Das mit grösster Anstrengung an den steilsten Höhenlagen gewonnene Wildheu verbreiterte über Jahrhunderte die Futterbasis für das Vieh, lieferte aber auch wichtigen Dünger für die Weiden im Tal.

Mit einem Jauchzer verkündeten in Graubünden die Wildheuer nach langem, nächtlichem Aufstieg im Morgengrauen einen temporären Besitzanspruch auf eine Mahd (oder Mäder), ein genau definiertes Stück Wiese weit über der Baumgrenze. Gab niemand Antwort, konnte er mit seiner Arbeit beginnen. Wenn aber ein anderer Wildheuer schneller war, musste er sich eine andere Mahd suchen oder mit dem Konkurrenten vereinbaren, diese gemeinsam zu mähen und sich mit dem kleineren Teil des Ertrages zufrieden geben.
In Quinten am Walensee wurden die Wildheuparzellen von drei Vertrauensmännern markiert und numeriert. Jedem Wildheuer sollte ein Ertrag von 12 bis 15 „Burdenen“ (etwa zwei Tonnen) Heu zufallen . Am Sonntag vor der Eröffnung der Wildheusaison am 1. August trafen sich die nutzungsberechtigten Quintner im Schulhaus zur Verlosung der Nutzungsrechte. Die 50 Lose wurden vom Gemeindepräsidenten gezogen. Bis Mitte Oktober durfte das Wildheu eingebracht werden. Für diese Nutzungsperiode „gehörte“ die Wildheuwiese dem Glücklichen, der für das Los eine Pachtgebühr zu bezahlen hatte.

Wildheu zentraler Futter-Bestandteil
Das Wildheu war in den Berggebieten im ganzen Alpenraum über Jahrhunderte ein zentraler Futter-Bestandteil für Schmal- und Grossvieh. Als Wildheuwiesen galten generell alle Grasflächen, die vom Vieh nicht mehr bestossen werden konnten. Sie lagen meistens oberhalb der Alpwiesen in steilem, unzugänglichen Gelände und wurden in der Regel wie eine Allmende bewirtschaftet. Die Weiden waren Allgemeingut und damit auch mittellosen Kleinbauern zugänglich. Sie waren es auch gewesen, die in der Innerschweiz im 17. Jahrhundert darauf drängten, sich auch ein Stück vom lukrativen Exportkuchen abzuschneiden. Hartkäse war zur international gefragten Handelsware geworden, die Viehwirtschaft boomte. Doch das grosse Geschäft machten die alteingesessenen Familien, die die Nutzungsrechte für Alpweiden und Heuwiesen im Tal unter sich aufteilten. Wer nicht davon profitierte, war auf Allmenden oder den „Gemeinen Berg“ angewiesen, die kollektiv bewirtschaftet wurden. Deren Nutzung folgte strengen, ausgehandelten Regeln. Das geflügelte Wort vom „Sensenkrieg“ lässt erahnen, dass deren Auslegung nicht immer spannungsfrei ausging. Die Ressource in grösser Höhe war dafür schlicht von zu grosser Bedeutung.
Vor allem im Spätwinter wurden die Wildheuvorräte überlebenswichtig. „Eine erfrorene Kuh macht arm, eine erhungerte macht reich“, pflegte man damals zu sagen. Ein Spruch aus dem Berner Oberland lässt erahnen, mit welch Mühsal diese Arbeit verbunden war:

Meitschi, nümm kein Tschiertschener Knab,
es wird dich arger greun,
denn du muest den langen Tag
in den Plaisen (Wildheuwiesen) heuen.

Mit fünf Wochen Arbeit musste ein Bergbauer rechnen, der in Quinten ein Wildheu-Los erworben hatte, das im zwei bis zweieinhalb Tonnen Heu einbrachte. Mit diesem Heu konnte er ein bis zwei Rinder zusätzlich durch den Winter bringen - und damit auch die Sommerweiden im Tal und auf der Alp intensiver nutzen. Eine Rolle spielte der zusätzliche Dünger, der nicht auf den Wildheuflächen, sondern auf Wiesen und Feldern im Tal und auf den Alpen ausgebracht wurde. Die Futterquelle an der Vegetationsgrenze bot zudem in Mangeljahren einen Ausgleich. Entsprechend schwankte die Nutzung. Auch wenn diese nur einmal gemäht wurden, so war eine Regeneration der nur sehr schmalen Humusschicht mangels Dünger nur über das Brachlegen möglich. Entsprechend wurden im Turnus Flächen ausgeschieden, die nicht gemäht werden durften.

wildheuzug im wallis um 1940
Winterlicher Wildheuzug im Obergoms, Kanton Wallis, um 1940.

