns auf Bäche und Flüsse, an denen wir ökologisch viel gewinnen." Die Entscheidung steht noch aus. Angedacht ist, dass ein Bach auf der Alp Flix wieder seinen ursprünglichen Lauf durch ein Moorgebiet nehmen kann. Und auch der Hauptfluss Julia mit dem wichtigen Nebenfluss Faller sollen mehr Wasser bekommen.

 

Rein da Medel: Nicht nur mehr Restwasser, sondern auch qualitativ bessere Uferzonen streben die Umweltverbände an.

 An andern Orten bleibt es wie es ist: trocken. Auch die Stromgewinnung an der Moesa ist von Zuflüssen abhängig. Die Calancasca und Mesolcina mit ihren Nebenflüssen müssen in die Restwasserfrage mit einbezogen werden, denn sie liefern Wasser für die Energieproduktion an der Moesa. Der Talboden des Valle Mesolcina besitzt eine reiche Auenlandschaft, die neu auch revitalisiert wurde. Trotz des eindeutigen Gerichtsurteils ist das Ziel einer erhöhten Restwassermenge im Misox kein Schritt näher gekommen. Der runde Tisch wurde zwischenzeitlich ausgesetzt und andere Projekte vorgezogen, bei denen leichter ein Konsens gefunden werden konnte. Doch im Herbst 2016 ist es soweit. Dann werden die Verhandlungen zwischen Kanton, den Kraftwerken Misox und den Umweltorganisationen neu beginnen. Andernorts ist man weiter. Am Hinterrhein, am Inn im Engadin und bei der Stromgewinnung an der Albula-Landwasser sind die Sanierungen abgeschlossen. Der WWF fokussierte bei den Verhandlungen auf die grösseren, bei denen ökologisch viel gewonnen werden konnte.

 

Neue Turbine – mehr Energie

Die Auseinandersetzung um mehr Wasser und Fischgängigkeit bei der Sanierung bestehender Kraftwerke ist aber nur ein Teil der Herausforderungen, denen sich die Umweltverbände stellen müssen. Die kostendeckende Einspeisevergütung ermuntert zur Planung von Kleinkraftwerken, die auf dem freien Strommarkt keine Chance hätten. Auch an der Moesa gibt es Pläne in dieser Richtung, was die Verhandlungen erschwert. Die Axpo prüft die Möglichkeit zwei Kleinwasserkraftwerke in Cama und Verdabbio mit einer Leistung von 0,1 MW um den Faktor 20 zu erhöhen und damit 4'500 Haushalte mit Strom zu versorgen. Damit sind die Umweltverbände nicht einverstanden. Die Moesa ist das Fliessgewässer mit der höchsten Artenvielfalt in Graubünden. Der Schaden für wenig Strom wäre riesig. Im Moment ist es um das geplante Kraftwerk ruhig geworden. Roger Pfammatter: "Solange der Strompreis so tief ist, wie im Sommer 2016, investiert niemand in Wasserkraft." 
Natürlich sind die tiefen Strompreise nicht im Interesse der Umweltverbände. Sie setzten sich gegen den Import von Billigstrom aus Kohle und gegen Atomstrom ein, damit Strom aus Wasserkraft einen wirtschaftlichen Preis erzielt, auch wenn Umweltanliegen berücksichtigt werden müssen.
Niemand hat bisher ausgerechnet, wie hoch die Saldoleistung der Stromproduktion beispielsweise in Graubünden ist, wenn auf der einen Seite mehr Restwasser fliessen muss, auf der anderen Seite aber neue Energiegewinnungsanlagen hinzukommen, weil eine Einspeisevergütung beantragt wird. Anita Mazzetta, die es grob nachgerechnet hat: "Die bewilligten KEV-Kraftwerke produzieren schon heute weit mehr als der Energieverlust für Restwasser." Zudem können die Betreiber von Grosskraftwerken mit neuen Turbinen weit mehr Strom aus der gleichen Wassermenge gewinnen. 
Hinzu kommen Pumpspeicherkraftwerke wie jenes von Linth Limmern. In Zeiten des Energieumbaus fördern sie die Energiesicherheit. Sie sind eine Batterie, die immer dann aufgeladen werden kann, wenn beispielsweise die Sonne in halb Europa von einem wolkenlosen Himmel scheint. Dann pumpt der Betreiber, die Axpo, den überschüssigen Strom aus dem Limmernsee hoch in den 630 Meter höheren Muttsee und lässt das Wasser bei Bedarf wieder über die Turbine fliessen. Das Leistungspotential entspricht mit 1'520 MW jener von vier Kernkraftwerken des Typs Mühleberg oder Beznau.

 

Der neue Stausee Linth-Limmern dient als Batterie. 

 

 

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Sicherheit dank Muttsee

Anfang September 2016 wurde das Pumpspeicherkraftwerk Linth-Limmern in den Glarner Alpen eröffnet. Das Kraftwerk mit einer Pumpleistung und einer Turbinenleistung von je über 1000 MW ist ein wichtiges Puzzleteil beim Energieversorgungskonzept mit neuen erneuerbaren Energien.

muttsee

 

Das Energieversorgungsgeschäft ist extrem langfristig. Den Bau der ältesten Staumauern und Kernkraftwerke haben die meisten von uns noch nicht erlebt. Trotzdem wird im Zusammenhang mit dem Pumpspeicherkraftwerk Linth-Limmern (PSW) und seinem Herzstück, dem aufgestauten Muttsee, von einem Milliardenloch gesprochen. Das ist kurzsichtig argumentiert. Die Energiepreise sind im Moment tief und die Stromproduzenten fahren mit den meisten Kraftwerken Verluste ein. Doch wenn einmal griffige Klimaziele verbindlich sind, kommen auch die billigen fossilen Energieträger Gas, Öl und vor allem Kohle unter Druck. Deshalb kann das Pumpspeicherkraftwerk als Investition in die Zukunft betrachtet werden. Sie hilft, die Energiewende durchzusetzen. Denn Wasser dann hochzupumpen, wenn beispielsweise wegen viel Sonne und Wind eine Überproduktion an nachhaltiger Energie vorhanden ist, wird sich auf Dauer rechnen. Die flexible Anlage wird künftig einen wichtigen Beitrag zur Netzstabilität und damit zur Versorgungssicherheit der Schweiz und Europas leisten. Sollte dies nicht der Fall sein, muss dies politisch so gewollt werden: die Energiesicherheit der künftigen Generationen zerstören und sie gleich auch noch mit der Lösung des atomaren Abfallproblems belasten. 
Mit dem Bau der Leistungserhöhung der Kraftwerke Linth-Limmern von heute 480 MW auf 1480 MW ist das grösste Bauvorhaben im Schweizer Energiesektor nun abgeschlossen worden. Die Bauzeit betrug zehn Jahre und die Baukosten belaufen sich auf über zwei Milliarden Franken. Durch die stark schwankende Produktion aus Wind- und Solarenergie ist vermehrt Regelenergie gefragt. „Das ist der Trumpf dieser hochflexiblen Anlage" beteuerte Axpo-CEO Andrew Walo in einer Medienmitteilung. Die Bauherrin Axpo ist optimistisch. Walo:„Das Pumpspeicherwerk Limmern leistet gerade im veränderten Marktumfeld einen wichtigen Beitrag zur Stabilität des Stromnetzes."
Die Zahlen sind eindrücklich: Die Rotoren der vier Maschinengruppen wurden in der Maschinenkaverne zusammengebaut, da sie im fertigen Zustand mit einem Gesamtgewicht von je 330 Tonnen zu schwer für einen Transport gewesen wären. Die je rund 220 Tonnen schweren Transformatoren waren die schwersten Einzelteile. Sie konnten gestaffelt mit der eigens dafür gebauten Standseilbahn über 4 Kilometer Länge transportiert und werden. Die Schwergewichtsstaumauer auf der Muttalp wurde zwei Jahre vor der Einweihung fertig erstellt. Mit einer Länge von 1050 m ist es die längste Staumauer der Schweiz und mit 2500 m. ü.M. die höchstgelegene Europas. Inzwischen ist der Muttsee aufgestaut und die Anlage hat ihren Betrieb aufgenommen

 

 

 

 

 

Ein Geldstrom

Es ist Glück oder Zufall, je nach Betrachtungsweise, ob unter dem Boden eines Landes oder einer Region Erdöl, Gas oder Gold liegt. Definitiv ist es ein Reichtum der nicht selten zum Fluch wird.

 Ein besonderer Reichtum ist auch Wasser. Denn Wasser bedeutet nicht nur Leben, sonder auch Geld. Besonders wenn der Wassertropfen hoch oben in den Bergen die Erde berührt. Dann muss er eine gewisse Höhendifferenz überwinden, um ins Meer fliessen zu können. Diese Höhendifferenz nutzen die Kraftwerke mit Turbinen, um das Wasser für die Stromgewinnung zu nutzen. Dafür zahlen sie den betroffenen Regionen einen Wasserzins. So fliessen über 500 Millionen jährlich in die öffentliche Hand. Alleine die Bergkantone nehmen davon mehr als 300 Millionen Franken ein. Das Wallis verdient über 100 Millionen, Graubünden rund zehn Prozent weniger und der Rest verteilt sich auf die anderen Kantone. Entsprechend sind die Wasserzinseinnahmen in vielen Kantonen ein bedeutender Budgetfaktor und manche Gemeinde bezieht die Hälfte ihrer Einnahmen aus der Wasserkraft. Man unterscheidet zwischen Lauf- und Speicherkraftwerken unterscheidet. Die Laufkraftwerke befinden sich in Flüssen und nutzen das durchfliessende Wasser im Dauerbetrieb. Speicherkraftwerke können sozusagen auf ein "Wasserlager" zurückgreifen, das sie bei Bedarf nutzen. Eine spezielle Form davon sind Pumpspeicherkraftwerke. Dabei wird Wasser bei tiefen Preisen hochgepumpt und wenn der Preis höher ist, wieder über Turbinen runtergelassen. Weil die Strompreise nicht nur saisonal, sondern täglich und stündlich schwenken, ist ein solches Kraftwerk potentiell eine gute Einnahmequelle. Die Zuständigkeiten der Wassernutzung zwischen Bund und Kantonen sind in der Bundesverfassung geregelt. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich allerdings die Zuständigkeiten von den Kantonen hin zum Bund verschoben. Heute erlässt der Bund Vorschriften zur zweckmässigen Nutzung der Wasserkraft. Doch gibt es Kantone, wie Graubünden oder das Wallis, die zum Wasserzins noch Sonderabgaben erheben. Diese Abgaben dürfen insgesamt mit dem Wasserzins nicht die vom Bund fixierten maximalen Abgaben überschreiten. Wasserzinsen werden seit 1918 bezahlt. Im Laufe eines Jahrhunderts wurden die Berechnungsgrundlagen immer wieder angepasst. Mehrmals kämpften die betroffenen Kantone um eine Erhöhung des Wasserzinses. Generell wird der Zins aus der Stromleistung berechnet. Das heisst, nicht nur die Wassermenge spielt eine Rolle, sondern auch das Gefälle. Als Grundlage dient der Jahresdurchschnitt der Bruttoleistung. Nicht wasserzinspflichtig sind jene Mengen, welche die Anlagekapazitäten überschreiten oder als Restwasser zurückbleiben müssen. Pumpspeicherkraftwerken wird der Wasserzins so berechnet, als wären sie Laufkraftwerke. Das heisst, wenn sie Wasser nochmals hochpumpen, um wieder daran zu verdienen, müssen sie nochmals Abgaben leisten.

