Am Taleingang der Röstigraben, am Talausgang die Konfessionsgrenze: Jaun im Greyerzerland liegt gleich an zwei Grenzen.

Wenn Jean-Claude Schuwey irgendwo in der Deutschschweiz in seinem weichen, melodiösen Dialekt spricht, darf über seine Herkunft gerätselt werden. Manche tippen aufs Oberwallis, andere auf das Urnerland, einige auf den Freiburger Sensebezirk. Auf Jaun kommt niemand. “Unser Dialekt ist halt einzigartig. Und darauf sind wir schon ein wenig stolz", schmunzelt der Gemeindeammann der einzigen deutschsprachigen Gemeinde im Freiburger Greyerzerland. “Für die Jauner bin ich aber der Syndic, nicht der Gemeindeammann". Jaun liegt auf 1000 Metern über Meer am Fuss des gleichnamigen Passes, der das Jauntal mit dem Niedersimmental verbindet. Das sanfte Rund des Talbodens geht rasch in die Steillagen der bewaldeten Hänge über, in die der Orkan Lothar vor sieben Jahren einige wüste Schneisen geschlagen hat. Darüber erheben sich die Felsstöcke der Voralpen, mit den gezackten Gastlosen als markanter Erhebung. Gegen Westen verschliesst eine schmale Schlucht den Zugang ins Tal. An deren Ende liegt, unweit eines Steinbruchs, unsichtbar die Sprachgrenze, die Welsche und Deutschschweizer trennt. Am östlichen Ende des Jauntales markiert der 1509 Meter hohe Jaunpass eine andere Grenze, jene zwischen den katholischen Jaunern und den evangelischen Niedersimmentalern. Die von den Bernern besonders aggressiv betriebene Reformation liess die Jauner, die seit Anfang des 16. Jahrhunderts von der Stadt Freiburg beherrscht wurden, ebenso unberührt wie das Vordringen der französischen Sprache im Jauntal, wo einst bis an die heutigen Gestade des Greyerzersee Deutsch gesprochen wurde.

 
Jean-Claude Schuwey, Gemeindpräsident in Jaun: Sein Dialekt klingt nach Wallis, Urnerland und Freiburg zugleich (Bild: Urs Fitze)

Harter Alltag
Das liegt an der Abgeschiedenheit des Tales, das noch bis ins späte 19. Jahrhundert nur auf schmalen Saumpfaden zu erreichen war. Damals lebte die Jauner Bevölkerung fast ausschliesslich von der Land- und Forstwirtschaft. Es war ein harter, entbehrungsreicher Alltag, geprägt von den Jahreszeiten. Nur in den tieferen Lagen war etwas Getreideanbau möglich, ansonsten dominierte die Milchwirtschaft. Dass die Jauner im Hochmittelalter aus dem benachbarten Simmental eingewandert sind, belegt die Viehhaltung. Während die welschen Nachbarn auf die schwarz-weisse Freiburger Rasse setzten, hielten die Jauner an der rot-weiss gefleckten, an die alpine Umgebung optimal angepasste Simmentaler Kuh fest. Erst in jüngerer Zeit haben milchleistungsstärkere Einkreuzungen das Simmentaler Vieh verdrängt. Die Kuhrasse stiftete jahrhundertelang, über die konfessionellen Grenzen hinweg, die enge wirtschaftliche Verbundenheit mit den deutschsprachigen Nachbarn, und Jauner Viehhalter zählten zu den Stammgästen an den Viehschauen und -auktionen im Berner Oberland. Das sei auch heute noch so, sagt Jean-Claude Schuwey. Doch die Landwirtschaft hat ihre überragende Bedeutung längst eingebüsst, auch wenn die 715-Seelen-Gemeinde heute noch 26 Landwirte zählt und nicht weniger als 130 Alpen nach wie vor mit mehreren Tausend Tieren bestossen werden. Beim Käse halten es die Jauner wieder mit den Welschen. Sie produzieren Greyerzer statt Hobelkäse. Von dem halben Dutzend Holz verarbeitenden Betrieben sind gerade zwei übrig geblieben, darunter die in vierter Generation betriebene, auf den Bau von Chalets spezialisierte Sägerei von Gemeindeammann Jean-Claude Schuwey, mit 35 Angestellten heute der grösste Betrieb im Tal. Schuwey pflegt die Tradition der Chalet-Architektur weiter, ein weiterer, markanter Unterschied zu den welschen Dörfern im Jauntal.

