Der Fotoband „Oder das Tal aufgeben“ zeigt die Schönheit der Lawinenschutzbauten von St. Antönien und beleuchtet den alpinen Landschaftsschutz und Lebensraum neu.

Über rund 16 Kilometer Länge erstrecken sich die Verbauungen entlang der Hänge eines Prättigauer Seitentals. Seit den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden sie sukzessive errichtet, um die Walser Streusiedlung St. Antönien mit ihren etwa 90 Bauten vor Lawinen zu schützen. Doch die vorwiegend in Beton gefertigten Ständer werden bereits seit den Neunziger Jahren durch Stahl erneuert; ein teures Endloswerk also. Das Buch geht der Frage nach, ob sich dieser Aufwand wirklich lohnt.

Von grafischer Schönheit
Der Fotograf und Architekt Kaspar Thalmann antwortet ästhetisch. In seinen zahlreichen Schwarz-Weiss- und Farbaufnahmen wirken die imposanten Verbauungen wie ein grafisches Muster. Sie scheinen sich anzuschmiegen an die Berghänge, bei Schnee, im Nebel, bei Sonnenlicht. Eine mystische Kraft geht von den Fotografien aus. Diese übermannshohen Rechen mit massiven Gittern aus Stahl und Beton in zehn und mehr Reihen angeordnet bezögen ihre Kraft aus der seriellen Repetition und den Verbindungen dieser Elemente untereinander, so die Lektorin Nadine Olonetzky in ihrer einführenden Bildbetrachtung. Thalmanns Sicht auf diese Kulturlandschaft ist von Kindesbeinen an geprägt, denn das familiäre Ferienhaus war einst das Baubüro der zuständigen Ingenieure.

Eine Frage der Landesverteidigung
Einen historischen Zugang liefert der NZZ-Redaktor Stefan Hotz. Er rollt die Kontroverse zu dieser Lawinenverbauung auf. Infolge der grossen Schweizer Lawinennot von 1951 war die Schutzfrage von St. Antönien brisanter denn je geworden. Hotz’ Darstellung beleuchtet das vielschichtige Spannungsfeld dieser Entscheidung zwischen schollenverbundenen Bewohnern, exorbitanten Baukosten, Bevölkerungspolitik und nicht zuletzt auch dem Naturschutz. Nach zähem Ringen entschied der Bundesrat endlich die Bannung der Naturgewalt im Grenztal als Aufgabe der Landesverteidigung und damit als gesamtschweizerisch.

Wirksam, aber kostspielig
Zwar zeigen Wideraufforstung und Schutzbauten ihre positive Wirkung. Doch der Preis ist ausserordentlich hoch: Die Baukosten summierten sich auf mehr als 11 Millionen Franken. Von den Sanierungsarbeiten der nächsten 20 Jahre nicht zu reden. Ein Endloswerk also, stellte der aktuelle Gemeindepräsident Jann Flütsch fest. Doch das Tal aufzugeben, -„eine alpine Brache“, so eine Studie des ETH-Studios Basels (2005)- steht nicht zu Diskussion. Trotzig und grotesk scheint diese Haltung. Hotz’ verkürzter wirtschaftlicher Fokus hätte an dieser Stelle noch die Stimme eines Talbewohners gut getan, der quasi ständig seinen Lebensraum rechtfertigen muss.

Auf dem Weg zum Politikum
Fragwürdig ist die neoliberale Definition von der „alpinen Brache“ für Köbi Gantenbein, Soziologe und Herausgeber der Architektur-Zeitschrift „Hochparterre“. Er sieht die Lawinenschutzverbauungen als Staatsaufgabe ebenso wie Sozialfürsorge, Herdenschutz, Meliorationsstrassen. In seinem Essay erzählt er nicht nur vom belgischen Alpenpionier Johann Coaz, auch Vater des weltberühmten Instituts für Schnee und Lawinenforschung in Davos. Gantenbein entfaltet auch den Paradigmenwechsel der Schweizer Alpen: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts für die „junge Nation“, geplagt von Unwettern und Hochwasser, noch marginal. Erst das erwachende Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen Hochwasserschutz und nachhaltiger Forstwirtschaft, und damit auch zwischen Ober- und Unterland, ebnete allmählich den Weg ins Gebirge und einer neuen nationalen Identität.

Ohne Feuer geht’s nicht
„Der Ursprung unseres Landes liegt in den Bergen“, formulierte der Wirtschaftsminister Walter Stämpfli in den Vierziger Jahren seine nationale Ideologie zum Schutz der Bergbauern. Diesen Zeitgeist wussten die St. Antönier, allen voran ihr schlauer Gemeindepräsident zu nutzen, so Gantenbein. Bis heute stehen nicht nur die Verbauungen, sondern die alpine Kulturlandschaft generell zwischen Pioniergeist und Politik. Den Bogen dieser Betrachtung schliesst das vom Stimmvolk abgelehnte Solarkraftwerk auf den Lawinenverbauungen. Zu wenig „Feuer“ und zu wenig Geld von staatlicher Seite hätten dem hoffnungsvollen Projekt das Genick gebrochen, bilanziert der Autor.

Im Buch jedenfalls liegt ein flammendes Plädoyer vor für die Einzigartigkeit der alpinen Landschaften vor – mit ihren Pros und Contras. Die Verbauungen von St. Antönien sind zum schützenden Wahrzeichen des Tales und seiner Bewohner geworden – und damit unantastbar. Respekt dem Verlag und den Autoren, die ein Zeichen setzen für die kritische Auseinandersetzung mit den Alpen, die in der Medienlandschaft rar geworden ist.

Kaspar Thalmann, Oder das Tal aufgeben. Die Lawinenschutzbauten von St. Antönien. Scheidegger & Spiess, Zürich 2015.