 

Mehrfach verdienen: Das Pumpspeicher-Kraftwerk Linth-Limmern. 


Die Stromproduktion ist nicht die einzige Option, die Berggebiete haben. Der Verzicht, die Greina-Hochebene zu fluten, führte 1992 zu einer neuen Form der Abgeltung. Auf Basis des Wasserrechtsgesetzes können Gemeinden in schutzwürdigen Landschaften eine Entschädigung erhalten, wenn sie das Wasser nicht zur Stromproduktion nutzen. Bis 1997 mussten alle Stromproduzenten aus Wasserkraft Wasserzins bezahlen. Seither sind Kleinwasserkraftwerke von der Regelung ausgenommen. Sie zahlen wenig oder keine Abgaben. Im Durschnitt beträgt die Abgabe pro Kilowattstunde rund ein Rappen. Die Tendenz ist zwar leicht rückläufig. Dennoch steigt der relative Anteil des Wasserzinses am Gesamtpreis. Denn als Folge des Verdrängungswettbewerbes und der Stromüberschüsse sinken die Einnahmen europaweit stetig. Und die Schweizer Produzenten sind diesem Trend seit 2009 ausgesetzt. Mit der Teilöffnung des Strommarkts beziehen immer mehr Kunden und Stromlieferanten ohne eigene Kraftwerke ihren Strom aus dem Ausland. Die Produzenten klagen, die Wasserzinsen auf die grossen Endkunden zu überwälzen, liege bei diesem Marktumfeld nicht drin.
Der Tenor des Schweizerischen Wasserwirtschaftsverbandes, Swisselectric der zwei Stromversorger Axpo und Alpiq sowie des Verband der Schweizerischen Elektrizitätsunternehmen (VSE): Die aktuellen Marktverzerrungen hätten den Wert der Wasserkraft so geschmälert, dass die Kantone das bei der Erhebung des Wasserzinses berücksichtigen müssten.

 


Die Greina-Hochebene ist vor Überlutung geschützt. Die Gemeinden verdienen trotzdem.


Das Gesetz, das die Wasserzinsen regelt, läuft 2019 aus. Die Stromproduzenten möchten die Wasserzinsen streichen und erhalten Unterstützung von der wirtschaftsfreundlichen Avenir Suisse. Sie bezeichnet Wasserzinsen als Fremdköper im Strommarkt, ganz so, als würden auch alle Erdölstaaten ihren Rohstoff zu den Produktionskosten "verschenken". Auf der anderen Seite wollen vor allem die Bergkantone zumindest ein Teil ihrer regelmässigen Einnahmen weiterhin sichern. Bürgerliche Politiker drängen darauf, die Wasserzinsregelung für die Zeit nach 1919 bald in die Hand zu nehmen. Das Bundesamt für Energie gibt Richtung vor: Sein Vorschlag: Nur noch ein Teil der Abgaben soll fix, der Rest variabel ausbezahlt werden, wenn es die wirtschaftliche Situation erlaubt. Mit anderen Worten: Bleibt der Strompreis international so tief wie in den letzten Jahren, müssen sich vor allem Berggemeinen auf spürbare Mindereinnahmen gefasst machen. Auf der anderen Seite prüfen die Bundesbehörden die Möglichkeit, die Stromkonzerne zu verpflichten, ihren Kunden einen bestimmten Anteil von Strom aus Wasserkraft zu verkaufen. Die Gebirgskantone haben auf der Basis eines flexiblen Modells Gesprächsbereitschaft signalisiert. 
In den nächsten Jahren endet die Laufzeit einiger bedeutender Verträge zwischen Produzenten und Gemeinden und Kantonen. Der so genannte Heimfall gibt den Standortkantonen das Recht, die Konzession neu zu vergeben. Bisher war der Heimfall eine Chance, mehr Geld oder sonstige Leistungen für die Gemeinden herauszuholen. Das hat sich geändert. Die Möglichkeit ist gross, dass die Stromkonzerne ihrerseits mit Verweis auf die Marktsituation die Chance nutzen, die Leistungen zu kürzen.

 

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Lernen und Wissen teilen

Nach den Überschwemmungen 1999 und 2005 entschloss sich die Schweizer Regierung, den Schutz vor Naturgefahren zu verbessern. Lücken und Schwachstellen im Bereich der Prävention, Prognose und Alarmierung waren offensichtlich.

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Warnsignale und Sirenen: Ein Aufenthalt am Illgraben kann gefährlich sein

Im Rahmen der Optimierung von Warnung und Alarmierung bei Naturgefahren (OWARNA) schlug das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) verschiedene Massnahmen vor, die auch umgesetzt wurden. Gewiss: Die Wetterverhältnisse im August 2005 waren extrem. Es regnete tagelang intensiv auf die vollgesogenen Böden. Die Schneefallgrenze lag über 2500 Meter und die Flüsse schwollen rasch an. Vom Simmental bis zum Glarnerland gab es kaum ein Tal ohne Schaden. Und auch Österreich und Deutschland waren betroffen. Die Schäden beliefen sich auf drei Milliarden Franken – der grösste Schaden, den je ein Naturereignis in der Schweiz verursacht hat. Und Lehren wurden gezogen. Ein Beispiel ist der sehr gefährliche Illgraben, der in der Nähe des Pfynwaldes im Kanton Wallis liegt. Über den Graben führt auch eine Bhutanbrücke, die von der Gemeinde Susten aus erreicht werden kann. Der Illgraben beeindruckt immer. Bei schönem Wetter blenden die hellen Steinformationen und der kalkfarbenen Boden. Bei schlechtem Wetter, vor allem wenn es gewittert, die Wolken das über 2700 Meter hohe Illhorn zum Verschwinden bringen und sich der Regen wie ein fallender Vorhang die Landschaft in dichtes Grau hüllt, kann der Illbach in nur wenigen Minuten zu einem Gewässer anschwellen, bei dem riesige Gesteinsbrocken zu Tal geschoben werden, als wären sie aus Pappmaché und hätten für einen Katastrophenstreifen in Hollywood den Auftritt ihres Lebens. Hier wird ein Berg abgetragen. Mit jedem Unwetter ein Stück mehr. Gestaltungskraft und Wildheit werden hier überdeutlich sichtbar. Und auch die Tatsache, dass die Formung und Verformung der Alpen ein dauerhafter Prozess ist, der seit ungefähr 250 Millionen Jahren andauert. Im Tal unten bei Susten, nahe Lenk, formt der Illgraben einen mächtigen Kegel, der die Rhone nach Norden abdrängt, sie zu einer Schlaufe zwingt und Raum schafft, den der sehenswerte Pfynwald nutzt und hier ein kleines Naturparadies schafft. Das WSL betreibt beim Illgraben eine Beobachtungsstation für die regelmässig auftretenden Murgänge. Denn sie kommen hier im grössten Murganggebiet der Schweiz oft mehrere Male im Jahr vor. Im oberen Teil fällt aufgrund intensiver Verwitterung grosse Mengen an feinem und groben Material an, dass starke Regenfälle systematisch dem Talgrund entgegen transportieren. Ablagerungen eines Bergsturzes im Jahr 1961 bilden einen schier unerschöpflichen Materialvorrat. Mit Videoaufnahmen, Mikrophonen, Echolot, Radar. Lasergeräten und Geophonen untersucht das WSL systematisch die Morphologie, aber auch das Verhalten der Murgänge. Denn durch den Klimawandel und die damit verbundenen, stärkeren Niederschläge steigt die Murgang-Gefahr im ganzen Land. Das WSL gewinnt hier grundlegende Erkenntnisse über Muren. So kann zum Beispiel durch Messungen der Abflusstiefe und der Fliessgeschwindigkeit auf die Dichte des Gemisches aus Wasser und Stein geschlossen werden. Seit 2007 gibt es am Illgraben ein mehrstufiges Alarmsystem, aber auch modernste Netze, welche die grösseren Gesteinsbrocken auffangen. Die massiven Auffangnetze haben sich bewährt. Sie schaffen es bei einem Murgang, das grobe Material aufzuhalten und dahinter sauen sich auch die feineren Stoffe. Damit der Erfolg aber nachhaltig ist, muss eine ganze Kaskade solcher Netze angebracht werden.

  

Schnell verschwinden

Je nachdem, ob es sich um ein potentielles Hochwasser oder gar einen Murgang handelt, besteht eine Vorwarnzeit von einigen Minuten bis maximal einer Viertelstunde. In jedem Fall empfiehlt es sich für die Anwesenden nahe des Grabens, bei Alarm so schnell wie möglich zu verschwinden. Aber auch die sich im unteren Teil Gebäude, Sportanlagen und Strassen sind dauerhaft gefährdet. 


Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszurechnen, wie schnell man bei starken Regenfällen hier weg muss.

 

Doch dank des Alarmsystems können sie rechtzeitig geräumt werden. Helfer und Menschen, die berufsbedingt mit Naturgefahren zu tun haben, kämpfen im Katastrophenfall mit vielen Problemen, denn selbst nach der Prävention, einer rechtzeitigen Warnung und Evakuierung bleibt genügend Arbeit. Sie fängt schon oft bei der Notstromversorgung an. Wichtig ist die gemeinsame Informationsplattform Naturgefahren (GIN), auf der sich Meteorologen, Hydrologen, Gefahrenspezialisten des WSL und des BAFU, Führungskräfte aber auch lokale Gefahrenbeobachter austauschen können.

Mehr Infos: www.wsl.ch

 

Wandertipp

Eine kleine Wanderung von Susten aus über die Buthan-Brücke zeigt zwar nur den unteren Teil des Illgrabens. Trotzdem gewinnt man Eindruck von der zerstörerischen Kraft, welche Unwetter haben können. Der Aufstieg ist nicht besonders steil. Er dauert selbst beim gemütlichen Tempo höchstens eine Stunde. Der Gang über die Buthan-Brücke, welche in Zusammenarbeit mit Ingenieuren aus dem Königreich Bhutan erstellt wurde, ist ein besonderes Erlebnis. Sie schaukelt sanft über dem Flussbett, wirkt aber trotzdem vertrauenserweckend und lädt deshalb zu einer meditativ langsamen Begehung ein. Gebetsfahnen und eine Denkmal erinnern an die Zusammenarbeit mit den fernöstlichen Bauexperten. Hoch über dem tief eingefressenen, meist trockenem Bachbett wird das Tal leicht schwingend überquert. Mit einem ausgiebigen Genuss dieses Bauwerks und einem gemütlichen Abstieg dauert die Wanderung zweieinhalb Stunden.


Die Buthan-Brücke bei Susten: Nichts für Wanderer mit Höhenangst. 

Information:

Wallis Tourismus
Rue Pré Fleuri 6
Postfach 1469
1951 Sion
Tel. 027 327 35 70
www.valais.ch

 

  

 

 

Flüssiges Gold

Energie war einer der Schlüsselfaktoren des Aufstieges der Schweiz zu einer der führenden Wirtschaftsnationen der Welt. Das Schmiermittel dazu war nicht Öl, sondern Wasser, dessen Energie die Menschen schon lange nutzen.