Aufschwung mit Tourismus
Ende des 19. Jahrhunderts zählte Jaun knapp 900 Einwohner. Danach sank die Bevölkerungszahl kontinuierlich, weil mit der Land- und Forstwirtschaft kein Staat mehr zu machen war. Viele, vor allem die jungen Leute, wanderten ab. Angeblich soll die Zahl der Exil-Jauner heute um die 4000 betragen, ein Mehrfaches der Bevölkerung im Heimatort selbst. In Winterthur, wo in der Schwerindustrie kräftige, zupackende Männer gefragt waren, siedelte sich eine erkleckliche Zahl Jauner Männer an - sogar ein Jaun-Verein hat sich dort erhalten. Hätte sich nicht in den 1960er-Jahren allmählich der Tourismus entwickelt, heute der wichtigste Erwerbszweig, Jaun hätte seine Bevölkerungszahl kaum stabilisieren und, in den vergangenen 15 Jahren, sogar wieder leicht steigern können. Die Touristen haben Jaun bis heute nicht den Stempel aufgedrückt. Ein kleines Skigebiet, ein einziges Hotel, Ferienhäuser und -wohnungen machen noch keinen Massentourismus. Und doch haben sich dank der Gäste, unter ihnen auch viele Tagestouristen, zwei Bäcker halten können, verschiedene Gewerbebetriebe, und auch der Holzbetrieb von Gemeindeammann Schuwey hat mit dem Bau von Chalet-Ferienhäusern eine wichtige Einnahmequelle.

 
Blick auf das Dorf Jaun. Kurz dahinter liegt die - unsichtbare - Sprachgrenze (Bild: Urs Fitze)

Lehre im Welschland
Wirtschaftlich ist man heute aber primär auf das Welschland ausgerichtet. Von den 35 jungen Jaunerinnen und Jaunern, die in einer Lehre sind, arbeiten 25 auswärts - ausschliesslich in Westschweizer Betrieben. “Unser Blick geht ins Welschland", sagt Schuwey, der selber mit einer Welschen verheiratet ist. Zuhause habe seine Frau mit den Kindern immer Französisch gesprochen, er selber in seinem Jauner Dialekt. Und auch einer seiner Söhne hat eine Welsche geheiratet. Das sei heute eine Selbstverständlichkeit - ebenso wie die französische Sprache, die die grosse Mehrheit der Dorfbevölkerung beherrscht. “Wir sind im Kanton Freiburg als Deutschsprachige in einer ähnlichen Lage wie die Westschweizer in der ganzen Schweiz: eine sprachliche Minderheit. Und da scheint es mir selbstverständlich, die Sprache der Mehrheit fliessend zu beherrschen". Was wiederum nicht heissen solle, das Deutsche zu vernachlässigen. An der Schule ist Deutsch selbstverständlich die Unterrichtssprache, und seit auch die Sekundarstufe hier angesiedelt ist, brauchen die Kinder nicht mehr in die Hauptstadt Freiburg zu pendeln, um in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. In den welschen Nachbardörfern ist es um die Deutschkenntnisse der Bevölkerung indes weniger gut bestellt. Französisch zu sprechen sei dort so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Nur die ältere Generation beherrscht dort noch fliessend Patois, den französischen Dialekt, der in den vergangenen Jahrzehnten vom Hochfranzösisch praktisch verdrängt worden ist und sich nur dank der Bemühungen einiger rühriger Kulturvereine noch am Leben erhält.

Konfessionsgrenzen aufgehoben
Sprachprobleme anderer Art kennt die katholische Kirche im Jauntal. Es fiel den Verantwortlichen nicht leicht, einen neuen Priester für die Pfarrei in Jaun zu finden, der sowohl Deutsch als auch Französisch fliessend beherrscht. Die meisten welschen Pfärrer sind im Deutschen zu wenig sattelfest, um eine Messe zu lesen oder seelsorgerisch tätig zu sein. Der Innerschweizer Marcus Antonius Huber, seit September 2005 im Amt, erklärte sich schliesslich, nach einigem Zögern, bereit, die Pfarrei zu übernehmen. Er hat in Freiburg studiert und ist zum Wanderer zwischen den sprachlichen Welten geworden, in denen er sich mit grösster Selbstverständlichkeit bewegt. In seinen Zuständigkeitsbereich gehören auch verschiedene welsche Gemeinden im Greyerzerland, und so wechselt er oft mehrmals täglich die Messesprache vom Deutschen ins Französische und umgekehrt. Zuweilen, etwa bei einer Hochzeit, lese er die Messe auch zweisprachig, nicht mit simultaner Übersetzung, sondern abwechselnd in Deutsch und Französisch. Die Sprachgrenze sEI nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für die örtliche Bevölkerung beidseits des Röstigrabens längst kein grosses Thema mehr, sagt Huber, “weil sie einfach selbstverständlich ist". Praktisch aufgelöst haben sich auch die konfessionellen Grenzen zwischen dem katholischen Jaun und dem reformierten Niedersimmental. Gemeindeoberhaupt Schuwey kann sich noch gut an die Zeiten erinnern, als an konfessionelle Mischehen nicht einmal zu denken war. Wer als Protestant oder Protestantin nach Jaun einheiratete, konvertierte zum Katholizismus, das wurde quasi als selbstverständlich vorausgesetzt. Diese rigide Religionsverständnis ist Geschichte, und Schuwey macht kein Hehl daraus, dass er darüber erleichtert ist. Mit Stolz erzählt er von der muslimischen Familie aus Mazedonien, die kürzlich eingebürgert worden ist.


Jaun ist berühmt für seine holzgeschnitzten Grabdenkmäler. Dargestellt werden die Berufe der Verstorbenen (Bild: Urs Fitze)