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Seine Kupferkessel hatte Rodolphe Gosteli schon während der ruhigeren Sommerzeit auf Hochglanz polieren lassen. Wie jedes Jahr fieberte der Maître-fromager, der in seiner Käserei im Waadtländer Dorf Le Soillat sechs Mitarbeiter beschäftigt, dem Stichdatum des 23. August entgegen. Dann begann auch bei ihm wieder die Herstellung einer Käsesorte, die den Namen ihrer Ursprungsregion weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt gemacht hat: Zwischen 300 Gramm und maximal 2,5 Kilogramm schwer, lässt der Vacherin-Mont d’Or, der bis Mitte März des Folgejahres produziert werden darf, das Herz eines jeden Käseliebhabers höher schlagen.

Schätzungen des Käsereimeisters mit Berner Wurzeln verarbeiten die Betriebe in diesem Teil des Waadtlandes jährlich an die 40 Millionen Liter Milch zu diesem cremigen, elfenbeinfarbigen Weichkäse, an dessen Geschmack die ihn umgebenden Tannenrinden entscheidenden Anteil haben. Fast 600 Tonnen davon stellen alleine die Käsereien im Vallée de Joux jährlich her. Hinter der Grenze zu Frankreich, nur einen Steinwurf von Le Soillat entfernt, produzieren die Käser der Region Franche-Comté im Herbst und Winter dieselbe Sorte in wesentlich grösseren Quantitäten. Dort nennt man ihn Mont d’Or. Wie seine Berufskollegen im Vallée de Joux und in der Franche-Comté ist Rodolphe Gosteli stolz auf das bereits mehrfach prämierten Molkereiprodukt, das auf der Schweizer Seite ausnahmlos in Familienunternehmen hergestellt wird. Mit Beginn der Vacherin-Saison öffnen die Käser im ganzen Tal ihre Betriebe für Besucher und auch auf den Alpages (Alpen) Combenoire und Les Esserts lässt man sich von neugierigen Städtern gerne über die Schultern schauen.

Not macht erfinderisch
Die ersten Vacherin-Käse lassen sich auf den Beginn des 19. Jahrhunderts datieren, er entstand genaugenommen aus einer Notlage heraus: Da am Ende des Sommers die Kühe weniger Milch gaben, reichten die Mengen nicht mehr aus, um die im Schnitt 34 Kilogramm schweren Gruyère-Laibe zu produzieren. Und so ersann man einen Weichkäse, für den man bedeutend weniger Milch benötigte, den mit Tannenrinden umwickelten Vacherin. Zwischen 17 und 25 Tage verbringt er anschliessend im Keller, wo die Laibe auf Fichtenbrettern reifen. Sie werden täglich gewendet und mit leicht gesalzenem Wasser gewaschen, bis sich der erwünschte Weissschimmel zeigt. Das neue Molkereiprodukt, mit dem man von da an auch in der kalten Jahreszeit Umsätze verbuchen konnte, brachte eine neue Kaste von Händlern hervor. Sie versorgten mit ihrem Vacherin, aber auch den typischen Tommes, Quark und Chevrotins (Ziegenkäse) die Märkte von Lausanne, Morges und Nyon und erwarben dort Grundnahrungsmittel, vor allem Weizenmehl.

Kleiner Grenzverkehr
Da die im Vallée de Joux produzierten Mengen nicht reichten, besorgten sie sich den frischen Vacherin auf der französischen Seite und veredelten ihn in ihren Kellern. So entstand der Beruf des "Affineurs", deren Zahl im Vallée de Joux in den letzten Jahren stark abgenommen hat.Eine regelrechte Schaukäserei gibt es im durchschnittlich 1000 Meter hohen Vallée de Joux bis heute nicht. Diese Aufgabe übernimmt auf der französischen Seite die Fromagerie Arnaud, deren Betreiber im Fort des Rousses, einer ehemaligen Militärfestung bei der Ortschaft Les Rousses, ihre Produkte in den alten Kasematten reifen lassen und Besucher bei Führungen in die Technik der Käseproduktion einführen. Nicht etwa Käse, sondern Holzprodukte prägten früher das Wirtschaftsleben in dieser Landschaft im Süden des jurassischen Bogens zwischen Vallorbe und dem französischen Haut-Jura. Als die Welt noch ein Jahrtausend jünger war, erstreckten sich dort ausgedehnte Wälder, die allerdings 1705 nach verheerenden Bränden fast völlig verschwunden waren. Le Chenit ist heute noch die waldreichste Gemeinde der Schweiz.

Geschickte Handwerker
Damals machten sich die Combiers, wie sich die Bewohner des Tales nennen, als geschickte "Boiselliers" einen Namen. Sie verfertigten aus Holz Gebrauchsgegenstände, vor allem Kästchen und später auch Käseschachteln. Diesem Gewerbe widmete man sich auch auf der anderen Seite der Grenze. In Bois d’ Amont können im Muséede la Boissellerie die reifsten Meisterleistungen früherer Handwerkergenerationen bewundert werden. Aber auch die Erzeugnisse von Büchsenmachern, Steinschneidern, Glasbläsern und Messerschmieden aus diesem Teil der Waadt erfreuten sich grosser Beliebtheit. Dann stiess man dort auf Eisenerz und begann mit dem Abbau. Auf dieser Grundlage entstand das Uhrmachergewerbe, das im Vallée de Joux bis heute mit einigen Prestigemarken vertreten ist und die meisten der gut 2500 Grenzgänger aus Frankreich beschäftigt. Damals herrschten Berner Vögte auch über das Vallée de Joux, zu dessen Hauptort das ehemalige Klosterstädtchen Romainmôtier bestimmt worden war. Im Vallée de Joux, dessen Bewohner sich viel stärker "vaudois" als "jurassien" fühlen, ruft diese Periode noch immer gemischte Gefühle hervor. In einer Chronik zur 600-Jahr-Gründungsfeier der Gemeinde Le Lieu 1996 bezeichnet der Autor Rémy Rochat die Berner Verwaltung als "bisweilen wohlwollend, manchmal kleinlich und engstirnig".