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Mühlrad als Spielgerät im Müstertal

Intakte Mühlräder sind beliebte Wanderziele. Meist gibt es an alten Mühlen ein Gasthaus, das die Geschichte von Jahrhunderten atmet. Die Müller wussten schon im frühen Mittelalter: Wenn der Bach kein Wasser führt, wird die Arbeit hart. Das galt Jahrhunderte später auch für die Unternehmer, die in der Ostschweiz ihre Textilfabriken entlang von Bächen und Flüssen bauten. Bereits 1879 entstand das erste Wasserkraftwerk der Schweiz. Es war gleichzeitig eines der ersten weltweit. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts wurden weltweit immer mehr Wasser für die Stromproduktion genutzt. Zwischen 1950 und 1970 erlebte der Bau von Wasserkraftwerken vor allem in der Schweiz einen regelrechten Boom. Die Täler übergreifenden Anlagen wurden immer ausgeklügelter und die günstige Stromproduktion aus Wasserkraft ein entscheidender Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung. Das flüssige Gold diente allen. Seit der Jahrtausendwende bekommen die drei Energiepfeiler Wasserkraft, Atomkraft und fossile Brennstoffe Konkurrenz: Solarenergie, Windkraft, Gaskraft und viele andere technische Erneuerungen speisen Strom in den inzwischen teilweise liberalisierten Markt. Die Position der traditionellen Energieträger ist schwierig geworden. Der Schweizerische Wasserwirtschaftsverband (SWV) umfasst 220 Zentralen – vom Laufwasserwerk Rheinfelden bis zu Speicherseen in höchsten Gebirgsregionen. 90 Prozent der Stromproduktion stammt allerdings von 14 Prozent der Anlagen. Der Stromanteil aus Wasserkraft beträgt in der Schweiz beachtliche 60 Prozent. Nach 100 Jahren des Aufschwungs befindet sich die Branche seit mehr als zehn Jahren in einer Konsolidierungsphase.

Viele Bergkantone und Berggemeinden sind auf die Konzessionsgelder angewiesen, die ihnen die Stromproduzenten für die Nutzung ihres Wassers bezahlen. Die profitierenden Kantone mit ihrer in früherer Zeit ausgeprägten auf die Eigeninteressen fokussierten politischen Arbeit bekamen deshalb den Beinahmen Alpen-Opec. Bei den Auseinandersetzungen ging es beispielsweise um das sogenannte Restwasser. Es ist kein Ziel an sich, sondern richtet sich nach den Bedürfnissen der Natur. In einem Fluss muss soviel Restwasser durchfliessen, die das Ökosystem benötigt, um intakt zu bleiben. Ob es trotzdem beschädigt ist, einigermassen intakt oder artenreich – diese Interpretation ist oft Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Umweltverbänden und Stromproduzenten, bei denen jedes Prozent Restwasser mehr, einen Einnahmeausfall bedeutet.


In den letzten Jahren stieg die Stromproduktion nicht mehr wesentlich an, die Nachfrage aber auch nicht. Investitionen halten sich zurück. Zu unattraktiv sind die gegenwärtigen Marktpreise. Doch die Branche denkt auch an die mittlere und ferne Zukunft.

 

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Solange sich die Gletscher zurückziehen, aber noch nicht abgeschmolzen sind, bieten sich der Wasserkraft neue Chancen.

Neue Modelle rechnen im Hochgebirge mit der Entstehung von hundert neuen Seen. Zu verdanken sind sie den abschmelzenden Gletschern, die auf ihrem Rückzug Senken hinterlassen. Sie bilden eine Chance für neue Stromnutzungsquellen. Gleichzeitig werden Extremereignisse und das Verschwinden des gebundenen Wassers im Eis die Produktion unberechenbarer machen. Diese neuen Herausforderungen addiert mit den strengeren Anforderungen an den Umweltschutz bezüglich Restwassermenge bedingen nach Schätzungen des Wasserwirtschaftsverbandes bis 2050 Investitionen in der Höhe von 135 Milliarden Franken. Der gleichzeitige Kontrast zu den sinkenden Einnahmen aus Stromverkäufen und dem hohen Frankenkurs, sowie dem Wasserzins, der Berggemeinden bezahlt werden muss, verleiteten Roger Pfammatter bei einem Referat in Visp im April 2015 zu Skepsis: "Die Situation ist dramatisch. Die Wasserkraft wird zur Verliererin der Energiewende. Sie ist in ihrer Substanz gefährdet. Anstatt vom Ausbau zu träumen, geht es nun darum, den Bestand zu erhalten." Pfammatter fordert langfristig eine konsequente europäische Klimapolitik, die CO-2 belastet, Wasserkraft und Wasserkraft nicht mehr diskriminiert. Gleichzeit wünscht er sich für die Branche eine kurzfristige Entlastung durch eine Abgabenreduktion.

Mauer um die Erde

Die tiefen Strompreise treibt eine Branche in die Krise, die einst zu den Flaggschiffen der Schweizer Wirtschaft gehörte und auch der sich durchaus auch der nationale Stolz nährte, weil sie auf Ingenieursleistungen von weltweiter Bedeutung fussten. Zum Beispiel Grande Dixence.

Der Grande Dixence ist die höchste Gewichtsstaumauer der Welt. Die Betonwand ist 285 Meter hoch und kann es damit beinahe mit dem Eifelturm aufnehmen. Er liegt im Val des Dix, das im oberen Teil des Val d‘Hérémence beginnt. Der Wildbach im Tal heisst Dixence. Einer Legende nach soll der Flurname vom Kampf gegen zehn (dix) Sarazenen stammen. Die rund 700 m lange und 15 Meter breite Mauerkrone auf 2365 Meter über Meer bildet eine riesige Aussichtsterrasse, von der aus der Blick bis ins über 20 Kilometer entfernte Rhonetal reicht. Die Staumauer Grande Dixence ersetzte 1965 die nunmehr überflutete Dixence-Staumauer. Der Bau der neuen Staumauer, die Teil einer grossangelegten, hydroelektrischen Anlage ist, dauerte beinahe 15 Jahre. Während dieser Zeit waren bis zu 3'000 Arbeiter vor allem aus Italien und der Schweiz beschäftigt. Sie verarbeiteten die Baumaterialien vor Ort und benötigten dabei derart viel Beton, dass damit auf dem Äquator eine 10 Zentimeter Breite und ein Meter hohe Mauer um die Erde gezogen werden könnte. Der Stausee ist fast 230 Meter tief und fasst 400 Millionen Kubikmeter Wasser. Er hat ein Einzugsgebiet von 420 km2, das zu zwei Dritteln von Gletschern bedeckt ist. Diese 35 Gletscher speisen mit Hilfe von 80 Wasserfassungen, 5 Pumpwerken und einem 100 km langen Stollennetz den Lac des Dix. Weil das Wasser vieler Gletscher unterhalb der Seehöhe austritt, muss das Wasser hoch gepumpt werden.


Auch heute noch imposant: Die Staumauer des Grande Dixence. 

 

Kalter Staudamm

Die 2000 Megawatt, die in den vier Kraftwerken erzeugt werden, dienen der Stromversorgung von 17 Kantonen und entsprechen 20 Prozent der speicherbaren Energie der Schweiz. Um die Wasserkraft optimal auszunutzen, wird das Wasser zweimal turbiniert: zunächst auf 1490 m ü.M. im Kraftwerk Fionnay und anschliessend 1'000 Meter weiter unten auf der Höhe der Rhone, im Kraftwerk Nendaz. Innerhalb von 200 Sekunden kann hier die Energieleistung eines Kernkraftwerkes erreicht werden. Dies entspricht dem durchschnittlichen Verbrauch von 400'000 Haushaltungen. Die Besucher können in das mit unzähligen Stollen ausgebaute Innere der Staumauer gehen. Die informative Führung mit einem kleinen Film von der Bauphase dauert eine Stunde. Warme Kleidung sollte dabei sein, denn innerhalb der Gemäuer ist es das ganze Jahr über sechs Grad. Das Val des Dix dient aber nicht nur der Stromerzeugung, es ist auch ein ausgedehntes Naturschutzgebiet. In Zusammenarbeit mit Pro Natura Wallis den Steinbock-Höhenweg geschaffen, einen Naturpfad, auf dem die Tier und Pflanzenwelt des Val des Dix oberhalb der Staumauer der Grande Dixence besichtigt werden kann.


Wandertipp:


Das Innere des Staudamms Grande Dixence kann besichtigt werden. 

Eine besondere Herausforderung bietet die sechstägige Rundwanderung, die das Vallon de Réchy, das Val d’Hérens, und den Stausee des Grande Dixence umfasst. Die Tour pedestre du Val d`Hérens benötigt etwas Kondition. Am fünften Tag geht es auf gut 3`000 Meter hinauf. Das Gepäck muss allerdings nicht getragen werden, denn im Arrangement ist ein Gepäckdienst zwischen den Herbergen inbegriffen. Vermittlung bei Tourismus Val d´Herens, Euseigne. Tel. 027 281 28 15 oder www.valdherens.ch.

 

Informationen 
Tourismusbüro 
Val d'Hérens 
Route de la Vallée 
1982 Euseigne
Tel. 027 281.28.15

www.valdherens.ch

 

 

 

 

Die Perle soll wieder glänzen

Die Thur ist eine besondere Wasserperle. Doch die Ansprüche an den Fluss sind vielfältig. Während man im Oberlauf die Wasserkraft nutzen möchte, ergreift man im Unterlauf jede erdenkliche Massnahme, um Hochwasser verhindern. Dagegen setzen sich Umweltschutzorganisationen ein. Das Beispiel zeigt, wie umkämpft Wasserläufe sind.

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Landschaft mit Schnee und Eis: Die Thurfälle in Unterwasser

Zwischen dem mächtigen Tosen, der schäumenden Gischt und der erfrischenden Kühle selbst im Sommer bei den Thurfällen auf der einen Seite und der fast tropisch wirkenden, dichten und von Bibern bewohnten Mündungsspitze am Rhein auf der anderen Seite liegen scheinbar Welten. Verbunden werden sie durch die Thur, deren Wasserband sich über 127 Kilometer in die Länge zieht und von den flachen Zürcher und Thurgauer Ebenen bis ins hügelige Toggenburg reicht. Die Artenvielfalt der Thur ist im landesweiten Vergleich einzigartig. Eine erste Thurerweiterung, die so genannte zweite Thurkorrektion, fand im Gebiet Schäffäuli bei Niederneunforn westlich von Frauenfeld zwischen 1993 und 2002 statt. Die Renaturierung ist abgeschlossen und Anwohner sowie Freizeitaktivisten schätzen das Ergebnis. In ökologischer Hinsicht hat sie aber nicht viel gebracht. 
Dass nach der ersten Erweiterung in Niederneunforn die Artenvielfalt der bei den Wasserbewohnern nicht wesentlich zugenommen hat, liegt an der Seltenheit dieser ökologischen Trittseine. Sie müssten viel öfter gebaut werden. Deshalb setzen sich Umweltorganisationen für eine Gesamtplanung ein. Mit kluger Planung sei Sicherheit und Artenvielfalt miteinander vereinbar.

