Der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler erzählt im Roman „Ein ganzes Leben“ vom einfachen Bergarbeiter und entfaltet die grossen Lebensthemen Liebe und Leid.

Als ungefähr Vierjähriger kommt Andreas Egger in das Tal, in dem er sein Leben verbringen wird. Widerwillig nimmt der Grossbauer Kranzstocker den Waisenjungen seiner verstorbenen, windigen Schwägerin auf. Einen Beutel mit Geld bekommt er dafür, was dem Mann Grund genug ist, das Kind nicht „gleich zum Teufel zu schicken“. So zweifelhaft seine Herkunft, sein Eggers Schicksal scheint - zu Beginn des 20. Jahrhunderts - besiegelt.

Schier unfassbares Unglück
Der Vormund prügelt ihn schon als Kind zum Krüppel. Als Hilfsknecht begehrt er 18jährig auf und geht. Ein „gestandener Mann“, der zupacken kann, sich als Handlanger verdingt und Marie begegnet, seiner ersten und einzigen Liebe. Er will ihr was bieten und heuert als Seilbahnarbeiter an. Kaum kann er sein Glück fassen, begräbt schon eine Lawine die geliebte Frau und werdende Mutter unter sich. Er selbst kommt davon, körperlich noch lädierter als zuvor. Doch Aufbegehren gegen das Schicksal ist Egger fremd. Gleichmütig nimmt er hin, was ihm widerfährt. Schweigend tut er weiterhin seine Arbeit. Die Dorfgemeinschaft akzeptiert ihn als Sonderling. Dann kommt der Krieg, und Egger verbringt acht Jahre in russischen Lagern.

Mittendrin und aussen vor
Seethaler widmet sich in seinem fünften Roman einmal mehr dem Aussenseiter-Typus. Und auch diesmal, wie schon in „Der Trafikant“, bindet er ihn ein in die Zeitläufte des vorigen Jahrhunderts. Das leben von Andreas Egger spielt sich vor dem Panorama der Berge ab. So baut er eine der erste Seilbahnen mit, die Licht und Lärm ins Tal bringen - in eine nicht näher bestimmte, abgeschiedene kleine Bergwelt. Autobusse und Fernseher finden ihren Weg dorthin. Die beginnende Technisierung stimmt auch den Bergler euphorisch. Er hat das Gefühl, Teil von etwas Neuem, Grossartigem zu sein, heisst es an einer Stelle des Buches. Noch in seinen späten Jahren steht er als Fremdenführer inmitten des alpinen Massentourismus. Und doch bleibt er auch immer aussen vor. Es ist ihm bis zu seinem Ende ein Rätsel, was die Touristen scharenweise in den Alpen suchen.

Zufriedenheit am Ende
Tod und Leid ziehen sich als erzählerische Konstanten durch das Leben des Andreas Egger bis es 79jährig zu Ende geht. Erdrückend schwer scheint sein Schicksal, aber das Buch deprimiert nicht. Im Gegenteil: Es strahlt grosse Kraft aus. Das mag an der sprachlichen Schlichtheit des rund 200 Seiten starken Romans liegen. Ruhig und ohne Pathos trifft der Erzähler mitten ins Herz. Seine Kraft bezieht der Roman aber nicht zuletzt daraus, dass wir in die Seele dieses einfachen Charakters blicken, der am Ende meint: „Vieles war unerreichbar geblieben oder war ihm, kaum erreicht, wieder aus den Händen gerissen worden.“ „Für seine Begriffe jedoch hatte er es irgendwie geschafft und dementsprechend allen Grund, zufrieden zu sein.“ Solche Demut ist fremd in unserer Gesellschaft, die Selbstverwirklichung zum höchsten Lebensziel erkoren hat.

Robert Seethaler, Ein ganzes Leben. Hanser Berlin, 2014. ISBN 978-3-446-24645-4. € 17,90