Gestärktes Zusammengehörigkeitsgefühl
Immerhin hat die Herrschaft der Gnädigen Herren über das Tal das Zusammengehörigkeitsgefühl der Combiers und letztlich ihre kulturelle Identität gestärkt; früh schon gründeten sie Chöre, dazu ermutigt von Pastoren, die ursprünglich gar nicht aus dem Vallée de Joux stammten. Zwar zählen die drei Gemeinden und zehn Dörfern zusammen nur knapp 6000 Einwohner, ihrem Engagement verdankt das Valléejedoch ein Kulturleben, von dem selbst grössere und stärker besiedelte Landgebiete der Schweiz nur träumen können. Von den sieben Musikgesellschaften wurde die Union instrumentale du Brassus, bereits 1841 aus der Taufe gehoben. Und seit 1997 finden in den Gemeinden auf beiden Seiten der Grenze während der "Estivale des orgues du Jura franco-suisse" Orgelkonzerte statt. Auch das Theaterspiel ist dort gross geschrieben: "Le Clédard", wie Laienschauspieler ihr Ensemble tauften, unterhält die Bevölkerung alle zwei Jahre Ende August mit anspruchsvollem Volkstheater. Bedingt durch die geographische Lage und ein Klima, das früher stets verlässlich grosse Mengen Schnee brachte und die drei Seen des Vallée de Joux zufrieren liess, wurde die Aussenwelt erst spät auf die Landschaft aufmerksam. Goethe bereiste im 18. Jahrhundert das Valléee de Joux und auch Rousseau und Madame de Stael legten dort auf der Suche nach der unverfälschten Natur einen Zwischenhalt ein.

Ferien im "Montreux du Jura"
Ein Jahrhundert darauf fasste der Fremdenverkehr zaghaft Fuss: Vor allem Franzosen, aber auch Engländer, zogen dort zur Sommerfrische hin. Zu seinen Glanzzeiten hatten das Dorf Le Pont, das heute 400 Einwohner zählt, 350 Betten im Angebot, man gab dem Ort damals den Übernamen "Montreux du Jura". Erst 1930 entstanden im Tal die ersten Chalets für Touristen. Heute ist der Tourismus ein anerkannter Wirtschaftsfaktor, der rund sechs Prozent des Umsatzes ausmacht und vor allem sportbegeisterte Besucher anzieht. Mehr als 250 Betten, vornehmlich in Ferienwohnungen, stehen Besuchern jedoch nicht zur Verfügung. Wie schnell die fragile Wirtschaft in diesem Teil des Waadtlandes aus dem Gleichgewicht kommen kann, zeigte sich Mitte der 1980er Jahre. Laboruntersuchungen hatten damals ergeben, dass zwei Todesfälle auf Bakterien in traditionell aus nicht pasteurisierter Milch hergestellten Vacherin-Käse zurückgingen. "Von einem Tag zum anderen ist bei uns der Absatz und die Produktion von Vacherin praktisch zusammengebrochen", erinnert sich Maître Gosteli mit betrübtem Gesichtsausdruck. Davon seien rund 500 Arbeitskräfte betroffen gewesen, fügt er hinzu. Erst da habe sich gezeigt, wieviele Berufsgruppen mit dem Vacherin verbunden waren: Ausser den Käsereibetrieben standen auch die Hersteller von Verpackungen und Rindenbändern vor dem Nichts.

In dieser aussichtslosen Lage "haben wir uns dazu entschlossen, Farbe zu bekennen, nichts abzustreiten oder zu verschleiern", erinnert sich Gosteli. Mit Krediten habe man damals die veraltete Käsereiausrüstung im Vallée de Joux erneuert und auf diese Weise angemessene hygienische Bedingungen geschaffen. Laut Gesetz darf im Gegensatz zu den französischen Mont d’Or Käsereien im Vallée de Joux keine Rohmilch mehr verwendet werden. Sie wird auf 68 Grad erhitzt, um die Keime zu vernichten, "thermisieren", nennen die Käser diesen Vorgang. Die einstigen Produktionsmengen, die in guten Jahren bis zu eine Million Tonnen betragen konnten, habe man seither jedoch nie mehr erreicht. Eingefleischte Käseliebhaber schwören nach wie vor auf die französische Rohmilch-Variante, da die Thermisierung das Geschmackserlebnis beeinträchtige. Dafür hat Bern den Käsern des Vallée de Joux das lange ersehnte AOC verliehen. Dieses Qualitätslabel hatte Paris den französischen Berufskollegen schon 1951 zugesprochen. Wenn Rodolphe Gosteli im kommenden März die letzten Vacherin-Laibe in seine Reifekammern transportiert hat, wird er sich mit seiner Frau Margrith wie jedes Jahr verstärkt um seine "Nischenprodukte" kümmern. Dazu zählt neben den Tommes aus Kuhmilch ein in Gestalt und Geschmack verdächtig an den Reblochon aus der Franche-Comté erinnernder Weichkäse, dem der Maître jedoch vorsorglich eine andere Bezeichnung gegeben hat. "Damit die guten Nachbarschaftsbeziehungen mit unseren französischen Cousins nicht leiden", wie er mit leicht ironischem Unterton hinzufügt.

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