 

Im Korsett eingezwängt

Das Einzugsgebiet der Thur aber auch seiner wichtigen Zuflüsse Sitter, Urnäsch und Necker ist der Alpstein. Die regenreiche Region macht die Thur zu den Schweizer Flüssen mit dem grössten Schadenspotential. Sie ist wild, schwillt schnell an und kann grosse Flächen überschwemmen. Um das zu verhindern, wurde vor allem im Thurgau höhe Dämme gebaut. 
Nachdem die Thur 1977 und 1978 im Thurgau trotzdem starke Überschwemmungen verursachte, reagierte der Kanton ein Jahr später mit dem Thurrichtprojekt. Eine zusätzliche Extremereignisstudie zeigt, was passiert, wenn mehr Wasser kommt, als das zu erwartende "Hundertjährliche", das auch aus der Geschichte bekannt ist. Demnach ist das Schadenspotential gross und die Ortschaften Kradolf, Bürglen, Weinfelden, Müllheim und Teile von Pfyn könnten überflutet werden. Das Schadenspotential beträgt über 700 Millionen Franken. Gemäss Thurrichtplan und der Extremereignisstudie stand vor der Jahrtausendwende fest, dass an der Thur in den Hochwasserschutz investiert werden muss.

 


Ein Bild, das so nur noch im Friaul zu sehen ist: Die Thur bei Niederbühren um 1920.

 

Gleichzeitig müssen die Bauvorhaben mit dem neuen Gewässerschutz in Einklang gebracht werden. Doch Hochwasserschutz und Artenvielfalt schliessen sich nicht aus. Im Gegenteil: Nirgends ist die Artenvielfalt grösser als in Übergangszonen zwischen Wasser und Land wie sie in Auenwäldern zu finden ist. Nur muss man dem Fluss Flächen zur Verfügung stellen, die er bei Hochwasser überschwemmen kann. 
Wegen des viel zu schmalen Flussbetts mit teilweise abgesenktem Flussgrund ist die Artenvielfalt verarmt. Das gilt nicht für die gesamte Flussstrecke, aber doch für einen beachtlichen Teil. Dabei wäre das Potential gross. Botaniker bezeichnen die Artenvielfalt an der Thur noch immer als grösser im Vergleich mit ähnlichen Gewässern im Wallis. Dort ist das Klima zwar günstiger, aber die Nutzung der Wasserkraft durch Stromproduzenten viel grösser.

 

Ökologisch nicht viel gebracht

Bereits 2001 verabschiedeten die fünf Thurkantone Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, St. Gallen, Thurgau und Zürich eine Art Charta mit Zielen für den Wasserbau. Denn dass an und in der Thur mit klugen Massnahmen die Artenvielfalt noch deutlich verbessert werden könnte, ohne den Hochwasserschutz zu vernachlässigen, ist schon lange bekannt. Lukas Indermar, Verantwortlicher für Wasserfragen im WWF-Regiobüro St. Gallen sagt über die Renaturierung bei Neunforn: „Aus heutiger Sicht ist die geplante Aufweitung zu wenig breit. Weder Tiere noch Pflanzen haben genügend Lebensraum. Vor allem deshalb nicht, weil dieser ökologische Trittstein isoliert in der Landschaft steht.“ Richtung Westen sind es zur Thurmündung in den Rhein mindestens 20 Kilometer. Noch weiter ist es bis nach Weinfelden und Bürglen, wo nun die nächste Renaturierung erfolgen soll. Aus Sicht der Umweltorganisationen ist die Distanz zwischen den Aufweitungen zu lang und die geplanten baulichen Massnahmen selber völlig ungenügend. Das Problem ist nicht das Geld sondern der Widerstand der Bauern, die dafür Kulturland verlieren würden. Ziel der nun geplanten Bauten ist der bessere Hochwasserschutz von Weinfelden und Bürglen. Neben der Ausweitung des Mittelgerinnes, der Stabilisierung der Sohle und der Verstärkung des Hochwasserdammes scheint der Punkt Aufwertung der vorhandenen flusstypischen Lebensräume unbedeutend.

 

Keine schlechten Modelle

Für die Umweltverbände geht es um Grundsatzfragen: Die Dämme sind im ganzen Land in die Jahre gekommen. Das Gewässerschutzgesetz sieht nun bei den Dammerneuerungen einen ökologischen Ausgleich vor, ohne dass die Sicherheit leidet. Deshalb wollen sie sich dort wehren, wo Verbesserungen für die Umwelt nur eine Alibifunktion erfüllen. Gleichgültig, ob dies an der Rhone, der Reuss, am Alpenrhein oder der Thur geplant wird: ökologischen Massnahmen bläst ein steifer Wind der widerstandsbereiten Bauernschaft in Gesicht. Selbst wenn das Land – wie im Fall vom Alpenrhein – gar nicht in ihrem Besitz ist. Ausserdem werden Landbesitzer entschädigt. An Geld fehlt es nicht. Die Stromkonsumenten zahlen 0,1 Rappen pro Kilowattstunde in einen Fonds ein und finanzieren damit die Renaturierungen. Die Umweltverbände setzen sich für dynamische Gewässer ein und damit dies möglich ist, braucht ein Fluss alle vier bis sechs Kilometer einen ökologischen Trittstein, also eine Fläche, wo sich die Natur ungestört ausbreiten kann. Die Umweltorganisationen wollen sich jetzt hartnäckig für die bestmögliche Lösung einsetzten, weil Uferverbauungen an den Flüssen nach dem Neubau oder der Sanierung wieder fast hundert Jahre halten werden. Mit anderen Worten: Wenn jetzt der Natur nicht mehr Platz eingeräumt wird, geschieht für Generationen nichts mehr. Und dies, obwohl die Schweiz zu den Ländern der Welt gehört mit dem grössten Artenverlust.

 

 

Sauberes Wasser

Der Technikstandard wird bei den Kläranlagen der Schweiz angehoben, um hormonaktive Substanzen zu eliminieren. Die ARA Neugut in Dübendorf ist die erste Anlage, in der grosstechnisch Ozon eingesetzt wird. In Herisau kommt Aktivkohle zum Einsatz.

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Die Glatt wird wieder zu einem sauberen Fluss

 

Die Technik der Abwasserkläranlagen in der Schweiz versagt vielfach bei Mikroverunreinigungen. Immer mehr chemischer Stoffe gelangen in die Abwässer. Sie stammen aus Pflanzenschutzmitteln, Körperpflegeprodukten, Medikamenten, Waschmitteln oder aus spezialisierten Industriebetrieben und der Landwirtschaft. Sie sind oft nur in geringen Spuren nachweisbar. Hormonaktive Substanzen können zum Beispiel den Hormonhaushalt der Fische durcheinander bringen und zu einer Verweiblichung bei männlichen Tieren führen.

Das Parlament hat am Montag beschlossen, das Gewässerschutzgesetz zu verschärfen und den Technikstandard der ARA’s zu heben. 100 von rund 700 Kläranlagen sollen im Laufe der nächsten 20 Jahre eine zusätzliche Reinigungsstufe erhalten. Grundlage bilden Testergebnisse aus Pilotversuchen in Lausanne und Regensdorf. Zwei Verfahren kommen in Frage: Die Ozonung oder der Einsatz von Pulveraktivkohle.

Cornelia Kienle, Mitarbeiterin am Schweizerischen Zentrum für angewandte Ökotoxikologie des Wasserforschungsinstituts Eawag in Dübendorf und der ETH Lausanne hat zusammen mit Kollegen die Methoden geprüft. Sie testete dabei die Wirkung von hormonaktiven Substanzen und andere Mikroverunreinigungen auf den Schlupf, die Entwicklung, das Gewicht und die Sterblichkeit von Regenbogenforellen. Die Testfische wurden in den ersten zwei Lebensmonaten Abwässern nach der konventionellen Reinigung und nach der Behandlung mit Ozon oder Pulveraktivkohle ausgesetzt. Das Ergebnis: Die Folgen der Spurenstoffe auf die Fische war in Abwässern ohne zusätzliche Reinigung deutlich nachweisbar. Aktivkohle oder Ozon hingegen zeigten Wirkung: Die östrogen-aktiven Substanzen gingen 95 bis 100 Prozent zurück. Deutliche Erfolge waren auch bei rund 60 chemischen Stoffen zu verzeichnen, von denen jeder für Dutzende anderer verwandter Stoffe steht.


In Dübendorf wurde bei der ARA Neugut 2015 eine Ozonierungsanlage eingeweiht. Sie sammelt die Abwasser einer Agglomeration von 100 000 Einwohnern. Eine vierte Reinigungsstufe mit Pulveraktivkohle wurde bei einer Kläranlage in Herisau eingebaut, sodass die die belastete Glatt sauberer wird. Beide Anlagen sind der Auftakt zu weiteren ARA-Sanierungen in der ganzen Schweiz. . Der Bund schreibt kein bestimmtes Verfahren vor. Welche Methode sich besser eignet, muss individuell geprüft werden. „Wir wollen bei angestrebten 100 nachgerüsteten Kläranlagen die Mikroverunreinigung um mindestens 80 Prozent senken“, erklärt Michael Schärer, stellvertretender Sektionschef im Bundesamt für Umwelt und Verantwortlicher für Mikroverunreinigungen. Die ausgewählten 100 Kläranlagen, die nun saniert werden sollen, würden meist in dicht besiedeltem Gebiet mit einer Mischnutzung durch Industrie, Landwirtschaft und Wohnüberbauungen liegen. Sie leiten ihre Abwässer in kleine und mittegrosse Flüsse, die teilweise in trockenen Zeiten höchstens so viel Wasser mitführen, wie aus der ARA zusätzlich zufliesst – was zu einer schlechten Verdünnung in den Gewässern führt.

Die Kosten für die Nachrüstung der 100 ARA’s belaufen sich verteilt auf 20 Jahre auf rund 1,2 Milliarden Franken. Zudem wird auch der Unterhalt etwas teurer. Die Bezahlmodelle sind verschieden. In Herisau beteiligen sich die erwähnte Textilfirma, der Kanton, ein Abwasserfonds, sowie die Konsumentinnen und Konsumenten über den Wasserpreis.

  

 

Wissen vermehren

Der Klimawandel rückt die Gefahr der Naturkräfte stärker ins Bewusstsein. Ins Bewusstsein rückt auch der Umstand, dass fast die ganze Schweiz von Zerstörungen betroffen sein kann. Mit dem Lehrgangs zum „Naturgefahren-Berater“ möchte das BAFU die Kompetenzen lokaler Behörden vor Ort verbessern.

 

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Ein Fluss im Haus: Anwohner des Mattequartiers 2005. 

Der Winter 1998/1999 ist vielen als Lawinenwinter in Erinnerung. Extreme Schneemengen bedrohten viele Alpentäler. Als es dann im Frühjahr noch häufig regnete, entwickelte sich eine neue Drohkulisse: Jene des Hochwassers. Das Schmelzwasserliess Flüsse und Seen im Mittelland stark ansteigen. Als im Mai die erwähnte Regenperiode hinzukam, standen Uferabschnitte beispielsweise am Untersee wochenlang unter Wasser. Schlimm erwischte es in der Stadt Bern die Matte, jenes Altstadtquartier, das im Aareknie liegt. Die Anwohner konnten praktisch mit dem Boot in die ersten Stockwerke ihrer Häuser einsteigen.

Mit dem Absinken des Aare-Pegelstandes verblasste auch die Erinnerung schnell. "Es gab scheinbar keinen Anlass zu handeln", erinnert sich Rosmarie Bernasconi, Inhaberin des Buchladens "Einfach Lesen", der ebenfalls überschwemmt wurde. "Schliesslich war es ein Jahrhunderthochwasser." 