Harte und gefährliche Arbeit
Die Arbeit im steilen Gelände war hart und gefährlich. Ein Ausrutscher konnte tödlich sein. Gemäht wurde mit Sense oder Sichel, teils wurden die Gräser auch von Hand ausgezupft. Die besten Wildheuer mähten das Gras bis zum Wurzelansatz, um auch ja nichts zu verschenken. Gearbeitet wurde von Sonnenauf- bis zum Sonnenuntergang, denn es galt, das Heu noch am selben Tag einzubringen. Die starke Sonneneinstrahlung liess das kurze Gras in der Regel schnell genug trocken werden. Mähen durfte pro zugewiesener Fläche meistens nur ein Wildheuer, den Rest der Arbeit teilten sich Familienmitglieder, in seltenen Fällen auch angestelltes Personal. Der Abtransport der „Burdene“ oder Heutücher, die auf dem Rücken getragen wurden, manchmal über Leitern, die an die Felswände gestellt wurden, war lange der gefährlichste Teil der Arbeit. Diese wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts erleichtert, als Schiffstaue zu aufgespannten Heuseilen umfunktioniert wurden und die Heuballen über mehrere hundert Meter ins Tal gelassen werden konnten. Gelagert wurden diese mangels Lagerkapazität aber oft nicht im Tal, sondern in Form von grossen, kunstvoll geschlichteten Heuhaufen auf den Alpen. Von dort wurden sie dann bei Bedarf im Winter geholt und auf Schlitten ins Tal gebracht. In Rave im Samnaun lag das Wildheugebiet auf 2500 bis 3000 Metern. Beim Transport im Tal galt es eine Felswand zu überwinden, über die im Winter ein gefrorener Wasserfall hing. Aus diesem Eis schlugen die angeseilten Bergbauern mit Steigeisen an ihren Schuhen eine Art Bobbahn, auf der der von einem todesmutigen Mann gesteuerte Heuschlitten dann gleiten konnte. Bis zu 300 Kilo wogen die Heuballen. Auf den steilen Weiden steuerte ein Mann den Schlitten, ein anderer bremste die Ladung mit einem Seil, das um einen Pflock geschlungen war.

Die Futterqualität des Wildheus war sehr unterschiedlich. Als kaum geeignet für das Rindvieh galten harte, trockene Stengel, während Heu, das „guet im Sutt“ war, als besonders hochwertig galt. Es musste sich fettig anfühlen. War es durch Gärung tabakbraun geworden, kam es für Milchkühe nicht mehr in Frage. „Es schmökt wunderbar, aber es lit dem Vé i“, pflegte man im Urnerland zu sagen: „Es schmeckt köstlich, aber es liegt dem Vieh auf dem Magen“. Dieses Heu konnte nur als Mischheu verwendet werden. Die Fütterung selbst erfolgte in mehreren „Schübeli“ und konnte drei bis vier Stunden dauern.

Der Niedergang des Wildheuens hatte mehrere Gründe: die bessere Erschliessung der Alpentäler, die den Zukauf von Futtermitteln, aber auch Fremdenverkehr und Holzexport ermöglichten. Meliorationen, Kunstdünger und die rationellere Düngung mit Gülle trugen das Ihrige dazu bei. In den ärmeren Gebieten war es der Mangel an Arbeitskräften, einerseits durch Abwanderung, anderseits durch die Industrialisierung, die etwa im Glarnerland oder im Wallis vor allem die jungen Männer zu Hunderten in die Fabriken lockte. Das galt auch für das Meiental im Kanton Uri, wo ein zeitgenössischer Autor 1928 konstatierte: „Die geringe Bevölkerung vermag kaum die Privatwiesen genügend zu bewirtschaften, und deshalb werden heute nur noch wenig Wildheuplanggen genützt Die Wildheuhütten auf Gurezmetteln z. B. stehen leer oder sind verfallen, und viele der schönsten Grasplätze sind verwildert und würden keinen Ertrag mehr abwerfen. Der Ertrag mag tausend Zentner kaum zu erreichen, während früher oft das Fünffache geerntet wurde.“

Heute sind die Wildheuer aus Frankreich und Italien verschwunden, auch in Österreich und Deutschland finden sie sich nur noch in Nischen. In der Schweiz werden noch etwa 4000 Hektaren Wildheuflächen genutzt, knapp 30 % davon im Kanton Uri. Wie gross der Rückgang ist, mag das Beispiel von Engelberg illustrieren. Dort hatten sich die Wildheuflächen schon um 1900 auf die Hälfte reduziert. Heute sind es gerade noch fünf Prozent. In vielen Bergkantonen werden die verbliebenen, insgesamt nur noch wenige hundert zählenden Wildheuer, von denen ein wesentlicher Teil primär einem Hobby frönt, mit Förderprogrammen unterstützt, einerseits, um eine „lebendige Tradition“ zu erhalten, anderseits, um die Verbuschung der Wildheuwiesen zu verhindern. Dazu werden direkte Förderbeiträge bezahlt, sofern das Wildheu auch eingebracht wird. So ändern die Zeiten.

wildheuen im valsinestra

Heuen im Val Sinestra im Unterengadin. Trotz des Einsatzes moderner Maschinen müssen im stotzigen Gelände viele Heumaden noch von Hand zusammengerecht werden. Für diese Arbeit und den Verzicht auf einen Grasschnitt vor Mitte Juli gibt es staatliche Subventionen.


Quellen:
Anni Waldmeier-Brockmann: Sammelwirtschaft in den Schweizer Alpen. Eine ethnographische Studie. Wildheu. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 38/39. Basel, 1940/1941–1942, p. 219-269 und 1–39
Wildheuen in der Zentralschweiz: Dossier auf www.lebendige-traditionen.ch

 

Mitmachen erwünscht:
Mehr zu alten Apfel- und Obstsorten, Gemüse, Tierrassen, Kulturtechniken und Brauchtum auf www.fundus-agricultura.wiki der Online-Datenbank für das traditionelle Wissen im Alpenraum. Dieses oft nur lokal verbreitete und mündlich überlieferte Kulturgut gerät mehr und mehr in Vergessenheit. Fachkundige Laien sind herzlich zum Mitmachen eingeladen. Anmeldung und Anleitung auf www.fundus-agricultura.wiki.