Doch im August 2005 war es wieder so weit. Opfer der Überschwemmungen im Mattequartier wurden auch die letzten Exemplare von Bernasconis Buch über das Hochwasser von 1999. Jetzt handelte die Stadt. Sie richtete Interventionsplätze ein, wo der Untergrund verstärkt wurde, damit schwere Fahrzeuge im Bereich Tych ans Ufer fahren können. Mit Kranen lässt sich nun das Schwemmholz schnell aus dem Wasser fischen, bevor es den Durchfluss verstopfen kann. Vor den Häusern baute das Tiefbauamt Verankerungen in die Böden. Dank diesen können bei drohendem Hochwasser Dammbalken aus Aluminium montiert werden. Zudem führte die Berufsfeuerwehr der Stadt Bern ein SMS-Warnsystem ein, das bei drohendem Hochwasser die Anwohner auffordert, ihre Autos und andere wertvolle Besitztümer aus der Gefahrenzone zu bringen.
Die Tage zwischen dem 19. und dem 23. August 2005 brachten in der ganzen Schweiz enorme Niederschläge. Aare, Reuss und Limmat hatten Höchststände, wie sie seit 1910 nicht mehr beobachtet wurden.. Es kam landesweit zu 5'000 Rutschungen. Die Schäden beliefen sich auf rund drei Milliarden Franken.

 

War er schon vergessen? Bericht über das Jahrhunderthochwasser 1999. Beschädigt beim Jahrhunderthochwasser 2005. 

 

Zwei so genannte Jahrhunderthochwasser in kurzer Zeit veranlassen das BAFU zu handeln. Nach dem Vorbild der zweistufigen Kurse für das Management von Lawinengefahren, entwickelte das BAFU ein Kursmodul, das die Teilnehmer als „Naturgefahren-Berater“ oder „Naturgefahren-Beraterin“ abschliessen. Der Grund für die Initiative: Grössere Städte wie Bern sind in der Lage, sich selber zu helfen, aber kleinere Städte und Gemeinden sind bei Katastrophensituation überfordert. Das fängt bei kleinen Dingen an. Ein Naturgefahren-Berater hat ein Auge dafür entwickelt, wo Autos weggeschwemmt werden können, wo Keller vorzeitig geräumt werden sollten, wo Sandsäcke schützen könnten und wo Schutzschläuche nötig sind.

Die Kurse thematisieren die Selbsthilfe bei den gängigen Gefahren. Je nach Region droht die grösste Gefahr durch Hochwasser, durch Felsstürze oder Murgänge. Die Ausbildung ergänzt das bereits vorhandene, lokale Wissen. Naturgefahren-Berater wirken in ihren Gemeinden präventiv, aber auch während eines Schadenereignisses, und bei der Schadensanalyse. Bei der Analyse gilt es vor allem zu klären, ob zu früh oder zu spät gewarnt und die richtigen Massnahmen getroffen wurden. Die notwendigen Rückschlüsse aus den Wetterinformationen für die Einwohner in den Städten und Gemeinden muss das dortige zivile Führungsorgan mit den Naturgefahren-Beratern ziehen. Der Hochwasserschutz ist ein dynamischer Prozess. Denn die Starkniederschläge nehmen stetig zu und durch die ebenfalls zunehmende Versiegelung und Verbetonierung des Landes nimmt die Fläche ab, die Wasser aufnehmen könnte. Also müssen immer grössere Mengen Wasser in derselben Zeit wie früher abfliessen können. Was als Hochwasserschutz vor 50 Jahren noch funktioniert hat, kann jetzt versagen. 
Im August 2007 hätte es im Mattequartier von Bern wieder soweit sein können. Der Ernstfall trat ein. Die SMS-Warnungen der Feuerwehr trafen rechtzeitig ein und der verstärkte Untergrund ermöglichte es, mit schweren Fahrzeugen das Schwemmholz wegzubringen. Wassergefüllte Schutzschläuche boten wie Dämme einen Gegendruck zu den Wassermassen und wo doch Wasser eindrang, wirkten die Aluplatten als Dämme. Zwar braucht es noch weitere bauliche Massnahmen, um einem Hochwasser wie 1999 standzuhalten, aber der Prozess für einen verstärkten Hochwasserschutz mit den notwendigen präventiven Massnahmen ist nicht nur in Bern, sondern in vielen Regionen im Gange.

Mehr Informationen: www.planat.ch

 

 

 

Wie wird aus Wasser Strom

In Churwalden können Interessierte genauer hinschauen, wie Wasser in Strom verwandelt wird. Dank der anschaulichen Präsentation ist die Chance der Besucherinnen und Besucher im Lehrkraftwerk hoch, dass sie es danach auch verstehen.

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Klein aber fein: Das Demonsrationskraftwerk in Churwalden

 

Dass Wasser über eine Turbine fliesst und die dann irgendwie Strom produziert gehört zum allgemeinen Wissenskanon. Doch wie steuert man eine Turbine? Jedenfalls scheint es knifflig zu sein, als ein Lehrling den Auftrag hat, durch manuelle Steuerung einer Pelton-Turbine, sechs Glühbirnen mit Strom zu versorgen und ihr Leuchten zu erhalten. Ein Kollege kurbelt hektisch an einem Rädchen, das die Wasserzufuhr regelt, ein anderer schlägt sich damit herum, mit einem Drehregler die Spannung bei den gewünschten 230 Volt einzupendeln. Das ganze System gerät aus den Fugen, als einer aus Spass unbemerkt den Strahlablenker einschwenkt, bis die Turbine mangels Wasserzufuhr ausläuft und die Lichter ausgehen. Ruedi Hodel ist für einen Moment ratlos. Er weiht als Instruktor des Schweizerischen Vereins für Lehr- und Demonstrationskraftwerke an diesem Nachmittag Anlageführer-Lehrlinge aus der ganzen Ostschweiz in die Geheimnisse der Stromproduktion aus Wasserkraft ein. Doch nichts ist passiert. Das Kleinwasserkraftwerk mit einer Nennleistung von zwei Kilowatt ist extrem fehlertolerant ausgelegt, um bei einer Fehlbedienung nicht Personen oder die Anlage zu gefährden. Niemand würde auf die Idee kommen, dass in dem holzverschalten Gebäude hoch über Churwalden eine Turbine mit zwei Generatoren untergebracht ist. Von aussen wirkt es eher wie ein Stall als wie ein Miniatur-Kraftwerk zu Schulungszwecken. Hodel muss je nach Wissensstand des Publikums im Schulungsraum weit ausholen oder kann gleich zur Sache kommen. Die Anlagebauer-Lehrlinge hören sich aufmerksam Hodels’s theoretische Erläuterungen an und beweisen ihre Fachkenntnis, die über das Laienwissen vom fliessenden elektrischen Strom hinausgeht. Anschaulich gemacht werden Gleich- und Wechselstrom, Elektromagnetismus oder die Funktionsweise von Hochspannungsleitungen an verschiedenen Tafeln, wo es auch mal blinkt, ein Zeiger ausschlägt oder Metallstäbe am Elektromagneten ausgerichtet werden. Lässig nimmt Ruedi Hodel einen reichlich deplatzierten, dummen Spruch eines Lehrlings auf, um ihn mit einer Gegenfrage herauszufordern und ins Thema – es geht um Transformatoren, die den Spannungswechsel bei Überlandleitungen regeln – zurückzuholen. 

Abstraktes Thema anschaulich machen

Tatsächlich, sagt später ein Reallehrer, es sei heute zunehmend schwieriger, Jugendliche für ein so abstraktes Thema wie die Stromproduktion zu gewinnen. „Die allzeit verfügbare Elektrizität wird als Selbstverständlichkeit betrachtet. Man fürchtet sich zwar vor den Folgen eines atomaren Super-Gaus, aber das war‘s dann eigentlich schon. Die Konsequenzen, die ein Atom-Ausstieg für die künftige Stromherstellung hat, interessieren hingegen kaum“. Mit dem Lehrkraftwerk könne es noch am ehesten gelingen, an diesem Desinteresse zu rütteln, und mehr als nur eine Ahnung davon zu vermitteln, wie der Strom in die Steckdose kommt. Mit dem Lehrkraftwerk gelingt es, die Brücke zwischen Theorie und Praxis elegant und einprägsam zu schlagen. Was im Grosskraftwerk in den Maschinenhallen einen Höllenlärm verursacht, ansonsten aber hinter dickem Metall verborgen ist, kann im Schulungsraum des Lehrkraftwerks en miniature hautnah betrachtet werden. Herzstück ist die unter Plexiglas sichtbare Pelton-Turbine, eine Miniaturversion der meterhohen Schaufelräder, wie sie in grossen Hochdruckkraftwerken zum Einsatz kommen. Das Wasser schiesst aus zwei vierhundert Meter langen, einzeln oder gemeinsam nutzbaren Druckleitungen heran, die aus einem 40 Meter höher gelegenen Reservoir mit 10‘000 Litern gespiesen werden. Sieben Liter Wasser pro Sekunde werden bei Maximalleistung (2,7 Kilowatt) in die Turbine geleitet. Die beiden Leitungen haben ein Durchmesserverhältnis von eins zu zwei. Damit lassen sich die Leistungsverluste illustrieren und am Messinstrument ablesen.


Eins zu eins umgesetzt

Geregelt wird die Leistung der Turbine mit einer Düse, die Hodel in Grossversion zeigt. Die Steuerung übernimmt jeweils ein kleiner Elektromotor, dessen hektisches Hin und Her bei automatischem Start der Anlage, Beschleunigung der Turbine auf 1'000 Umdrehungen pro Minute und Erreichen des gewünschten Leistungspegels, die Zuschauer in den Bann zieht. Im Lehrkraftwerk ist aber auch ein reiner Handbetrieb möglich, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was es heisst, eine Turbine mit einem regulierten Wasserstrahl ins Drehen zu bringen. Wenn die Anlage nicht zu Demonstrationszwecken benützt wird, läuft sie automatisch und speist Strom ins Netz ein.

Hier können die Schülerinnen und Schüler selber Strom produzieren. 


Die beiden zur Auswahl stehenden Generatoren – ein Asynchron- und ein Synchrongenerator – können aber auch im Inselbetrieb, also abgehängt vom Netz betrieben werden. Dann schaltet Ruedi Hodel einen Kasten mit verschiedenen Glühbirnen zu, die in verschiedener Abstufung zu- und weggeschaltet werden können und die Turbine zu hohen- oder weniger hohen Drehzahlen nötigen. Am Hilfssteuerpult dürfen die Besucher selbst die Operateure sein. Es macht Eindruck, wenn die Turbine unvermittelt aufheult oder die Düse hektisch zugedreht werden muss, um einem Lastabwurf – das Abschalten aller angeschlossen Stromquellen – entgegenzuwirken. 
Mehr Informationen unter www.svld.ch

Von der Liebesgabe zur geplanten Solidarität

Die Geschichte des Hochwasserschutzes ist ein Musterbeispiel für die Entwicklung eines Solidarsystemes von der reinen privaten Spende hin zu einem modernen Versicherungsstaat.

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Das Bild zeigten einen Aufruf, Überschwemmungsopfern zu helfen. 

 

Nidwalden, am 10. August 1806: Ein Gewitter zieht sich über dem Engelberger Aatal zusammen und entlädt sich in einem „vielstündigen, beyspiellosen Wolkenbruch, als ob die Schleussen des Himmels zum Untergange des Gebürges und des Thales sich geöffnet hätten“, wie ein Chronist schrieb. Schlammlawinen und Erdrutsche begraben Häuser und Fahrwege, Hochwasser schwemmen Ställe und Vieh fort. Vier Monate später ergeht der freundeidgenössische Appell: Helft den von der Wassernot Geschädigten mit einem Almosen auf. Indes: Erst im darauf folgenden Jahr sehen die Katastrophenopfer etwas von dem Spendengeld.

2005, also bald 200 Jahre später, nähert sich im August das Genua-Tief und schüttet sich über der Innerschweiz aus: Im Engelberger Tal reisst das Geschiebe aus Stein und Schlamm Häuser nieder. Die sintflutartigen Regenfälle lassen den Vierwaldstättersee über die Ufer treten. Stansstad, Kehrsiten, Buochs und Beckenried sowie das von der Engelberger Aa geflutete Ennetbürgen stehen unter Wasser. Erdrutsche haben in Grafenort, Oberrickenbach und Wolfenschiessen Gewerbebauten und Bauernhöfe schwer beschädigt. Die Schäden belaufen sich auf 90 Millionen Franken. Die Schäden werden jetzt nicht mehr von spendefreudigen Miteidgenossen gedeckt – es ist nun Aufgabe der Gebäudeversicherer, hier gerade zu stehen.

 

Mahnung von der Kanzel

Zurück ins Jahr 1806. Im November erliess Landammann Andreas Merian, der damals der Eidgenossenschaft als eine Art Staatschef vorstand, ein Rundschreiben an die Kantone: „Im Namen des gnädigen Gottes und des gemeinsamen Schweizer Vaterlandes“ rief er zur nationalen Kollekte für die Geschädigten des Bergsturzes und den Überschwemmungsopfern Nidwaldens auf. Vor allem Pfarrer und Geistliche hatten nun den Auftrag von der Kanzel herunter das Gebot der Solidarität zu künden. Und die Prediger hatten in einem Zeitalter, in dem die Katastrophen nicht beinahe zeitgleich zum Ereignis über die Bildschirme liefen, mit viel rhetorischem Geschick die Herzen und damit die Portemonnaies ihrer Zuhörer zu öffnen.

Das Katastrophenjahr 1806 bildet den Auftakt zu einer Serie von national das Mitgefühl mobilisierenden „Liebesgaben“ – das Wort Spenden ging erst im 20. Jahrhundert in den helvetischen Wortschatz ein. Typisch dafür ist das „Landesunglück“ im Herbst 1868. Das schadensmässig grösste Hochwasser des 19. Jahrhunderts setzte weite Teile der Kantone Wallis, Tessin, Uri , Graubünden und St. Gallen unter Wasser. Damals erhob die straff von „kantonalen Hülfskomitees“ organisierte Spendenkampagne den Schwur der Landleute in Schillers „Tell“ zum Slogan: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.“ Zurecht stellte der emeritierte Berner Umwelthistoriker Christian Pfister fest: Katastrophen dienen als „Plattform für die Festigung der nationalen Identität“. Denn neben der Armee, Landesausstellungen oder den eidgenössischen Schwing- und Singfesten, speist gerade die emotionell aufrüttelnde Katastrophen-Solidarität das Kraftwerk patriotischer Gefühle.

 

Professioneller Umgang mit Gefahren

Inzwischen ist die Katastrophenhilfe längst keine patriotische Übung mehr. Die Entwicklung der Naturwissenschaften hat auf breiter Ebene ein präventives Vorgehen ermöglicht. Doch mit dem gestiegenen Wert der Gebäude und dem exzessiven Zubauen der Täler hat sich auch das Schadenspotential erhöht. Andererseits entwickeln sich auch die Massnahmen. 
Als besonders wirkungsvoll erwies sich 2005 die Hochwasserentlastung der Engelberger Aa in ihrem Mündungsgebiet zum Vierwaldstättersee. Exakt wie berechnet kippten die Betonplatten weg, als der Wasserdruck auf 200 Kubikmeter pro Sekunde anstieg. Sie gaben den Weg frei für eine Überlauffläche. 
Aber immerhin hat sich bei den Überschwemmungen 2005 eines herausgestellt: Die computersimulierten Gefahrenkarten, in die alle historisch fassbaren Extremereignisse von Erdrutsch über Hochwasser bis zu Sturmschäden als Datenmaterial eingeflossen sind, stimmen. Das Hochwasser hat genau die Fläche bedeckt, welche die Gefahrenkarte für eine Flut von diesem Ausmass vorausgesagt hatte.

 

 

 

Panzerglas und Freseken

Hochwasserschutz beschränkt sich nicht auf den Dammbau entlang von Strömen und Flüssen. Er beginnt schon viel früher. Dort wo es häufig regnet: In den Bergen. Dort sind die Gewässer zwar noch kleiner, dafür das Gefälle grösser. Unter dem Strich gibt es deshalb auch in den Alpenregionen ein grosses Gefährdungspotential.

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Traurige Erinnerung auf dem Friedhof von Gondo. Am 14. Oktober 2000 kamen hier 13 Menschen ums Leben.

Mit hübschen Fresken sind die Fensterrahmen des Wohnhauses im Ortsteil Godin in Pontresina verziert. Den Fenstern vorgelagert ist 30 Millimeter dickes, dreischichtig verklebtes Panzerglas. Das grün schimmernde Glas muss einen Druck von drei Tonnen pro Quadratmeter Glas aushalten. Es ist der Druck gewaltiger Schneemassen. Ausgelöst werden solche Lawinen an den aus dem Tal gut sichtbaren, steilen Hängen unterhalb der Segantini-Hütte. Sie donnern mit bis zu 200 Stundenkilometern durch zwei extrem steile Rinnen hinunter und holen dabei so viel Schwung, dass sie trotz des rasch flacher werdenden Geländes im schlimmsten Fall bis in den Talgrund vordringen.

Mit technischen Massnahmen versuchen Menschen, Wassermassen von dort fern zu halten, wo sie Menschenleben oder Kulturobjekte zerstören könnten. Mächtige Dämme entlang von Fliessgewässer zu bauen, ist zwar einfach, aber auch teuer. Nicht weniger billig und oft eine grosse Herausforderungen an die Ingenieure sind Schutzmassnahmen in Bergregionen. Denn dort werden die Menschen gleich dreifach bedroht: Von Lawinen, Steinschlag und Murgängen, die eine Mischung aus Wassermassen, Erde und Geröll sind, die ins Tal rutschen. 
1976 erreichte eine Lawine letztmals das Gebäude, in dem sich das Büro des Bauingenieurs Dino Menghini befindet. Aber: „Niemand kann das Ausmass eines Lawinenabgang präzise vorhersagen“, sagt Menghini. Gerade deshalb sei grösste Vorsicht am Platz.
Es braucht Verstärkungen: Panzerglas vor den Fenstern, dicke Mauern, die als „Lawinenfang“ Haustüren schützen oder Erdaufschüttungen vor den bergseitigen Wänden, die einer Lawine die grösste Wucht nehmen. Menghini arbeitet im Dienste der Gebäudeversicherung Graubünden. Zu ihren Händen erlässt er die Auflagen, mit Verstärkungen die Gebäude so zu sichern, dass sie auch der schlimmsten hier zu erwartenden Lawine standhalten können. Die Risikoabschätzung ist im Kanton Graubünden Aufgabe der aus unabhängigen Fachleuten zusammen gesetzten Gefahrenkommissionen. Viel Physik steckt dahinter, mathematische Gleichungen, dazu die Erfahrung aus der Naturbeobachtung. Das Ergebnis ist eine Annäherung an die Katastrophe, wie sie, was letztlich niemand hofft, eintreten könnte. Die Unabhängigkeit des Gremiums ist unabdingbare Voraussetzung für dessen Arbeit. Es sind zwei Interessenssphären, die es auszuklammern gilt. Jene der Grundeigentümer und jene der Gebäudeversicherung. Wer ein Haus in einer gefährdeten Zone bauen will, hat, verständlicherweise, keine Freude an den Auflagen, etwa, wenn das Gebäude auf einen Sockel gestellt werden muss, weil es in einem potentiellen Überschwemmungsgebiet liegt. Mehrkosten, aber auch eingeschränkte architektonische Gestaltungsmöglichkeiten werden moniert. Anderseits kann es nicht Aufgabe der in der obligatorischen Gebäudeversicherung zusammengefassten Allgemeinheit sein, überproportional hohe Risiken mitzutragen. Der Kanton Graubünden überträgt wie 19 der 26 Schweizer Kantone die Gebäude-Versicherungspflicht an die staatseigene Gebäudeversicherung. Etwa 4'000 der 150'000 Gebäude im Kanton Graubünden liegen in der blauen, cirka 700 sogar in der roten Zone, in der eigentlich ein Bauverbot herrscht. Es handle sich um Häuser, die schon vor dem Erlass schärferer Bestimmungen erbaut wurden. 
Muren und Schlammlawinen haben ein riesiges Zerstörungspotential. Zwei s-förmig angelegte Dämme mit einem Bach-Durchgang in der Mitte, 13 Meter hoch, bis zu 67 Meter breit und 230 Meter lang, sollen in Pontresina davor schützen. Der Schafberg oberhalb des Dorfes ist nicht mehr als eine Ansammlung von Geröll, das zusammengehalten wird von der Kraft gefrorenen Wassers: Permafrost. Doch er beginnt zu schmelzen. Am 3303 Meter hohen Corvatsch, einem markanten Engadiner Skiberg, wird die Temperatur im Permafrost in verschiedenen Tiefenstufen seit 1987 kontinuierlich gemessen. Der Trend ist klar: Es wird wärmer. Damit droht ein Gleichgewicht aus den Fugen zu geraten, das an extremen Stellen wie am Schafberg das Tal jahrtausendelang vor einer Naturkatastrophe bewahrt hat. Starkniederschläge im Sommer könnten im aufgeweichten Untergrund Muren auslösen, die im schlimmsten Fall grosse Teile von Pontresina unter sich begraben hätten.

Einen solchen Murgang hat auch das Walliser Dorf Gondo im Jahr 2000 erlebt. Das Dorf ist zwar wieder aufgebaut, doch erholt haben sich die Menschen nicht wirklich. Im Jahr 2000 lebten hier noch 120 Einwohner. 2007 waren es noch 70. Die Schule ist inzwischen geschlossen worden. Denn in Zeiten des Klimawandels wird das Leben in den Bergen nicht unbedingt sicherer. 

 

Scheinbare Normalität, aber nichts ist, wie es war: Gondo.


Schmelzender Permafrost und das schon 150 Jahre andauernde Abschmelzen der Gletscher sind nur eine Folge der Klimaveränderung im Alpenraum. Noch weit gravierender könnte eine Veränderung der Niederschläge sein, wie sie im Expertenbericht des International Panel on Climate Change (IPCC) für den Alpenraum prognostiziert wird. Gerechnet wird mit rund 10 Prozent mehr Wasserabfluss auf der Alpennordseite, während auf der Südseite die Starkniederschläge deutlich zunehmen dürften. Häufigere Hochwasser und Erdrutsche sind eine mögliche Folge. Ob die verheerenden Hochwasser vom August 2005, die im ganzen Alpenraum grosse Schäden anrichteten, schon eine Folge der Klimaveränderung sind, kann heute niemand mit letzter Sicherheit beantworten. Die Unwetterschäden, die 2005 im ganzen Kanton mit 24,11 Millionen Franken das Vierfache eines durchschnittlichen Jahres erreichten, zeigen auch: der dramatischen Landschaftswandel, die intensivere Besiedlung auf einst wertvollem Bauernland, lässt das Schadensrisiko ansteigen. Der Mensch gestaltet die Natur, er macht sie zur Kulturlandschaft – auch im Alpenraum. Er baut auf, er zerstört, oder er lässt zerfallen, was nicht mehr benötigt wird.


Wandern auf dem Klimaweg

Der Klimawandel ist nicht nur ferne Zukunftsprojektion, er findet statt, schon heute. Das lässt sich auf dem Klimaweg sehr anschaulich erfahren. Auf 18 Tafeln werden die sichtbaren Veränderungen anschaulich erläutert. Der Weg führt von der Bergstation Muottas Muragl über den Schafberg zur Alp Languard, wo man mit der Sesselbahn ins Tal nach Pontresina gelangt. Unter www.klimaweg.ethz.ch lässt sich der Klimaweg auch virtuell erkunden. Wanderzeit 3 ½ Stunden, Schwierigkeitsgrad mittel.

 

 

 

 

Trinkwasser für Millionen

Der Bodensee ist das grösste Lebensmittellager Europas. Sein Wasser ernährt Millionen von Menschen. Dabei ist es so sauber, dass es praktisch nicht behandelt werden muss.

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Das Wasser ist bereit für den Transport über hundwerte von Kilometern. (Bild BWV) 

«Das Prinzip aller Dinge ist Wasser; aus Wasser ist alles, und in Wasser kehrt alles zurück.» Thales, griechischer Philosoph

Kälte und Dunkelheit. Und in der Mitte liegt der Quellbehälter. Er fasst 40'000 Kubikmeter Wasser, ist im Besitz der Bodensee-Wasserversorgung und liegt auf dem Sipplinger Berg hinter Überlingen am nördlichen Ufer des Bodensees. Hier auf über 700 Meter Höhe wird das aus 60 Meter Wassertiefe und fünf Grad kalte, hochgepumpte Wasser gereinigt und transportfähig gemacht. Über vier Millionen Menschen in 320 Städten und Gemeinden bis über die süddeutsche Metropole Stuttgart hinaus beziehen das Qualitätswasser aus dem Schwäbischen Meer. Damit ist die Bodensee-Wasserversorgung der grösste Zweckverband seiner Art in der Bundesrepublik. Über 120 Millionen Kubikmeter werden ihm jährlich entnommen. Das entspricht gerade mal drei Prozent des Volumens des viel kleineren Zürichsees Um das Wasser ans Ziel zu bringen, stehen 1'700 Kilometer grosse Hochdruckleitungen zur Verfügung. Die mächtigsten Gussleitungen haben einen Durchmesser von 2.25 Meter. Bevor das Wasser auf die Reise geht, durchfliesst es das so genannte Quellbecken. In dieses Becken mit einem Durchmesser von 14 Metern und drei Metern Tiefe stossen 1'000 Litern in der Sekunde hinein. In dem Wasserspeicher muss das Licht gelöscht sein, um Algenbildung zu verhindern. Die Decke wird von unzähligen Säulen getragen. Das Bild erinnert an die berühmten Kavernen des einstigen Konstantinopel. 
Mit zwei Druckleitungen wird das Wasser aus dem Seepumpwerk auf den Sipplinger Berg in die 15 Hektar grosse Anlage gepumpt. Wer in Sipplingen ein grossartiges Wasserschloss erwartet hätte, ist sicherlich enttäuscht. Es ist eine eigene, fast menschenleere Welt hier oben. Alles wird mit Videokameras überwacht. Die Zentrale ist mit unzähligen Monitoren ausgestattet. Trinkwasser ist sensibel und der Zugang dazu schwierig. Von einer Kaserne, die sich in der Nähe befindet, würden Soldaten bei einem Anschlag zur Verteidigung beigezogen. Natürlich stellen vor allem die Tausenden von Motorschiffen und der zunehmende Luftverkehr eine latente Gefahr für das Trinkwasser dar. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde dies beim Flugzeugabsturz in der Nähe bei Überlingen im Jahr 2012 bewusst.

 

Sicherheit fürs Trinkwasser

Die wichtigsten Grenzgewässer der Schweiz sind der Boden- und der Genfersee sowie die Tessiner Seen. Wegen der Wichtigkeit des Bodensees als Trinkwasserreservoir zeichnen sich die Bodenseevorschriften durch strenge Umweltschutzbestimmungen aus. Auf dem Genfersee setzten die französischen Behörden sehr hohe Anforderungen an die Sicherheit durch. Am Bodensee ist die Internationale Bodenseekonferenz (IBK) zuständig. Eines ihrer wichtigsten Themen ist die Sicherung und die Sicherheit des Trinkwassers. Damit es weiterhin von den 17 Entnahmestellen rund um den See hochgepumpt werden kann. Die grösste dieser Wasserpumpstationen steht in Sipplingen. 180 Angestellte arbeiten dort. Davon sind einige für die regelmässige Qualitätskontrolle im Labor zuständig. Eigentlich ist das Trinkwasser über alle Zweifel erhaben, aber das Seepumpwerk hat eine Achillesferse. Obwohl die Pumpstation im Landschaftsschutzgebiet liegt und es Motorbooten verboten ist, sich dem Uferstreifen zu nähern, gibt es einen potentiellen Gefahrenherd. Direkt am Ufer entlang führt die alte B31, die noch immer viel Verkehr aufnimmt. Ausserdem besteht durch einen unstabilen Hang ständige Rutschgefahr. 2005 versenkte ein Bauer zwei Fünfliter-Kanister eines Pflanzenschutzmittels in der Nähe von Sipplingen im See. Der Mann übte mit seiner Tat eine Art Selbstjustiz, weil er sich von den Behörden ungerecht behandelt fühlte. Doch seine zehn Liter Pflanzengift wären im See derart verdünnt worden, dass man die Substanzen bald kaum mehr hätte nachweisen können. Von der Wasserentnahmestelle, einem 10 Meter hohen Turm in 60 Meter Tiefe, fliesst das Wasser in drei Röhren zum Seepumpwerk Süssenmühle. Von dort transportieren es vier Pumpen mit einer Leistungsfähigkeit von 2'000 Litern in der Sekunde und zwei Pumpen mit einer Leistungsfähigkeit von 3'000 Litern in der Sekunde auf den über 700 Meter hohen Sipplinger Berg. Vom Quellbecken weg fliesst das Wasser durch zwölf reinigende Mikrosiebe, bevor es anschliessend ozoniert, das heisst mit hochaktivem Sauerstoff entkeimt wird. Nach einem Aufenthalt im Zwischenbehälter durchfliesst das Wasser eine Sandschnellfilteranlage. Im Reinwasserbehälter wartet es anschliessend auf seinen langen Transport nach Norden. Bevor es soweit ist, bekommt es eine geringe Menge Chlor beigefügt, um Keimbildungen unterwegs zu verhindern. Denn bis das Wasser im Rhein-Main-Gebiet angekommen ist, kann es bis zu sieben Tage dauern.

 


Sicherheit ist in Sipplingen gross geschrieben. (Bild BWV)

Auch wenn die Dimension der entnommenen Wassermenge eindrücklich ist, macht sie doch nur einen verschwindenden Bruchteil des Bodenseewassers aus. Man könnte sie kaum vom Pegelanzeiger ablesen. Der See besitzt eine Oberfläche von 539 Quadratkilometern. Die grösste Tiefe beträgt 252 Meter und der Seeinhalt 50 Kubikkilometer; das ist in Kubikmetern eine Zahl mit 10 Nullen.
Sowohl bezüglich der Wasserhärte als auch des pH-Wertes kann das Bodenseewasser als ideal ausgewogen bezeichnet werden. So steht es zumindest auf einem Informationsblatt der Bodensee-Wasserversorgung. Auch bei Nitraten und anderen ungünstigen Verbindungen liegt das Wasser weit unter den Grenzwerten.


St. Gallens Pionierrolle vor fast 100 Jahren
1895 gab die Stadt St. Gallen den Startschuss zur Nutzung des Trinkwassers im Bodensee. Sie weihte eine Pumpleitung von Rorschach nach St. Gallen ein, die die Gallusstadt mit Trinkwasser versorgen sollte. Inzwischen sind auf der Schweizer Seite Seewasserwerke in Thal, Rorschach, Arbon, Frasnacht, Romanshorn, Kesswil, Kreuzlingen und Steckborn in Betrieb. Gemeinsam entnehmen alle Seewasserwerke am Bodensee eine Menge, die dem Zufluss des Alpenrheins in 30 Minuten entspricht. Auf die Schweiz entfallen 13 Prozent der insgesamt 180 Millionen Kubikmeter Wasser.

 

 

 

Spielpatz für Dolomitenwasser

Man nennt ihn den König der Alpenflüsse. Trotzdem ist der Tagliamento, der dem Friaul ein unvergleichliches Aussehen gibt, hierzulande weitgehend unbekannt. Dabei hält er so manche Überraschung bereit.

 Dodo scheint nicht normal zu sein. Sonst würde der Gänsegeier erkennen, dass es für ihn kaum einen ursprünglicheren Lebensraum geben könnte als hier am Tagliamento, den viele Besucher und Wissenschaftler den König der Alpenflüsse nennen. Majestätisch ist der Fluss tatsächlich. Kein Gewässer nimmt für sich soviel Platz in Anspruch wie er. Man sieht sein weisses, bis vier Kilometer breite Band durch das Friaul sogar auf den Satellitenbildern Europas. Es ist der Kalk, der das Wasser des Tagliamento blau, fast karibisch scheinen lässt; selbst dann noch, wenn schwere Wolken grau und tief hängen. Der amerikanische Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway war hier 1917 als Sanitäter an der Front und schrieb darüber den Roman „A farewell to Arms“ der auf Deutsch unter dem Titel „In einem anderen Land“ erschien und mehrmals verfilmt wurde. Fast ungehindert und ohne die gewohnten Dämme mäandert und schlängelt sich der Tagliamento dem Meer entgegen. Hemingway schreibt: Im Flussbett lagen Kieselsteine und Geröll trocken und weiss in der Sonne, und in den Stromrinnen war das Wasser klar und reissend und blau. 

Manchmal formt das Wasser aus dem Schotter eine Bank, dann wieder lädt es im seichten Wasser einen Baumstrunk ab. Auf vielen der Hunderten von Inseln gedeihen Büsche. Doch kaum eine Insel existiert länger als zehn Jahre. Dann hat der Fluss sie wieder aufgelöst, und ihre Bestandteile bilden anderswo eine neue Bank, die zu einer Insel wächst. Das mineralstoffreiche Wasser wirbelt, schiebt und mäandert auf seinem Weg ins Meer. Der Fluss verändert und verwandelt sich in einer dauerhaften Metamorphose.

Oder wie Hemingway schrieb:

"Der Wasserstand war niedrig, und es gab Sand und Steinstrecken, die von einer schmalen Wasserrinne durchzogen waren, und manchmal breitete sich das Wasser wie ein Schimmer über das Kiesbett. In der Nähe des Ufers sah ich tiefe Stellen mit Wasser so blau wie der Himmel."



Versinken und wieder auftauchen: Der Lebensrhythmus des Königs der Alpenflüsse.

 Der Tagliamento entspringt in den Dolomiten und fliesst zu erst in östlicher Richtung. Er zwängt sich durch das enge Tal, um dann als unheimlich mächtiger Strom in die Weite der mediterrane Ebene vorzustossen. Die Alpen präsentieren sich am Oberlauf steil und unnahbar, um dann fast urplötzlich aufzuhören und zur sanften Hügellandschaft zu werden. Nach 170 Kilometern mündet der Tagliamento zwischen Venedig und Triest ins Meer.

Bei einem Wassertropfen, der in den Dolomiten seinen Weg zum Fluss findet, ist es nicht sicher, ob er den direkten Weg zum Meer findet. Etwa 40 Kilometer vor der Meeresmündung versickert ein Teil des Stromes im Schotter. 10 Kilometer vor der Küste bei Latisana zwingt ein breiter Tongürtel im Untergrund das Wasser, wieder aufzusteigen. Das passiert aber nicht im Flussbett, sondern in Dutzenden von kleinen Quellen und Wasserlöchern, die auf ebenso viele Quadratkilometer verstreut sind. 
Der interessanteste Abschnitt befindet sich zwischen Venzone und Spilimbergo im mittleren Teil des Tagliamento , wo der Fluss auf 30 Kilometern Länge einen gewaltigen Korridor von 150 Quadratkilometern Grösse mit vielen intakten Auen bildet. Vor 100 Jahren trug der Tagliamento noch mehr Geschiebe mit sich. Doch damals waren die Berge auch kahl und das Holz ein begehrter Rohstoff zum Heizen. Heute verhindern die Baumwurzeln der bewaldeten Region stärkere Erosion.

 

Mit dem Ochsenkarren über den Fluss

Der Tagliamento ist eine Herausforderung für jene, die mit ihm leben. Früher überquerten ihn die Menschen zu Fuss an besonders breiten Stellen, wo das Wasser seicht ist. Im Winter trieben sie die Ochsen durch die Furt und setzten sich auf einen Wagen. Heute gibt es Brücken und Autos. „Seit die Menschen am Fluss kein Feuerholz mehr sammeln, keine Steine mehr für ihren Häuserbau holen und nicht mehr fischen, haben sie sich innerlich von Tagliamento entfernt. Die fast intime Beziehung, die früher die Friauler mit dem Fluss verband, ist der Gleichgültigkeit gewichen.“ Sara Berra bedauert dies. Sie leitet das Naturschutzzentrum sowie den 500 Hektare grossen Naturpark beim Lago di Cornino, einem kleinen Weiher wenige Meter abseits des Tagliamento. Der See ist für seine spektakuläre Farbe berühmt, die er den Blau- und Grünalgen zu verdanken hat. Selbst bei bedecktem Wetter leuchtet das Wasser noch jadefarben. Sara Berra informiert Besucher über die abwechslungsreiche Rundwanderung, die ab hier gemacht werden kann und zeigt ihnen die Aufzuchtstation für den Gänsegeier, Habichtkauz und Uhu. Letzterer ist das Symboltier des kleinen Naturparks. Die Freisetzung der Geier begann schon vor 30 Jahren. Dodo war einer der ersten, der seine Flügel hoch über die benachbarten Dolomiten schwingen durfte. Er hätte die Freiheit geniessen können wie die Falken, die Königsadler und zahlreichen Habichte, die es hier gibt. Doch Dodo ist von den bald 100 frei gelassenen Geiern der einzige, der dies nicht zu schätzen wusste. „Er hält sich für einen Menschen. Deshalb ist er immer wieder hierher zurückgekommen und hat unsere Nähe gesucht“, vermutet Sara Berra und lacht. Nun hat er eine neue Voliere bekommen und geniesst Bleiberecht. Das kann lange dauern, denn ein Gänsegeier kann bis zu 70 Jahre alt werden. Dodo ist noch nicht einmal halb so alt.

 

Im Flussbett bis 50 Grad heiss

Wer von der Station aus den Lago di Cornino umwandert und die Strasse überquert, gelangt nach einer Viertelstunde an das Ufer des Tagliamento. Es lohnt sich, bei niederem Wasserstand weit hinaus zu gehen. Fast kommt man sich inmitten der Steine- und Schotterwüste ein wenig einsam vor. Im Sommer können sich die Steine bis auf 50 Grad aufheizen. Das machen sich Brutvögel zunutze, die ihre Eier zwischen die warmen Steine legen. Das erspart ihnen das aufwendige Brüten. Die Steine changieren in allen Erdfarben und Grautönen. Sie bildeten den Rohstoff für die grossartigen Mosaike, für die die Römerstadt Aquileia unweit der Mündung des Tagliamento berühmt war. Später bedienten sich die Venezianer der Mosaikkunst der Friauler, welche die Steine aus dem Tagliamento mitbrachten (siehe Box). Die Steine, das Schwemmholz, die Vögel und die trotzigen Pionierpflanzen, die an trockenen Stellen aus Erdrissen spriessen, laden zum Schlendern ein. Und so gleicht manche Spur der Besucher dem Schlängeln der zahlreichen Flussarme, die wie Adern auseinandergehen, bevor sie wieder zueinander finden, nur um sich erneut zu teilen. Von Pflanzen und Tieren, die hier leben, verlangt der Fluss eine hohe Anpassungsfähigkeit ab. Überschwemmungen und Trockenheit, Hitze und Kälte, aber auch Stürme müssen sie praktisch ungeschützt über sich ergehen lassen. Der Rückweg führt parallel zum Ufer auf eine Anhöhe, wo ein Aussichtspunkt einen Überblick ermöglicht über das Flussbeet und die vielen Inseln ermöglicht.

 

Traumatisches 1976

Auf der gegenüberliegenden Seite liegen einige Kilometer nördlich die Gemeinden Osoppo, Gemona und Venzone. Sie bildeten am 6. Mai 1976 das Epizentrum eines schrecklichen Erdbebens, das fast 1`000 Menschen das Leben kostete und 100’000 obdachlos machte. Auf der Richterskala wies es eine Stärke von 6,5 auf. Die internationale Solidarität war gross, und es blühte ein Sommer der Hoffnung. Dann kam die Zeit zwischen dem 11. und dem 15. September mit mehreren neuen Erdstössen, von der der damalige Erzbischof von Udine, Alfredo Battisti, sagte: „Das Erdbeben vom 6. Mai hat das Friaul zerstört; das Erdbeben im September hat die Friauler zerstört.“ Eines der neuen Beben wies erneut eine Stärke von über 6 auf der Richterskala auf. Die Einwohner waren demoralisiert und flohen zu Tausenden. Doch der Wiederaufbau gelang. Venzone sieht man nichts mehr an. Die Altstadt ist restauriert und lädt zum Flanieren ein. Die interessante Ausstellung „Tiere Motus“ im Palazzo Orgnani Martina in Venzone erinnert an den Sommer vor bald 35 Jahren. Das Erdbeben war nicht das einzige dramatische Ereignis in der jüngeren Geschichte des Tagliamento. Sehr alte Menschen können sich noch heute an die erbitterten Kämpfe im ersten Weltkrieg erinnern, wo der Tagliamento die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und Italien bildete. 1917 fand hier einer der kriegsentscheidenden Schlachten statt. Noch heute sieht man in jedem als Unterstand brauchbaren Fels ein Loch, aus dem damals scharf geschossen wurde.

 

Als Offroad-Rennpiste missbraucht

Heute ist es am Tagliamento ruhiger geworden. Neben den wenigen Touristen interessieren sich vor allem Wissenschaftler für den Fluss. Hydrologen kommen sogar aus Japan hierher, um aus erster Hand zu studieren, wie sich ein Gewässer ohne Fesseln verhält. Denn Renaturierungen von Flüssen sind nicht nur in der Schweiz ein Thema. Wegen seiner Bedeutung möchte die Provinzregierung das Gebiet gerne zum Biosphärenreservat der Unesco erheben. Doch genau das findet die Umweltwissenschaftlerin Danusia Pioversana ziemlich verfrüht. „Die Regierung plant drei grosse Rückhaltebecken, um den Unterlauf, dort, wo das Wasser nach dem Versickern wieder ans Tageslicht tritt, vor Überschwemmungen zu schützen. Der schwerste Eingriff ist im mittleren Teil geplant, wo der Tagliamento ökologisch besonders wertvoll ist. Ausserdem bestehen in fast jedem Seitental mit Zuflüssen Ausbaupläne, um das Wasser als Energieträger zu nutzen.“ Ein weiteres Problem sieht Pioversana im Verhalten der Gemeinden am Oberlauf. Sie betonieren die Flussbette der Zuflüsse, damit das Wasser schnell abläuft. Das verschärft unten die Überschwemmungsprobleme. Sie fordert ein Management, welches das ganze Gebiet des Tagliamento mit einbezieht. Damit könnte man dann vielleicht auch wirksamer gegen die illegale Nutzung des Flussbetts als Offroad-Rennpiste vorgehen, die vor allem bei Österreichern beliebt ist.

 


Ein Fluss als Offroader-Paradies für Egomanen. 

 

Die WWF-Mitarbeiterin ist dennoch optimistisch. „Das Gebiet hat ein grosses touristisches Entwicklungspotenzial. Wenn das die Menschen einsehen, tragen sie der Landschaft Sorge.“ Bei den Jungen hat sie bereits eine Veränderung festgestellt. „Dass Wissenschaftler aus der ganzen Welt herkommen, um diesen Fluss zu studieren, macht sie stolz. Sie merken: Der Tagliamento ist etwas ganz Besonderes.“

Erdbebenmuseum, Palazzo Orgnani Martina, Venzone: www.tieremotus.it

 

 

Die Farbenkünstler am Fluss


Eine Tradition seit der Zeit des grossen Roms: Mosikkunst im Friaul.

 

Die bekannte Mosaikschule von Spilimbergo setzt die jahrtausendealte Tradition der Mosaikkunst im Friaul fort. 92 Studenten aus 23 Ländern lernen hier die Kunst, mit Steinen Gemälde zu legen. Von Anfang an spielt der Tagliamento eine wichtige Rolle. Hier muss jeder Student und jede Studentin ein bis zweimal jährlich etwa 10 Kilogramm geeignete Steine in allen Farben suchen. Sie werden am Ufer grob in eine nützliche Grösse gehauen. Der Tag endet meist mit einem Fest am Flussufer. Im ersten Jahr lernen die Schüler griechisch-römische Mosaike nachzubilden. Danach folgt im zweiten Jahr die Kunst der Byzantiner.


Mosaikarbeiten verlangen eine grosse Konzentration. 

 

Im dritten Jahr werden die Arbeiten freier. Es werden auch andere Materialien verwendet, und es entstehen grossflächige Mosaike in der Gruppenarbeit. Die Werke aus Spilimbergo sind weltweit zu sehen. Hier entstand auch das Mosaik „irrisierender Blitz“, das heute die U-Bahn-Station „Ground Zero“ ziert.

www.scuolamosaicistifriuli.it

 

 

 

 

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